Die Winde des Ararat

Die Winde des Ararat

von: Leonid Zypkin

Aufbau Verlag, 2022

ISBN: 9783841229427

Sprache: Deutsch

144 Seiten, Download: 414 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Die Winde des Ararat



I Der Terrorist


Norartakir – so wurde der höchstgelegene Teil der Stadt genannt, offen für Winde aus allen Himmelrichtungen, auch für die, die vom Ararat-Tal wehten, obwohl unverständlich blieb, wie ein Wind von unten nach oben wehen kann, aber eigentlich war dieser Satz der Reiseleiter sehr beeindruckend und professionell – übrigens klang ihre Behauptung, das bergige Relief der Gegend, in der die Stadt lag, sei Ursache für den Temperaturunterschied und die Wechselhaftigkeit des Mikroklimas, weitaus überzeugender –, wenn es winters im tiefer gelegenen zentralen Teil der Stadt regnete, schneite es oben, und Norartakir war wahrscheinlich unter den Ersten, die das zu spüren bekamen, aber jetzt konnte man sich all das sehr schwer vorstellen: endlos lange und heiße Straßen fast ohne Schatten, umsäumt von vier- und fünfstöckigen Häusern aus Steinblöcken, die aus unerfindlichen Gründen Kalktuff genannt wurden, und eigentlich hätte dieser Tuff farbig sein müssen, war aber grau wie übliches Baumaterial, und dennoch schien es Boris Lwowitsch, als müsse es in den Häusern, hinter den dicken Steinwänden, kühl sein – die Straßen führten nach oben – offenbar zum höchsten, unsichtbaren Punkt Norartakirs, wohin man wohl kaum gelangen konnte – von früh bis spät rasten Autos über die Straßen, über die Hauptstraße, die den unteren Teil der Stadt mit dem unerreichbaren höchsten Punkt Norartakirs verband, in unaufhörlicher Reihe fuhren Busse und Trolleybusse, ratterten Straßenbahnen über die Schienen, die eher wie Eisenbahngleise anmuteten, weil das Gleisbett entweder zerlegt oder noch nicht gelegt worden war, und wenn man die Straße überquerte, musste man über die Schienen hüpfen – der Wind wirbelte den Staub auf, und der knirschte zwischen den Zähnen, und der Himmel, dem die Straße zustrebte, blieb hoffnungslos blau, und das Hotel, das sie bezogen, hatte fast den gleichen Namen – es hieß »Artakir«, das Präfix »Nor« bedeutete »Neu« – Neu-Artakir – ein Ortsansässiger oder ein Reiseleiter erklärte ihnen, dieses Viertel sei vor relativ kurzer Zeit errichtet worden und hier wohnten Remigranten aus dem Westen – ach deshalb hing an den Häusern dieses Viertels kaum Wäsche, sagte Tanja, das hätte sie sich gleich gedacht – morgens, wenn Boris Lwowitsch aufwachte, lief er in weißen Unterhosen auf den Balkon – der Balkon ging zum Hof raus, der mit Kisten, Fässern und rostigem Eisen vollgestellt war, und an dem Metallseil, das zwischen den fensterlosen Wänden der Nachbarhäuser, die ebenfalls zum Hotelhof zeigten, gespannt war, hingen Bettlaken und Steppdecken – in jede von ihnen hätte man eine ganze Familie einwickeln können mitsamt den schwarzbraunen Kindern, die mit mörderischem Geschrei auf dem Hof oder der Straße herumtobten – Boris Lwowitsch lief in diesem Aufzug auf den Balkon, um Tanja zu necken, zumal die übrigens immer zugehängte Tür des Nebenzimmers ebenfalls auf diesen Balkon führte. »Du bist verrückt geworden!«, rief sie ihm nach – er trat ganz dicht an das Balkongeländer heran und beugte sich sogar ein wenig darüber, wovon er in den Knien eine süße, Übelkeit auslösende Schwäche spürte – »Kann man ihn sehen?«, fragte Tanja und zog sich den Morgenmantel über, als ob es um einen Lebenden ging – und er war zu sehen, und das tröstete Boris Lwowitsch sogar, denn wenn ihre Fenster auf die Straße gingen, hätten sie ihn nicht sehen können, selbst wenn sie sich noch so sehr nach vorn beugten, damit die Wand des Hotels, in dem sie wohnten, sie nicht behinderte – »Sieh nur! Sieh nur!«, sagten sie einander, wenn sie auf dem Balkon standen und nach links, nach Süden blickten – »Komm doch dichter heran, von dort siehst du gar nichts« – er nahm ihre Hand und wollte sie dichter an das Geländer ziehen, aber sie hatte seit ihrer Kindheit Höhenangst – zumindest mehr als zwanzig Jahre, seit sie verheiratet waren – »Sieh! Sieh!« –, sie standen da und schauten nach links: Norartarkir mit all seinen Häusern, Höfen und Straßen brach ab, verschwand irgendwohin nach unten und verlor sich im Dunst, der den unteren Teil der Stadt und das Gebirgsplateau einhüllte, das wohl als Ararat-Tal bezeichnet wurde, hinter dem Gebirgsplateau jedoch, hinterm Horizont und über dem Dunst, hoch am Himmel, hing unbeweglich eine durchsichtige Wolke, die aussah wie zwei Schneegipfel – der eine, der nähere, höhere, der andere, kleinere, versteckte sich hinter ihm, war aber trotzdem zu sehen – je höher die Sonne stieg, desto mehr löste sich die Wolke auf, verwandelte sich in ein Phantom – in einer halben Stunde blieb nur noch der dunstverhangene hellblau-weißliche Himmel übrig – »Gib das Fernglas her!«, schrie er ihr zu, und sie rannte brav ins Zimmer, und am nächsten Morgen tauchte erneut mit der Unweigerlichkeit des Morgengrauens, der Nacht oder des Todes hoch am Himmel die silbrige Wolke mit den zwei Höckern auf – die zwei Schneegipfel des Ararat. Erst vor ein paar Tagen, vor drei oder vier vielleicht, waren sie angekommen, vorher hatten sie in dem Kurort, wo sie Urlaub gemacht hatten, eine Abschiedsrunde am Ufer gedreht, das Flugzeug hatte Kurs auf Süd-Ost genommen, denn man sah weder rechts oder links die Sonne – das heißt, sie flogen der Sonne entgegen, die gerade aufgegangen war, weil es früh am Morgen war – wenn man die Blende so weit zurückzog, wie es ging, den Hals vorstreckte und sein Gesicht an die kalte Scheibe des Bullauges presste, konnte man noch das Meer und den gewundenen Küstenstreifen sehen, der sich nach Süden in Richtung Staatsgrenze hinzog – über Dutzende Kilometer erstreckte sich der endlose Strand, den eine ebenso endlos lange Welle netzte, und Boris Lwowitsch schien sogar, dass am Ausgang dieser Welle, da, wo sie ans Ufer brandete, spitzenähnlicher Schaum hochkochte, aber Boris Lwowitsch verblüffte die Leere dieser unendlichen Strände, bis ihm plötzlich klar wurde, dass man aus dieser Höhe nicht einmal Häuser, geschweige denn Menschen erkennen konnte – unter ihm lag beinahe schon eine geografische Karte mit den Umrissen des Festlands – und Meer und Küste versanken im blauen Dunst, weil das menschliche Auge nicht weiter als hundert Kilometer sehen kann, doch durch die Fenster der gegenüberliegende Seite, besonders wenn das Flugzeug sich nach links neigte und Küste und Meer irgendwohin verschwanden und stattdessen der Himmel mit einer Nuance von unnatürlichem, sicher bereits kosmischem Blau aufleuchtete – zeigten sich durch die Fenster der gegenüberliegenden Seite plötzlich die Berge, ja wahrscheinlich der gesamte kaukasische Gebirgsrücken – Boris Lwowitsch wünschte sich sehr, gleichzeitig die Küste und die Berge zu sehen – er erhob sich sogar ein wenig von seinem Sitz, um aus dem hinter ihm liegenden Fenster zu blicken, aber das über seinem Kopf hängende Netz und die Sitzlehne behinderten ihn; wenn er jedoch aufstand, konnte er die Berge besonders gut sehen – »Tanja, der Elbrus!«, schrie er seiner Frau ins Ohr, weil er lauter sein wollte als das Motorengedröhn, sie aber hatte im Flugzeug immer Angst, ihr würde schwindlig, und sie presste ihren Rücken an die Lehne und hielt die Augen fest geschlossen, als würde sie in diesem Augenblick operiert, doch sie öffnete ihre Augen dennoch für eine Minute, drehte den Kopf und versuchte, etwas zu erkennen – ein paar Jahre zuvor waren sie auf Urlaub in einem kaukasischen Kurort, und von dort aus konnte man bei gutem Wetter morgens die beiden Gipfel des schneebedeckten Elbrus sehen – auch über ihn sprach Tanja wie über einen Lebenden und sagte immer »er« – jetzt, von der Höhe aus, auf der sie sich befanden, schien er seltsam nah, und man sah den mittleren schneefreien Teil des Bergs und sogar seinen grünen Fuß – einfach ein Berg mit zwei schneebedeckten Gipfeln und daneben noch mehr Berge, nur kleiner und viele von ihnen ebenfalls schneebedeckt, »Schneehüte«, wie die Bergsteiger sie liebevoll nannten, oder einfach die Touristen oder sogar die Feriengäste, die man mit Bussen herumfuhr, um ihnen die Schluchten und Berge zu zeigen, und Boris Lwowitsch ertappte sich auch bei dem Wort, wenn er in Moskau erzählte, wie Tanja und er auf Ausflügen unterwegs waren – man sah noch den Elbrus und, wenn man sich aufrichtete und durch das vorderste Bullauge auf der gegenüberliegenden Seite schaute, erblickte man vorn und unten den Kasbek – Boris Lwowitsch erkannte ihn sofort, obwohl er ihn noch nie gesehen hatte – lediglich auf den Schachteln der gleichnamigen...

Kategorien

Service

Info/Kontakt