Jack Kerouac: Beatnik, Genie, Rebell - Die Biografie

Jack Kerouac: Beatnik, Genie, Rebell - Die Biografie

von: Nicola Bardola

Goldmann, 2022

ISBN: 9783641288877

Sprache: Deutsch

368 Seiten, Download: 61221 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Jack Kerouac: Beatnik, Genie, Rebell - Die Biografie



BIS IN DIE ZEHENSPITZEN


Jean-Louis Lebris de Kérouac wird in Lowell, Massachusetts, am 12. März 1922 in der Lupine Road 9 geboren. Das Haus mit Holzfassade, einer Veranda und einem großen Balkon im ersten Stock ist heute frisch in Hellbraun gestrichen. Eine blaue Ehrenplakette ist daran befestigt und trägt die Aufschrift: »Centralville Preservation Trust – Jack Kerouac – Birthplace – b. 1922 – Lowell Historic Board.« Kein anderer Ort wird in der kleinen Stadt am Merrimack River mit seinen etwa 115 000 Einwohnern öfter von Touristen besucht.

Die Hausgeburt verläuft problemlos im Elternschlafzimmer im oberen Stockwerk. Jean-Louis ist das dritte von drei Kindern. In der lokalen Presse erscheinen zwei Anzeigen, eine auf Englisch, die andere auf Französisch: »Le 12 mars à M. et Mme. Leo A. Keroack, 9 Lupine Rd, un fils.« Im Englischen verändert sich Keroack zu Keroach: »March 12, to Mr. And Mrs. Leo A. Keroach, 9 Lupine road, a son.« Nur Vater Leo wird, wie damals üblich, genannt, der Vorname der Mutter Gabrielle wird unterschlagen. Und der hier noch namenlose Spross wird dreißig Jahre später der berühmteste Sohn der Stadt Lowell sein und es bis heute bleiben. All seine Bücher publiziert er seit Erscheinen seines berühmtesten Romans On the Road im Jahr 1957 unter dem Namen Jack Kerouac. Er selbst bezeichnet sich gerne als Jean-Louis Lebris de Kérouac, um auf eine möglicherweise adlige Abstammung vom Baron François Louis Alexandre Lebris de Kerouac aus der Bretagne hinzuweisen. In der Geburtsurkunde steht schlicht Jean Louis Kirouac.

Im Jahr 2009 veröffentlicht die französische Familienforscherin Patricia Dagier gemeinsam mit dem Journalisten Hervé Quéméner in Frankreich das Buch Jack Kerouac – Breton d’Amérique, worin die beiden minutiös Jack Kerouacs Herkunft erkunden. Demnach stammt Jack Kerouac (»der Bretone aus Amerika«) väterlicherseits von Urbain-François Le Bihan, Sieur de Kervoac ab. Urbain ist ein Händler aus der Mittelschicht in der Bretagne, der 1727 nach Kanada auswandert. In Québec zeugt er mit Luise Bernier einen unehelichen Sohn, der 1732 geboren wird. Danach gründet Urbain mit Luise eine kinderreiche Familie, die direkten Vorfahren Jack Kerouacs. Dabei tauchen in den verschiedenen Katastern zahlreiche Varianten des Namens auf, u. a. Carouch, Caroack, Querouac, Querouec, Quarouac, Karoüac, Karoüack, Karouäc, Kyrouac, Kyroique, Kéroack, Kervoach, Kerouacq oder Kerrouack.

Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts reisen mehrfach Vorfahren Jack Kerouacs von Kanada nach Frankreich, um Kontakt mit der wohlhabenden Familie des Marquis de Kerouartz aufzunehmen. Ziel ist es, eine Verwandtschaftsbeziehung nachzuweisen und dabei in den Genuss etwaiger Erbschaften zu kommen. Zu diesem Zweck wird sogar ein bretonischer Genealoge beauftragt, der den kanadischen Kerouacs bescheinigt, mit den französischen Kerouartz verwandt und selbst von vornehmer bretonischer Abstammung zu sein. Die Bemühungen führen zwar zu interessanten Reiseerlebnissen, aber die Absichten scheitern, von den Kerouartz als Verwandte akzeptiert oder gar mit einem Erbe bedacht zu werden.

Jack Kerouac ist dennoch stolz auf seine Familiengeschichten. Sein französischer Taufname Jean-Louis erinnert an die Vorfahren mütterlicherseits. Seine Großmutter in Québec war halb Indianerin und trug den Familiennamen »Jean«. Ihren Sohn, Jacks Onkel, nannten sie Louis. Wie später Jack hatte Louis dunkles Haar und ausgeprägte Wangenknochen. Vater Leo erzählt Jack wiederum, dass er ein Nachfahre Kornisch sprechender Kelten und Aristokraten sei. Aus Irland seien vor Urzeiten die »Kerouac’hs«, wie man sie keltisch schreibt, nach Cornwall ausgewandert. »Kerouac’h« bedeute »die Sprache des Hauses«. Die Eltern der Mutter Gabrielle waren schließlich mit ihren Kindern aus Québec nach Neuengland eingewandert. Im Vorwort zu Lonesome Traveler schreibt Jack Kerouac ausführlich über seine Vorfahren. Dagier und Quéméner zufolge sind seine Schilderungen jedoch nicht alle richtig. Fest steht, im frühen 18. Jahrhundert wanderten die Kirouacs aus Cornwall in die Bretagne aus. Dort erhielt die Familie ein Wappen, auf dessen blauem Untergrund mit goldenen Streifen und drei silbernen Nägeln das Lebensmotto »Aimer, Travailler et Souffrir«, »Lieben, arbeiten und leiden« geschrieben steht. Dieser Leitsatz wird Jack Kerouac sein Leben lang begleiten. Um 1750 bekam Baron Alexandre Louis Lebris de Kerouac of Cornwall von der französischen Regierung Land in Kanada zugesprochen. Einige der Nachfahren wurden Farmer, manche besaßen Kartoffeläcker und heirateten Mohawk- und Kahnawake-Indianerinnen. Es war Jack Kerouacs Großvater Jean-Baptiste, ein Kartoffelbauer, der schließlich von Kanada in die USA einwanderte. Geografisch gesehen ist diese Veränderung nicht wirklich bemerkenswert, aber die Lebensbedingungen sind im Süden deutlich besser.

Jean-Baptistes dünn besiedelte Heimat grenzt an die Bundesstaaten New Hampshire, Maine, Vermont und New York. Die Entfernung von der Hauptstadt Québec bis nach Boston, der Hauptstadt von New Hampshire, beträgt etwa 600 Kilometer und führt über gut ausgebaute Straßen. Boston ist zugleich die größte Stadt Neuenglands und liegt keine 50 Kilometer südöstlich von Lowell. Jean-Baptiste zieht es aber zunächst nach Nashua in New Hampshire, wo er als Schreiner arbeitet. Nashua liegt nur etwa 20 Kilometer nördlich von Lowell. Jack Kerouac wird nach ihm getauft: Jean-Louis Lebris de Kerouac. Zu Hause nennt man ihn einfach »Ti Jean«, den kleinen Jack. Bis zuletzt unterschreibt er Briefe an enge Freunde mit Ti Jean. »Ti« leitet sich von dem französischen petit, zu Deutsch: »klein«, ab. Auch auf seinem Grabstein im Edson Cemetery in Lowell ist der Kosename Ti Jean eingraviert.

Joseph Alcide Leon Kirouac, Jacks Vater, wird 1896 in Nashua geboren. Er ändert seinen Namen in Leo Kerouac und arbeitet schon als Teenager in Druckereien. In verschiedenen Konstellationen wird er sein Leben lang diesen Beruf ausüben. Leo schreibt gelegentlich selbst für verschiedene Zeitschriften und Tageszeitungen Artikel zum lokalen Tagesgeschehen. In Nashua arbeitet er für die wichtigste Tageszeitung, den Nashua Telegraph sowie für L’Impartial (»Der Unparteiische«), eine überregionale Tageszeitung in französischer Sprache. Nach sechs Jahren schickt ihn der Inhaber des Telegraph nach Lowell, damit er sich dort um seine Neuerwerbung L’Etoile (»Der Stern«) kümmert, eine frankokanadische Tageszeitung, die das reichhaltige Presseangebot in Lowell ergänzt: Für englischsprachige Leser gibt es dort bislang zwei Tageszeitungen, den Lowell Courir-Citizen und die Lowell Sun mit einer Morgen- und einer Abendausgabe. Die industrielle Revolution ist in vollem Gange und der Informationshunger groß.

Leo fährt 1914 und 1915 von Lowell oft nach Nashua zurück, um dort Gabrielle Levesque zu treffen. Seit ihrem 14. Lebensjahr arbeitet sie dort als Vollwaise in einem Schuhladen. Sie wird später sagen, dass sie ohne Bücher aufgewachsen sei. Vor allem dank Jacks Interessen beginnt sie, sich im mittleren Alter auch für Kultur zu interessieren.

Lowell, die Geburtsstadt Jack Kerouacs, wurde nach dem Unternehmer Francis Cabot Lowell benannt, der von 1775 bis 1817 in der Region lebte. Sie liegt nur 45 Kilometer westlich von der Atlantikküste. Der Fluss Merrimack bestimmt das Stadtbild und beeinflusst maßgeblich die Stadtgeschichte: Zu Beginn des 19. Jahrhunderts werden in Lowell die ersten Spinnereien eröffnet. Die Stadt entwickelt sich rasch zu einem Zentrum der Textilindustrie. Um 1900 gilt sie als das amerikanische Manchester. Eine Vielzahl an Mühlen kurbelt die Maschinen- und Gusswarenindustrie an, die Gastarbeiter aus aller Welt anlockt, auch Deutsche und Frankokanadier. Während Jacks Kindheit leben etwa 100 000 Menschen in Lowell, darunter etwa 30 000 Frankokanadier. Im zentral gelegenen Stadtteil Little Canada gibt es Kinos für Stummfilmvorführungen, Vaudeville-Theater, Bars und Restaurants. Hochkultur findet in Lowell aber kaum statt. Um in die Oper zu gehen, klassische Konzerte zu besuchen oder anspruchsvolle Theaterstücke zu sehen, muss man nach Boston fahren. Der wirtschaftliche Höhenflug endet in dem Städtchen zu Beginn der 1930er Jahre. Heute ist Lowell mit etwa 110 000 Einwohnern allerdings immer noch eine der größten Städte in Massachusetts.

Geboren wird Jack Kerouac um fünf Uhr nachmittags, so schildert er es im Roman Doctor Sax. »Alles ist rot im Raum … Irgendwo das Rauschen des Flusses, der Eisplatten mit sich führt … Schmelzender Nassschnee auf den Hügeln … Ein universelles, trauriges und verlorenes Rot sterblicher Verdammung … Goldene Vögel schweben über ihr und mir, als sie mich das erste Mal an ihre Brust drückt.« Jack Kerouac beschreibt in Doctor Sax in einer Mischung aus Fakten und Fiktion die Ereignisse rund um seine Geburt und erinnert sich an seine Kindheit. So kommt der kleine Jack beispielsweise schon früh mit besonderen Substanzen in Berührung: Leos Bruder Joseph raucht – als Medizin gegen sein Asthma – Marihuana-Zigaretten. Kerouac porträtiert Onkel Joseph als belesen, intelligent und depressiv. Klein Jack sieht den Onkel oft weinen.

Die Lupine Road ist eine kleine Seitenstraße im Stadtteil Centralville am nordöstlichen Stadtrand von Lowell. Centralville ist ein vergleichsweise idyllisches, multiethnisches Arbeiterviertel. Die Landschaft ist hügelig, die einfach gebauten braun-gelblichen Holzhäuser werden durch Gärten voneinander getrennt und den...

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