Lyrisches Tagebuch - Lieder von Franz Schubert bis Wolfgang Rihm

Lyrisches Tagebuch - Lieder von Franz Schubert bis Wolfgang Rihm

von: Christian Gerhaher

Verlag C.H.Beck, 2022

ISBN: 9783406784248

Sprache: Deutsch

335 Seiten, Download: 3562 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Lyrisches Tagebuch - Lieder von Franz Schubert bis Wolfgang Rihm



Lyrische Dramaturgie


London, September 1999

Man darf hier den Menschen wohl bewundern als ein gewaltiges Baugenie, dem auf beweglichen Fundamenten und gleichsam auf fliessendem Wasser das Aufthürmen eines unendlich complicirten Begriffsdomes gelingt; freilich, um auf solchen Fundamenten Halt zu finden, muss es ein Bau, wie aus Spinnefäden sein, so zart, um von der Welle mit fortgetragen, so fest, um nicht von dem Winde auseinander geblasen zu werden.

Friedrich Nietzsche, leider nicht über Schumann[1]

Robert Schumanns Liedschaffen ist zwar nur rund halb so umfangreich wie das Franz Schuberts, des «Erfinders» dieser Gattung, es ist jedoch durch eine besondere Konsequenz gekennzeichnet. Das äußert sich in einem bis heute einzigartigen Willen zur systematischen Konzeption von Anfang an. Dieser gibt sich in den Kompositionen von Schumanns erstem Liederjahr 1840 in relativ naheliegenden dramaturgischen Ideen vielfach zu erkennen – in den drei wichtigsten Zyklen, aber auch sonst in kleinerer Form. Ausblicke auf die konzeptionelle Freiheit und Vielfalt späterer Jahre scheinen hier bereits auf, so sind beispielsweise die Andersen-Lieder (op. 40) mit ihrem geradezu maliziösen emotionalen Abstieg Wegbereiter für die abstrakteren Lenau-Lieder (op. 90) zehn Jahre später.

Die konzeptionelle Vielfalt ist aber bereits von Beginn an erstaunlich. So könnte Aus dem Liederbuch eines Malers (op. 36) von 1840 etwa die klanglich imaginierte Zusammenstellung einer Bildermappe sein, eine Art Vokal-Sonate – das erste Lied ist ein heiterer Satz, die Lieder 2 bis 4 sind ein Scherzo mit drei Romanzenteilen, darauf folgt ein dramatisches Lied in der Umgebung von Goethes Erlkönig und Heines Loreley, und alles wird abgeschlossen von einer unendlichen Melodie. Der «kleine» Liederkreis (op. 24) nach Heinrich Heine ist meines Erachtens (abgesehen von den drei Romanzen und Balladen op. 49) Schumanns ironischster Zyklus, vor allem wegen der sukzessiven Kontrastierung solcher Gedichte mit hochromantisch-sehnsüchtigen Liedern, die sich dazwischenschieben (Nr. 3 Ich wandelte unter den Bäumen, Nr. 5 Schöne Wiege meiner Leiden oder Nr. 7 Berg’ und Burgen schau’n herunter).

Frauenliebe und Leben (op. 42) könnte in Wirklichkeit ein ‹Marienleben› sein – ein vielleicht gewagter, aber spannender Versuch, Schumanns Textkürzungen des Gedichtzyklus von Chamisso zu erklären.[2] Wenn man nicht so weit gehen und dennoch das Phänomen dieses ‹unzeitgemäßen› Zyklus würdigen möchte, kann man das auch auf weniger spektakuläre Weise tun: mit Respekt nicht nur vor der formalen, sondern besonders auch vor der psychologisch ergreifenden Erfassung der biedermeierlichen Dichtung.[3] Man muss diesen musikalisch hinreißend sensiblen Zyklus nicht durch banale Hinweise auf textliche Anachronismen inkriminieren und verdammen – seine Ablehnung scheint mir gerade unter Intellektuellen geradezu eine Selbstverständlichkeit zu sein. Doch wenn die inhaltliche Übereinstimmung jedes Kunstwerks mit der ethischen Überzeugung des Rezipienten oder Interpreten Voraussetzung für seinen Erhalt wäre, dann würde unsere geistige Welt mit einem Schlag sehr leer.

Und auch die weiteren Lied-Opera aus Schumanns erstem Jahr als Liedkomponist verraten zwar hinsichtlich ihrer Konzeption nicht selten einen autobiographisch grundierten Charakter (als Beispiele seien nur op. 25 (Myrthen) und op. 30 genannt – zu beiden siehe weiter unten im Text).[4] Sie zeigen aber sämtlich eine über bloße Sammlungen hinausgehende zyklische Geschlossenheit, die mal mehr, mal weniger klar zutage tritt.

Mit dem Blick des Alternden auf belebende, geliebte Jugend zeigt sich in den Texten des relativ unbekannten op. 27 nur ganz leicht ein verbindender Gedanke. Dafür hat dieses Opus einen Ablauf, der die einzelnen Lieder musikalisch ziemlich eindeutig miteinander verbindet (1: Auftakt – 2: Fortführung – 3: Resignation – 4: Wiederaufnahme – 5: Conclusio). Oder man könnte die beiden Balladen-Triptychen nennen: Op. 30 vereint drei Veduten eines Mannes, vom freien Künstler (Der Knabe mit dem Wunderhorn) über den Demütigen (Der Page) zum Sieger (Der Hidalgo). Im Hintergrund steht der zu Ende gehende Prozess um Schumanns Ehe mit Clara, deren gerichtlich erteilte Erlaubnis im Schlusslied Hidalgo zu überschießender Freude und unverhohlenem Triumph führt («Den Damen gilt die Zither,/Die Klinge dem Rival./Auf denn zum Abenteuer,/Schon losch der Sonne Feuer/Jenseits der Berge aus./Der Mondnacht Dämmrungstunden,/Sie bringen Liebeskunden,/Und Blumen oder Wunden/Trag’ morgen ich nach Haus’»). Und in op. 31 begegnen wir, wie gegenübergestellt, den Bildern dreier Frauengestalten nach Adelbert von Chamisso, wobei die beiden äußeren von einnehmender Einzig- und Wahrhaftigkeit sind: die Rote Hanne, die sich und den Betrachter mit dem ritornellartigen Choral gleichsam in ihr Schicksal fügt, das sie sich eigentlich besser erträumt hat, und die ekstatisch, sinnlich, geradezu manisch sich erinnernde Löwenbraut. Dazwischen aber steht als massiver Kontrast die Kartenlegerin – ein Abbild von geschwätziger Unreife und entnervendem Aberglauben, das mit seinem vordergründig humorvollen Tonfall eines Operetten-Couplets doch nur die Abneigung des Hörers kann erregen wollen.

Später neigen die Konzepte dann ein wenig mehr zu Symmetrie (etwa op. 77, das leicht beginnt und endet, mit problematisierenden Übergängen hin zur und weg von der Geisternähe, einer in der Mitte stehenden, rückwärts gerichteten ‹Liebesbotschaft›). Oder sie neigen zu Begrifflichkeit, zum Beispiel zur Begrifflichkeit von ‹Abschied und Verlust› in den sechs Von-der-Neun-Liedern (op. 89), mit dem Röselein als Schlusslied, das oft ein wenig der Sorglosigkeit einer Soubrette verfallen ist, das mir aber eigentlich den hohen Rang abgehobener Schicksalsheiterkeit verkörpert – das einzige mir bekannte Parallellied zu Mahlers Urlicht. Oder aber sie neigen zu Abstraktion und sinnlicher Überhöhung der Gedichtsprache (wie in op. 96 und op. 107) oder zur Interpretation literaturhistorischer Figuren (etwa Wilhelm Meister in op. 98a, Elisabeth Kulmann in op. 104 oder Maria Stuart in op. 135).

Auch später wurde noch einmal eine Zäsur aus Schumanns Leben bedeutend. Der Tod der beiden Mendelssohn-Geschwister kurz hintereinander erklärt möglicherweise die beiden heroischen Eckpfeiler der Byron-Lieder (op. 95): ein Lied für Fanny (die als Komponistin gleichsam namenlos gebliebene Tochter Jephtas) und, unbestritten, eines für Felix (Dem Helden), verbunden durch die Klage An den Mond.[5]

Hinreißend, brutal, komisch aber finde ich die absurden späten Opera 117 – karnevalesk-blutsaufende Husaren-Lieder nach Nikolaus Lenau – und 119 – eine kuriose Zusammenstellung dreier Lieder nach dem Dichter Gustav Pfarrius. Zuerst steht da ein Idyll wie im Märchen, schöner nicht auszumalen, herrlicher kann das Leben nicht mehr werden. Dann folgt eine Warnung: So wird es nicht bleiben, denn der Uhu wird dem Vöglein zur Gefahr. Und schließlich wird jener zu einem, der gierig eine Birke völlig leer frisst und zu Tode ausbluten lässt. Abermals, wie in den Kerner-Liedern (op. 35), werden hier Gedichte in einen vom Dichter ganz und gar nicht beabsichtigten Verbund gezwungen und drücken so eine eigene, freie und visionäre Zusammengehörigkeit aus. Auch in den weiteren kleinen Zyklen (op. 45, op. 51, op. 53, op. 64) finde ich bei Aufführungen stets den mich begeisternden Sinn eines unbedingt geplanten Zusammenhangs.[6]

Ich bitte, diese vereinfachende, subjektive Sicht auf Schumanns Lied-Opera zu verzeihen; mir ist lediglich wichtig, meine Überzeugung klar werden zu lassen, dass wirklich jedes Schumannsche Lied-Opus (bis auf ein paar Zusammenstellungen übrig gebliebener Lieder wie op. 127 und op. 142 und mit der Ausnahme von op. 57 und op. 87, den beiden einzeln veröffentlichten Balladen Belsatzar und Der Handschuh) grundlegend von Ideen inhaltlicher und formaler Zusammengehörigkeit geprägt ist, von einer immer neuen, jeweils anderen Form und Dramaturgie. Das ist nicht eindrücklicher beschreibbar, nicht besser erklärbar als mit Richard Strauss’ Wort...

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