Jung bleiben ist Kopfsache - Erstaunliche Fakten aus der Altersforschung

Jung bleiben ist Kopfsache - Erstaunliche Fakten aus der Altersforschung

von: Prof. Dr. med. Bernd Kleine-Gunk

Gräfe und Unzer Autorenverlag, ein Imprint von GRÄFE UND UNZER Verlag GmbH, 2022

ISBN: 9783833884306

Sprache: Deutsch

240 Seiten, Download: 4445 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Jung bleiben ist Kopfsache - Erstaunliche Fakten aus der Altersforschung



STRESS LASS NACH!


WIE STRESS UNS KRANK MACHT UND WARUM WIR TROTZDEM NICHT AUF IHN VERZICHTEN SOLLTEN


Wir leben in paradoxen Zeiten. Objektiv gesehen haben sich die Lebensumstände in den allermeisten Regionen der Welt während des letzten halben Jahrhunderts deutlich gebessert. Die Lebenserwartung ist gestiegen, die Gesundheitssysteme sind leistungsfähiger. Kaum jemand muss noch Hunger leiden oder stürzt bei Erwerbsunfähigkeit in absolutes Elend. Die schwere körperliche Arbeit wurde uns von den Maschinen abgenommen – sowohl in der Erwerbs- als auch in der Hausarbeit. Wo im 19. Jahrhundert Arbeiter noch zwölf Stunden am Tag in der Fabrik, auf dem Feld oder im Bergbau schufteten, ist der Acht-Stunden-Tag mit vorwiegend sitzender Tätigkeit heute die Regel. Wo im Haushalt vor 100 Jahren noch ein ganzer Wochentag als Waschtag eingeplant war, erledigen diese Arbeit heute Waschmaschine und Trockner fast schon nebenbei. Trotzdem erleben viele Menschen ihr Dasein offensichtlich als immer stressiger. Das zumindest belegen repräsentative Umfragen. Laut einer von der Techniker Krankenkasse beauftragten Studie empfinden sich acht von zehn Deutsche als stressbelastet. Jeder dritte leidet gar an Dauerstress. Da diese Umfragen regelmäßig wiederholt werden, lässt sich auch ein Verlauf ermitteln. Verglichen mit 2013 war bereits 2016 die subjektive Stressbelastung um vier Prozent angestiegen – und da gab es Corona noch gar nicht.1

Stress ist vor allem auch deshalb ein Problem, weil er zu Folgeerkrankungen führt. Das sind zum einen körperliche Beschwerden wie chronische Rückenschmerzen, Arteriosklerose, Atemwegserkrankungen oder das Reizdarmsyndrom. Dazu zählen aber auch psychische Erkrankungen wie Depressionen oder Burn-out. Letztere werden immer mehr zu einer weltweiten Epidemie. Allein in Deutschland führen sie zu zwölf Prozent aller Krankschreibungen. Aktuell leiden fünf bis sieben Prozent der deutschen Gesamtbevölkerung an Depressionen. Das sind über vier Millionen Bundesbürger. Depressionen sind nicht nur mit großem individuellen Leid verbunden. Sie führen auch zu hohen sozioökonomischen Belastungen. Zählt man die Kosten für diagnostische Maßnahmen, Therapien einschließlich Psychotherapien, Arzneimittelverordnungen, krankheitsbedingten Arbeitsausfall und Frühberentungen zusammen, kommt man in Deutschland auf einen ökonomischen Gesamtverlust, der sich auf 79 Milliarden Euro pro Jahr beläuft.2 Damit sind die Kosten höher als für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs und Diabetes zusammen. Sicherlich können Depressionen ganz unterschiedliche Ursachen haben – zum Beispiel genetische. Die überragende Rolle, die eine chronische Stressbelastung dabei spielt, ist aber inzwischen unbestritten. Die Studienlage zeichnet da ein eindeutiges Bild: Je stärker die subjektive Stressbelastung, desto häufiger sind psychische Folgeschäden. Der Befund ist klar: Stress macht krank und Stress macht alt. Grund genug also, ihm in diesem Buch ein eigenes Kapitel zu widmen. Doch wenn wir von dem krankmachenden Stress reden, ist es wichtig, auf eines hinzuweisen: So dramatisch die oben genannten Zahlen auch sind, Stress ist nicht nur negativ. Hier bedarf es definitiv einer kleinen Imagekorrektur. In Maßen kann Stress sogar gesundheitsfördernd sein.

  • >> Eine der effektivsten lebensverlängernden Maßnahmen ist das Fasten in seinen unterschiedlichen Formen. Ob als intermittierendes Fasten (Intervallfasten), Heilfasten oder – der neueste Trend – Scheinfasten (eine fünftägige Fastenkur, bei der man aber spezielle Lebensmittel zu sich nehmen darf): Weniger essen heißt länger leben. Dabei ist Fasten für unseren Körper zunächst einmal ein Stressreiz, nämlich Hungerstress. Darauf findet unser Organismus allerdings eine gesunde Antwort. Er aktiviert Reparaturenzyme wie etwa die bekannten Sirtuine. Sie beseitigen Schäden an der DNA und stimulieren die Autophagie, also jenen Prozess, bei dem der molekulare Abfall in den Zellen beseitigt wird.
  • >> Seit Langem schon praktizieren die Skandinavier Saunagänge zur Gesundheitsprävention. Eine Maßnahme, die große Teile der Welt übernommen und kultiviert haben. Seinen Körper Temperaturen von 100 °C und mehr auszusetzen ist zunächst einmal Stress pur: Hitzestress. Der allerdings stimuliert unser Immunsystem und trainiert unsere Blutgefäße, die sich weiten müssen, um die Hitze an die Umgebung abzugeben.
  • >> Etwas jüngeren Datums ist die Kältetherapie. Hier konfrontiert man den Körper mit extrem niedrigen Temperaturen. Dieser Kältestress wirkt ähnlich wie der Hitzestress. Das Immunsystem wird aktiviert, die Blutgefäße der Haut ziehen sich nun zusammen, um die Körpertemperatur aufrechtzuerhalten. Im Anschluss weiten sie sich dann wieder, um die ausgekühlte Oberfläche erneut zu durchbluten. Fitnesstraining für das Gefäßsystem.
  • >> Und schließlich ist auch Sport zunächst einmal nichts anderes als ein Stressreiz für unseren Körper. Der Organismus wird gezielt Belastungen ausgesetzt. Der Energieumsatz und damit auch der oxidative Stress steigt. Muskelfasern werden auf einer molekularen Ebene geschädigt, was wir dann als Muskelkater wahrnehmen. Das Gesunde am Sport ist die Antwort, die unser Organismus auf diese körperliche Belastung findet. Die Durchblutung wird verbessert, antioxidative Enzymsysteme werden hochgefahren. Die winzigen Schädigungen an den Muskelfasern werden repariert. Oft wird hier mehr kompensiert als nötig, und am Ende hat der Muskel ein wenig an Volumen zugelegt. Bodybuilder trainieren genau nach diesem Prinzip. Erst wenn der Muskel schmerzt, stellt sich im Anschluss auch das Muskelwachstum ein.

Die Tatsache, dass unser Körper auf unterschiedliche Stressreize eine gesunde Antwort findet, was präventivmedizinisch von großer Bedeutung ist, bezeichnet man inzwischen als Hormesis-Prinzip. In meinem Buch »15 Jahre länger leben« habe ich es ausführlich dargestellt.3 Dennoch bleibt festzuhalten: Es ist alles eine Frage der richtigen Dosierung. Wer es mit dem Fasten übertreibt, ist irgendwann verhungert. Wer stundenlang in der Sauna sitzt, riskiert den Hitzetod. Wer zu lange in der Eistonne bleibt, ist irgendwann für immer kalt. Die Dosis macht das Gift. Das gilt für viele Medikamente, das gilt auch für Lebensstilmaßnahmen.

Es gilt nicht zuletzt auch für den Stress. Auch der kann toxisch werden. Was da genau passiert, welche Auswirkungen das hat und was man dagegen tun kann, das wollen wir uns nun einmal etwas genauer ansehen.

Von der Technik zu Medizin und Psychologie

So allgegenwärtig der Begriff Stress mittlerweile ist, kann man sich kaum vorstellen, dass er erst vor wenig mehr als 100 Jahren in die medizinische Nomenklatur eingeführt wurde. Den englischen Begriff „stress“ im Sinne von »Druck« und »Spannung« gab es zwar schon sehr viel früher. Er wurde aber vor allem in einem technischen Sinne gebraucht, um die Belastbarkeit von Materialien zu beschreiben. Erst der österreichisch-kanadische Mediziner und Biochemiker Hans Hugo Selye (1907–1982) übertrug ihn dann in den 1930er-Jahren auf die Medizin. Sein durchaus nachvollziehbares Argument: Nicht nur Metalle sind Belastungen ausgesetzt. Nicht nur Werkstoffe können unter Druck zerbrechen. Das kann auch Menschen passieren. Aber auch Selye, der heute als der Vater der Stressforschung gilt, wusste bereits zu differenzieren. So unterschied er zwischen »Eustress«, also einem guten, gesunden Stress, der uns eher stimuliert als belastet. Davon grenzte er dann den sogenannten »Dysstress« ab, der langfristig zu einem Gesundheitsproblem wird.4

Ohne den Begriff Stress selber zu verwenden, hatte allerdings bereits ein anderer Pionier der psychologischen Stressforschung die Grundlagen der Stressantwort erarbeitet. Der US-amerikanische Physiologe Walter Cannon (1871–1945) beschrieb die typische körperliche Reaktion auf eine akute Bedrohung mit dem Begriff »fight or flight« (Kampf oder Flucht).5 Das sind in der Tat die beiden aussichtsreichsten Strategien, um einer hochgradig gefährlichen Situation zu begegnen. Egal, ob uns nun ein feindlich gesinnter Mitmensch oder ein aggressives Raubtier bedroht, gilt es in Sekundenschnelle zu entscheiden, welches die bessere Strategie ist: den Kampf aufzunehmen oder die Flucht anzutreten. Beides war für unsere Vorfahren vor 50 000 Jahren noch Alltag. Heute laufen uns aggressive Raubtiere nur noch sehr selten über den Weg. Und der feindliche Mitmensch bedroht uns nicht mehr mit der Keule, sondern mobbt uns im Büro.

Die »fight-or-flight«-Reaktion ist dennoch die gleiche. Sie bereitet unseren Körper auf maximale Leistungsfähigkeit vor. Blutdruck und Puls steigen an, um die Organe maximal zu durchbluten. Die Atemfrequenz nimmt zu, um eine optimale Sauerstoffversorgung zu gewährleisten. Die Glukosereserven werden mobilisiert, damit den Muskeln mehr Energie zur Verfügung steht. Das Gerinnungssystem schaltet auf scharf, denn bei Kämpfen zieht man sich schnell einmal eine Verletzung zu, und die entsprechende Blutung sollte dann schnellstmöglich gestillt werden. So rettet uns die Stressreaktion das Leben.

Problematisch wird es allerdings dann, wenn aus dem akuten Stress ein dauerhafter Zustand wird. Dann begünstigt der weiterhin erhöhte Blutdruck eine Arteriosklerose, die vermehrte Glukosefreisetzung einen Diabetes und die Aktivierung des Gerinnungssystems eine Thrombose.

Anders ausgedrückt: Die Stressantwort ist hilfreich, um eine akut gefährliche Situation zu...

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