Ein Leben lang

Ein Leben lang

von: Christoph Poschenrieder

Diogenes, 2022

ISBN: 9783257612752

Sprache: Deutsch

304 Seiten, Download: 872 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Ein Leben lang




Am besten: alle Gespräche, mitgeschrieben und Transkripte von Aufnahmen, die Mails, die Memos, das alles ausdrucken, die bekritzelten Zettel, Servietten, Zeitungsausrisse dazu und in Reihenfolge bringen.

Alles auf dem Teppich ausbreiten, Stapel machen, gelbe Klebezettel drauf.

Struktur, Struktur, Struktur.

Lass sie miteinander reden, lass sie übereinander reden.

Ordnen und sortieren.

Anfang, Mitte, Ende.

So wird eine Geschichte daraus.

Woher haben Sie meine Nummer?

Wer? –

Okay, das hätte ich mir denken können.

Das ist alles schon so lange her. Schlafende Hunde soll man nicht wecken.

Natürlich haben wir für ihn gekämpft, und wie. Er ist doch unser Freund. Oder war es. Das ist jetzt alles nicht mehr so sicher. Haben Sie denn keine Freunde?

Dann müssten Sie das kennen.

Warum sollte ich mit Ihnen reden? Sie drehen mir doch nur das Wort im Mund herum. Das war damals so, beim Prozess, das wird heute auch nicht anders sein. Ihr habt so einen Unsinn geschrieben. Und am Ende kommt heraus, dass ich nie an seine Unschuld geglaubt habe.

Nein, nein. Wissen Sie was: Rufen Sie mich nicht mehr an. Ich habe mit der Sache abgeschlossen. Soll er doch in seiner Zelle – fast hätte ich gesagt: verrotten.

Liebe _,

sehr gerne können wir uns einmal auf einen Kaffee treffen. Ich hätte diese Woche am Mittwoch und Donnerstagnachmittag Zeit.

Ich deutete es bereits in unserem Telefonat an, und seitdem ist es mir erst richtig bewusst geworden: Ich habe über die Sache viel nachgedacht, besonders in den letzten Jahren, aber auch viel verdrängt. Vielleicht ist es gut, einmal darüber zu sprechen. Manchmal glaube ich, wir alle zusammen waren … in einer Art Gefangenschaft. »In unsichtbaren Ketten.« Und es ist Zeit, sich davon zu befreien. Das klingt ein bisschen melodramatisch! Das kann ich Ihnen dann bei unserem Treffen erklären. Bis dahin behalten Sie bitte alles für sich. Es wäre mir sehr unangenehm, wenn die anderen wüssten, dass ich mit Ihnen rede. Über die Jahre ist das Misstrauen unter uns doch größer geworden.

Mein Gesprächsangebot ist allerdings (noch) keine Zusage, bei Ihrem Projekt mitzumachen.

Mit den besten Grüßen,

PS: Ich bin froh, dass Sie eine Frau sind, und auch wenn das ein Vorurteil ist, glaube ich, Sie werden sich besser in uns, unsere Gruppe, und was uns so bewegte, einfühlen können.

Sehr geehrte Frau _,

erlauben Sie mir, dass ich Ihnen schriftlich auf Ihre kürzliche telefonische Anfrage antworte. So habe ich mehr Zeit nachzudenken, die richtige Formulierung zu wählen, und Sie erhalten eine solide Grundlage, falls Sie mich zitieren wollen.

Was Sie vorhaben, finde ich sehr interessant, und ich werde versuchen, Sie dabei zu unterstützen – solange Sie mich nicht fragen, ob er diesen Mord begangen hat, denn darauf habe ich keine Antwort zu geben. Selbst wenn inzwischen an die 15 Jahre vergangen sind.

Als die Sache damals passierte, war ich Berufsanfänger in einer Rechtsanwaltskanzlei, weswegen ich immer auch einen professionellen Blick darauf hatte. Anders als meine Freundinnen und Freunde habe ich stets versucht, mich in die Rolle des Staatsanwalts und des Richters, des Anwalts sowieso, hineinzuversetzen. Ein wenig jedenfalls, denn wir waren ja alle so felsenfest überzeugt, Zeugen eines grandiosen und schändlichen Justizirrtums zu sein. Präziser: manche mehr, manche weniger.

Wie Sie aus unserem Vorgespräch wissen, arbeite ich jetzt in einer Wirtschaftskanzlei. Früher, während meiner Zeit als Staatsanwalt in einer mittelgroßen Stadt in Niederbayern, hatte ich ein Babyfoto auf meinem Schreibtisch stehen. Es stammte offenkundig aus einer früheren Zeit und alle möglichen Besucher meines Büros – Kollegen, Polizeibeamte und andere – fragten, ob das ein Bild meiner Oma sei, oder so ähnlich.

Ich sagte dann: Das ist Adolf Hitler als Baby.

Die meisten hielten das für einen Scherz, aber es stimmte.

Und ich glaube, die meisten verstanden auch meine Erklärung dafür: Jeder ist alles, und aus jedem kann alles werden. Machen wir uns doch nichts vor. Ein treuherziger Blick, die perfekte Kleidung, der sorgfältige Haarschnitt und die manikürten Fingernägel, ein fein komponierter Gesichtsausdruck: alles Fassade. Genauso, wie eine raue Erscheinung natürlich, die keineswegs auf verwerf‌lichen Lebenswandel verweist. So wenig, wie zusammengewachsene Augenbrauen den Werwolf verraten.

Mir diente dieses Foto als Ermahnung, dass man sich von Äußerlichkeiten niemals leiten lassen darf. Niemals. Das gilt nach wie vor und erst recht in meiner Wirtschaftssozietät; das Hitlerfoto allerdings brauche ich dazu nicht mehr. Meine Mandanten finden so etwas nicht lustig.

Zum Freundeskreis halte ich lockeren Kontakt; es gab zwar noch eine Weile nach dem Urteil diese jährlichen Treffen in der Hütte am See, aber inzwischen ist es mir lieber, mal den einen oder die andere in der Stadt zu treffen als das ganze Rudel. Denn da trinken wir zu viel, da werden wir sentimental, wir singen und lamentieren, und es wird viel Unsinn erzählt, es werden großartige Pläne gemacht, um unseren Freund aus dem Gefängnis zu bekommen, aber eine Woche später kann sich niemand mehr daran erinnern, der Elan ist verpufft, wir tun, was wir alle Tage tun, und unser Freund sitzt weiter da ein, wo er eben einsitzt, seit dieser Sache.

Ohne diese ganze Sache – Mord, Prozess, spätere Verfahren – würden wir alle heute getrennte Wege gehen. Ich frage mich, ob unsere Freundschaft noch existieren würde.

Dabei ist die Frage ohnehin: Gibt es sie noch? Und: Was hält eine Freundschaft aus? Und wozu ist sie überhaupt gut? Falls Sie solchen Fragen überhaupt nachgehen möchten.

Da mein Arbeitstag eng getaktet ist, verlasse ich zwischendrin ungern das Büro, aber wir könnten uns im Konferenzraum unserer Kanzlei zusammensetzen und das Weitere besprechen.

Interviewen wollen Sie mich?

Und was soll dann daraus werden? Ein Buch, ein Artikel, ein Hörspiel? Oder was fürs Fernsehen?

Wissen Sie, damit kriegen wir ihn auch nicht raus aus dem Gefängnis. Und das wäre der einzige Grund, aus dem ich mit Ihnen sprechen würde. Und ich würde nur über die sogenannten Indizien und dieses Schandurteil dieser sogenannten Justiz reden. Aber nicht über uns, also uns Freunde, das bringt doch nichts.

Natürlich stehe ich nach wie vor zu ihm, was glauben Sie denn? Wir alle. Na, die meisten. Was sollte sich daran geändert haben? Und warum? Solange der wahre Täter – oder meinetwegen auch die wahre Täterin – noch frei herumläuft, ist der Fall nicht erledigt, jedenfalls nicht für mich.

Also: eher nein. Eher gar nicht.

Aber lassen Sie mich zumindest ein paar Nächte drüber schlafen.

Ganz bestimmt nicht.

Nein wirklich nicht. Da können Sie machen, was Sie wollen. Entschuldigung, aber das ist ein Fall von »entweder du bist für uns, oder du bist gegen uns«. Was glauben Sie, wie viele Anfragen ich da schon bekommen habe. Das ist eine Riesenstory. Ganz klar.

Aber probieren Sie es mal bei Sabine. Wenn die mitspielt, dann überleg ich mir’s noch mal. Kann ich mir aber nicht vorstellen.

Das wird zäher als gedacht. Drei von den wenigstens fünf, die dabei sein sollten, haben zugesagt. Jedenfalls nicht abgesagt. Die verhandeln, warten ab. Kann man ja verstehen. Aber reden wollen sie doch alle, sonst hätten sie ja sagen können: Danke, aber nein danke und Tschüss.

Der Einzige, der sich überhaupt nicht ziert, ist der Anwalt. Dreht man an dem Wasserhahn, kommt’s herausgesprudelt. Mal sehen.

Okay.

Ich habe mit Benjamin gesprochen. Sieht wohl so aus, als wäre er dabei – aber machen Sie sich da auf einige Korrekturen und Richtigstellungen gefasst. Der ist ein Pingeliger, immer ganz genau. Wenn er meint, dass es was bringt – bitte. Und wegen Sabine: Sie sagen mir schon, was die so erzählt, oder?

Da müssen Sie nämlich aufpassen. Die hat eine ganz eigene Auf‌fassung von der Angelegenheit. – Ich will Sie nur warnen.

Wenn Benjamin mitmacht, wie Sie sagen, dann … Dann ist es wohl in Ordnung. Der ist immer schon sehr bedacht gewesen. Nicht wie Till oder Sebastian.

Na ja, die zwei sind, die sind impulsiv. Die kennen Schwarz oder Weiß, aber kein Grau.

Beim ersten Treffen im Café trinkt Emilia heiße Schokolade und besteht danach darauf, selbst zu bezahlen, obwohl sie natürlich eingeladen ist. So viel gibt der Verlagsvorschuss gerade noch her, aber schön. Spricht leise, damit man sie am Nachbartisch nicht verstehen kann. Wie bei guten...

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