Freitag ist ein guter Tag zum Flüchten

Freitag ist ein guter Tag zum Flüchten

von: Elyas Jamalzadeh, Andreas Hepp

Paul Zsolnay Verlag, 2022

ISBN: 9783552072985

Sprache: Deutsch

256 Seiten, Download: 2792 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Freitag ist ein guter Tag zum Flüchten



Noch 8 Kapitel bis zum Mittelmeer


»Dorut, Fare-jan!«

Faredin war mein Nachbar.

Faredin war mein bester Freund.

Faredin war mein Einstieg in die Kinderarbeit.

Wir trafen uns oft und spielten am Abend zusammen Fußball. Zuerst hatte er Angst vor den älteren Jugendlichen in unserer Gasse, und deshalb kam er nicht gerne, wenn sie spielten. Wir lernten uns besser kennen, und nach einiger Zeit verlor Faredin auch seine Angst vor den älteren Jungs. Er war dann immer dabei und spielte mit uns, meistens in meiner Mannschaft.

Nachdem ich an der offiziellen, iranischen Schule abgelehnt worden war, war meinen Eltern klar, dass ich eine Alternative brauchte. Dass wir eine Alternative brauchten, eine finanzielle. Deshalb entschieden sie, dass ich auch arbeiten gehen sollte. Damals war ich sieben Jahre alt.

»RABENELTERN!«, schreist du jetzt vielleicht die Buchstaben vor dir an, »ENTSETZLICH! Einen Siebenjährigen arbeiten schicken!«

Ja stimmt, Sherlock Holmes, nicht ideal. Aber was ist besser für unseren hochverehrten Herrn Kindeswohl:

a) untertags Geld verdienen und dafür als Familie Essen und ein Dach über dem Kopf genießen oder

b) gelangweilt zu Hause sitzen, ohne Bildung, die Wucher-Miete nicht mehr zahlen können, obdachlos werden, und in Kriminalität und Drogenmissbrauch abrutschen wie ein großer Teil der ärmeren Jugendlichen im Iran?

Manchmal muss man sich im Leben zwischen zwei Übeln entscheiden. Manchmal kannst du nur zwischen Scheiße und Gülle wählen. Und heute denke ich, dass meine Eltern das geringere Übel gewählt haben, zum Wohl der Familie und deshalb auch zu meinem Wohl. Damit ich die Chance auf eine bessere Zukunft haben darf. Als ich Faredin erzählte, dass ich arbeiten muss, reagierte er recht gelassen.

»Du kannst mit mir kommen. Ich zeig dir alles.«

Das hat Fare-jan mehr im Spaß gemeint. Er dachte, ich mache wie immer nur einen Scherz. Ich mach nämlich oft Scherze. Heute noch. Fällt dir das auf? Meine Verlobte verdreht dann meistens die Augen, weil sie die Witze so blöd findet. Na ja. Als ich jedenfalls am nächsten Morgen wirklich vor Faredins Haustür stand, nahm er mich ernst. Wir fuhren also mit dem Bus zum ersten Mal gemeinsam los.

Als illegaler, afghanischer Flüchtlingsjunge im Iran hast du meistens nur eine Möglichkeit zu arbeiten: Verkauf etwas auf der Straße. Du kannst Kaugummis verkaufen, Schuhe putzen oder mit einer Waage am Wegrand sitzen und den Leuten anbieten, dass sie sich für ein paar Cent wiegen dürfen. Oder du verkaufst Fal-E, also sowas wie Omen. Das habe ich am Anfang gemacht, als mich Faredin mitgenommen hat. Fal-E sind im Iran beliebt. Das sind kleine Zettel in bunt gestalteten Umschlägen, auf denen ein Spruch aus persischen Gedichten für deine Zukunft steht. So ähnlich wie bei chinesischen Glückskeksen. Aber es steht immer etwas Positives drauf, damit die Leute es kaufen wollen. Und es muss möglichst allgemein formuliert sein, zum Beispiel: »Du bist eine nette Person, und du wirst viel schaffen« oder »Du wirst heiraten und bis dahin einige Schwierigkeiten überwinden«.

Mit dem Bus fuhren wir immer in der Früh los. Ins reiche Viertel. Dorthin brauchten wir pro Strecke so zwei bis drei Stunden. Wenn es keinen Stau gab und nicht so viele Leute unterwegs waren, dann waren wir schneller. Aber in Teheran sind die Busse immer überfüllt. Deshalb mussten wir bei fast jeder Haltestelle zehn Minuten warten, bis alle Leute aus- und eingestiegen waren. So ähnlich wie bei diesen Bildern von vollen Bussen und Zügen in Indien, die man im Internet oder in Schulbüchern sieht. Und einmal in der Woche mussten wir vorher noch zum Bazar fahren, um neue Fal-E zu kaufen, das dauerte dann noch länger.

Im reichen Viertel sind die Leute reich. Ja, ich weiß, kommt jetzt überraschend, die Aussage. Aber sie ist nichtsdestotrotz eine wichtige und uralte Erkenntnis für alle Straßenverkäufer. Dort sind viele Menschen, die Eis essen gehen, im Café sitzen und lesen oder in die Einkaufszentren shoppen gehen. So ähnlich wie hier bei uns. Denen kannst du viel verkaufen. Wir wechselten immer wieder unseren Standort. Meistens waren wir in Tehranpars-falak-e-aval, in Do oder Seh unterwegs, das sind die besseren Stadtviertel.

Ich hatte natürlich Angst, viel Angst vor dieser großen Gesellschaft und der Arbeit. Meine Mutter war auch jeden Tag nervös, ob ich am Abend wieder nach Hause komme. Es war gefährlich, weil die Polizei oft kontrolliert und Kinder erwischt hat, die nicht schnell genug weggelaufen sind. Außerdem wusste ich in der ersten Woche nicht, was ich machen soll, damit die Leute meine Fal-E kaufen. Faredin gab mir Tipps: »Du musst an den Leuten kleben und mitgehen, bis sie ein Fal-E von dir kaufen. Und du musst möglichst arm tun, ›Oh, ich hab nichts zu essen‹ und so.« Wir verkauften aber nicht nur Fal-E. Je nach Jahreszeit mussten wir die Waren wechseln. Im Winter verkaufst du besser Handschuhe, Hauben und Schals, im Sommer eher T-Shirts. In diesen Wochen und Monaten als Siebenjähriger habe ich gelernt, wie alles funktioniert in dieser Welt der Kinderarbeit.

Faredin passte immer auf mich auf. Er war ein bisschen älter und stärker als ich. Trotzdem gab es immer wieder Jugendliche, die unsere Waren oder unser Geld gestohlen haben. Sie kamen zum Beispiel zu dritt mit einem kleinen Messer und sagten: »Gib mir dein Geld!« Dagegen konnten wir nichts tun, wir konnten ja nicht zur Polizei gehen.

Außerdem wurde die Polizei selbst zu unserer größten Bedrohung. Je älter ich wurde, desto schwieriger war die Situation für mich. Wir Afghanen mussten immer weglaufen und uns verstecken, wenn die Polizei vorbeifuhr. Wir wussten: Wenn sie uns erwischen, sind erstens unsere Waren und zweitens unser Geld weg. Und wenn du älter bist und keine Dokumente hast, wirst du sofort nach Afghanistan abgeschoben. Deshalb versteckte ich mich immer, wenn die Polizei kam, in der Nähe hinter einem Baum oder unter einem Auto.

Wir hatten auch immer mehr Konflikte mit den Geschäftsleuten dort. Sie sahen ordentlich und gepflegt aus, also so mit Jeans und sauberen T-Shirts oder Hemden. Das waren meistens jüngere Männer so zwischen fünfundzwanzig und vierzig Jahren. Sie mochten es nicht, wenn wir vor ihren Geschäften Waren verkauften. Klar, wenn du dieselben Produkte wie die Geschäftsleute verkaufst, nur billiger, dann haben sie damit keine Freude. Wenn du klein bist, finden sie dich nur arm. Wenn du größer wirst, sehen sie dich als Konkurrenz. Das war schon immer so: Je größer du wirst, desto größer werden die Probleme. Die wachsen mit dir.

»Verschwindet, ihr Scheißstraßenköter!«

Oft beschimpften sie uns, wollten uns schlagen oder riefen die Polizei.

a) Was, glaubst du, haben wir Intelligenzbestien dann gemacht? — Genau! Wir haben aus dem Biomüll Tomaten oder Bananen oder alte Wasserflaschen genommen, auf die Auslage geworfen und sind weggelaufen.

b) Aber was, glaubst du, war dann für uns Intelligenzbestien das Problem? — Richtig! Wir konnten dort nichts mehr verkaufen. Sonst hätten wir richtig Ärger mit den Geschäftsmännern und der Polizei bekommen.

c) Und, glaubst du, haben wir Intelligenzbestien es trotzdem immer wieder getan? — Auf jeden Fall.

Und noch eine geniale Idee, die nur zwei speziellen Idioten wie uns einfallen konnte: Wir verkauften billige USB-Ladegeräte für Handys. Aber nicht einfach irgendwelche, sondern kaputte. Ein Bekannter von uns sammelte die in seinem Geschäft in einer großen Plastiktonne und gab sie uns fast gratis. Wir postierten uns an einer Ecke oder ein wenig abseits einer Einkaufsstraße und verkauften sie an die Passanten. Warum ein wenig abseits der Einkaufsstraße? Eigentlich unlogisch, weil dort weniger Kunden sind. Aber wir wollten vorsichtig sein, damit sie die Ladegeräte nicht sofort auf ihre Funktionstüchtigkeit überprüfen konnten. Nach ein bis zwei Stunden wechselten wir den Standort und zogen ein paar Straßen weiter, damit uns die bald wütenden Kunden nicht mehr finden konnten. Wenn uns doch jemand wiedererkannte, dann hieß es: Lauf, so schnell dich deine betrügerischen Kinderbeine tragen!

Eines hat sich mir von damals noch eingebrannt, da war ich zehn oder elf. Von ihr habe ich mir...

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