Wintersonne - Der Kopenhagen-Krimi

Wintersonne - Der Kopenhagen-Krimi

von: Katrine Engberg

Diogenes, 2022

ISBN: 9783257613018

Sprache: Deutsch

432 Seiten, Download: 876 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Wintersonne - Der Kopenhagen-Krimi



Auf den ersten Blick sah der Koffer aus wie aus einem alten Film. Ein großer viereckiger Reisekoffer mit Verstärkungen an den Ecken und einem breiten Handgriff mit verrosteten Metallbefestigungen. Er lag zwischen dürren Schneebeerenbüschen, die feuchte Erde hatte das Leder verfärbt und die Aufkleber mit Erinnerungen an Hotels in Trondheim und Hannover aufgeweicht.

Anette Werner, Ermittlerin der Abteilung für Gewaltkriminalität, richtete sich auf und blickte auf den Hügel hinter dem Spielplatz der Østre Anlæg. Sie sah eine Bank und einen einsamen Baum, dessen Silhouette sich vor den tief hängenden Wolken abzeichnete. Normalerweise vermieden es die Kinder auf dem Spielplatz, den Hügel hinaufzugehen. Häufig hielten sich dort Leute auf, die Spritzen und Kondome hinterließen, es war besser, ihnen nicht zu nahe zu kommen.

Oben auf der Grasfläche telefonierte der zentrale Ermittlungsleiter, den der Wachhabende alarmiert hatte, mit Kriminaltechnikern und Rechtsmedizinern. Er hatte die Schultern hochgezogen, sein Regenmantel beulte sich über dem Rücken. Zwei Steintreppen führten den Hang hinauf, beide waren mit rot-weiß gestreif‌tem Flatterband abgesperrt. An der hinteren Treppe stand einer der beiden jungen Beamten, die um Unterstützung gebeten hatten, und achtete darauf, dass sich niemand dem Fundort näherte.

Anette Werner wandte sich wieder dem Koffer zu, schob einen tropfenden Zweig beiseite und hockte sich im Gebüsch neben den anderen Beamten. Der matschige Boden zwischen den Büschen gab die Wurzeln der umstehenden Bäume frei, deren letzte gelbe Blätter kraftlos von den Zweigen hingen.

»Wer hat den Koffer gefunden?« Sie verlor beinahe das Gleichgewicht und griff nach der Schulter des Beamten.

»Erstklässler der Krebs’ Schule. Sie spielen in ihren Pausen gern auf dem Spielplatz und sind hier hochgelaufen, obwohl sie das eigentlich nicht dürfen. Der Koffer war mit Erde bedeckt, aber eine Ecke ragte heraus.« Der junge Beamte zeigte auf die obere rechte Ecke.

»Vielleicht ein Fuchs?«

»Möglich. Die Kinder haben ihre Lehrerin geholt, die der Gestank alarmiert hat. Sie hat die 112 angerufen.«

Der Gestank. Anette roch feuchte Erde und herbstliche Fäule. Die herabgefallenen Blätter wurden bereits zu Humus, Pilze wuchsen. Eine Note von verdorbenem Fleisch lag wie eine süßliche Basis unter den Novembergerüchen.

»Nachdem wir ankamen, haben wir vorsichtig die Erde um den Koffer entfernt, um ihn zu öffnen, aber –« Der junge Beamte räusperte sich unsicher. »Na ja, es ist noch nicht so lange her, dass ich die Polizeischule beendet habe. Wir haben an Obduktionen teilnehmen müssen, und den Leichengeruch vergisst man nicht so schnell.«

Anette warf ihm einen Blick zu. »Ihr habt ihn also nicht geöffnet?«

»Wir haben den Deckel nur kurz angehoben, und dann die Kripo gerufen.«

»Ausgezeichnet.«

Auf dem Spielplatz war Kindergeschrei zu hören. Der Beamte reagierte nervös. »Wir haben es nicht geschaff‌t, alles ordentlich abzusperren, bis ihr gekommen seid. Wir waren ja nur zu zweit.«

»Ja, man kann beinahe das Rascheln ihrer Overalls hören.« Anette zog ein paar Latexhandschuhe aus der Tasche und streif‌te sie über. Ihre Tochter Gudrun hatte gerade einen neuen Winter-Overall bekommen, himmelblau mit weißen Wölkchen. Ihre blonden Locken hingen jedes Mal im Reißverschluss fest, wenn sie den Anzug selbst zuzog. Gudrun und Anettes Mann Svend waren gestern eine Woche zu Svends Schwester nach Kerteminde gefahren. Anette vermisste die beiden bereits, als der Wagen aus der Einfahrt fuhr.

»Ich öffne den Koffer jetzt, um ganz sicherzugehen, dass wir die Maschinerie nicht unnötig in Gang setzen.«

»Also, ich habe da überhaupt keinen Zweifel«, protestierte der Beamte und wischte seine tropfende Nase mit dem Handrücken ab.

Anette fasste an die Unterkante des Kofferdeckels und spürte die Kälte an ihren Fingerspitzen. Noch hatte es keinen Frost gegeben, nicht einmal nachts, aber die Luft war schon gesättigt von der charakteristischen dänischen Feuchtigkeit, die im Winter durch Mark und Bein geht und Hände und Füße lähmt.

Die Scharniere knarrten, und sie hörte, wie der Beamte neben ihr nach Luft schnappte. In dem Koffer lag ein Körper. Braunlilafarbene Haut mit weißen, schimmelig aussehenden Flecken. Anette musste nur eine Sekunde hinsehen, um zu erkennen, dass es sich um einen Menschen handelte. Allerdings hatte er nur einen Arm und ein Bein. Der Kopf lag in einer der Ecken und war längs zerteilt.

Instinktiv wandte sie den Blick von der Leiche ab. Der Himmel über ihr war grau, die Luft voller feiner, kleiner Wasserperlen. Der Gestank war unbeschreiblich. Ein gutturales Geräusch entfuhr dem jungen Beamten. Anette schloss hastig den Deckel, bevor er sich übergab.

»Aus der Erde sind wir genommen.« Der Pastor steckte die kleine Schaufel in einen Haufen Erde und schüttete etwas davon vorsichtig auf den weißen Sarg, während er mit dem Zeigefinger der anderen Hand seine Brille den Nasenrücken hochschob. »Zur Erde sollen wir wieder werden. Der Herr möge dich auferwecken am Jüngsten Tag.«

Die kleine Versammlung rund um das Grab stand reglos im Nieselregen und verfolgte das Ritual. Jeppe Kørner legte den Arm um Esther de Laurenti und spürte, wie ihr schmächtiger Körper unter dem Mantel zitterte. Jeppe hatte geholfen, den Sarg zu tragen, seine Hand schmerzte. Abgesehen von Esther und ihm selbst waren nur ein paar alte Kollegen des Verstorbenen und ältere Bekannte erschienen. Die drei erwachsenen Kinder und wer weiß wie viele Enkel und Urenkel fehlten. Seit einer hässlichen Scheidung vor vielen Jahren hatte es keine Versöhnung gegeben. Und nun auch kein letztes Lebewohl.

Gregers Hermansen hatte in dieser Welt keine tiefen Spuren hinterlassen.

Der Pastor betete ein Vaterunser und sprach einen Segen, Jeppes Hals schnürte sich zusammen. Ihn überkam eine gewaltige Tristesse, als er an Gregers’ und seine eigene Bedeutungslosigkeit dachte, an das flüchtige Dasein auf dieser Erde. Im Frühjahr hatten die Ärzte bei Gregers Lungenkrebs diagnostiziert, im Hochsommer hatten sie die Behandlung aufgegeben. Nun stand der Winter kurz bevor, und Gregers Hermansen, der pensionierte Typograph, Esthers Mitbewohner und Vater von drei Kindern, zu denen er keinen Kontakt mehr gehabt hatte, wurde begraben.

Esther hatte sich bis zuletzt in ihrer Wohnung um ihn gekümmert, er sollte nicht in einem Hospiz sterben. Jeppe hatte nicht die Phantasie, sich vorzustellen, wie hart es gewesen sein musste, aber er spürte, dass ihre ohnehin schmächtige Gestalt noch kleiner geworden war. Auch schien es, als schimmerte mehr Grau in den hennagefärbten Haaren.

Wir sind nur Gast auf Erden und wandern ohne Ruh

mit mancherlei Beschwerden der ewigen Heimat zu –

Die Stimmen der kleinen Trauergemeinde gingen zwischen den Grabsteinen unter. Jeppes Zehen waren gefühllos in seinen dünnen Lederschuhen, als sie sich verabschiedeten und aufbrachen. Esther war erst ein paar Meter gegangen, als sie sich zu ihm umdrehte. Er nahm sie in den Arm und ließ sie an seiner Brust weinen, bis sie sich einigermaßen beruhigt hatte.

Gemeinsam gingen sie den asphaltierten Weg zum nächstgelegenen Ausgang des Friedhofs.

»Kein Leichenschmaus?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe Jakob angerufen, seinen ältesten Sohn, aber die Familie wünscht nicht teilzunehmen, hieß es. Und Gregers’ alte Kollegen kenne ich nicht, ich hatte also niemanden, der es hätte organisieren können.«

»Gibt’s hier am Tagensvej nicht ein Café? Ich spendiere uns ein Mittagessen.« Er lächelte ihr zu.

Sie hatte sich wie gewöhnlich sehr bunt angezogen, mit einem blauen Wollmantel und einer orangefarbenen Seidenbluse, aber ihr Gesichtsausdruck war düster.

»Wir können es auch nur bei einem Kaffee belassen, wie du willst.«

»Ein Glas Wein wäre mir am liebsten, auch wenn es noch früh am Tag ist.«

»Dann machen wir das.«

Das Café war hell und hatte eine große Fensterfront zur Straße, es war mit Wiener Caféhausstühlen und eng beieinanderstehenden Marmortischen eingerichtet. Abgesehen von einem schläfrigen Kellner war es leer. Sie setzten sich ans Fenster. Der Kellner erhob sich und fing an, nach Speisekarten zu suchen.

»Ich glaube, ich bin nicht mehr ausgegangen, seit Gregers krank wurde. Und jetzt –«

Jeppe wollte gerade sagen, das Leben würde doch weitergehen, aber er bremste sich. Das Letzte, was Trauernde brauchen, ist die Erinnerung daran, dass die Welt sich – gleichgültig gegenüber persönlichem Unglück – unverdrossen weiterdreht.

Der Kellner legte die Speisekarten auf den Tisch und begann, die Tagesgerichte aufzuzählen. Jeppe unterbrach ihn.

»Wir fangen mit einer Flasche vom Rotwein des Hauses und etwas Wasser an, danke. Dann schauen wir, ob wir noch etwas essen möchten.« Jeppe wartete, bis der Kellner hinter der Bar verschwunden war, bevor er nach Esthers Hand griff. »Es muss hart gewesen sein, ihn allein zu pflegen.«

Sie lächelte. »Täglich kam eine ambulante Krankenpflegerin, es gab also Pausen. Für Gregers war es schlimmer als für mich. So abhängig von...

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