Kinder und Resilienz - Was Krisen mit unseren Kindern machen und wie wir sie davor schützen können

Kinder und Resilienz - Was Krisen mit unseren Kindern machen und wie wir sie davor schützen können

von: Leonhard Thun-Hohenstein

ecoWing, 2023

ISBN: 9783711053466

Sprache: Deutsch

272 Seiten, Download: 1323 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Kinder und Resilienz - Was Krisen mit unseren Kindern machen und wie wir sie davor schützen können



2. Was Krisen sind und warum sie entstehen


Wie in den ersten Seiten dieses Buches beschrieben, erleben die meisten Menschen in ihrem persönlichen Leben Krisen, oft sogar mehrere, und in den vergangenen Jahren kamen noch einige überregionale und internationale Krisen hinzu, die sich massiv auf uns alle ausgewirkt haben oder auswirken: die Covid-19-Pandemie, der Krieg in der Ukraine, die Klimakatastrophe mit ihren weitreichenden, inzwischen auch spürbaren Folgen, wirtschaftliche Krisen und so weiter. Wir fühlen uns oft regelrecht überflutet von Krisen, zum Teil sind sie gar nicht mehr überblickbar. Wir versuchen, unser Leben weiterzuleben und bemerken viele Änderungen mehr unterbewusst als bewusst. Wir nehmen wahr, dass es politisch kriselt, Regierungen und deren Ausrichtungen wechseln, unser Vertrauen in sie und das Sicherheitsgefühl nehmen weiter ab. Aber ab welchem Zeitpunkt befinden wir uns in einer Krise? Dazu müssten wir zunächst wissen, was genau eine Krise ist und wie sie abläuft.

Der Duden definiert Krise als eine »schwierige Lage, Situation oder Zeit, die den Höhe- und Wendepunkt einer gefährlichen Entwicklung darstellt«.31 Dazu ein kleines Beispiel: Claude hat eine Arbeit, die ihm Spaß macht, aber auch sehr anstrengend ist, seine Vorgesetzten sind fordernd und er erhält wenig bis keine Anerkennung. Er bemüht sich sehr, aber seine Stimmung wird irgendwann zunehmend schlechter, morgens hat er gelegentlich Bauchweh beim Gedanken, in die Arbeit zu gehen, und abends keinen Spaß mehr an Freizeitaktivitäten. Durch die dauernde Frustration kommt Claude immer mehr in Not, er ist traurig, unzufrieden, aggressiv und immer verzweifelter. Er fasst also den Entschluss, den Arbeitsplatz zu wechseln. Wir können in Krisen fast immer eine Phase der Verschlechterung und einen Höhepunkt mit Verzweiflung und Traurigkeit beobachten, in unserem Beispiel trifft Claude hier die Entscheidung, sich einen neuen Job zu suchen. Krise ist also der »Gipfel« einer über gewisse Zeit stattfindenden Konfliktentwicklung, die in einem natürlichen oder sozialen System auftritt, wenn eine massive und problematische Funktionsstörung passiert. Zu einer Krise gehört demnach immer eine Vorgeschichte, eine Phase der Zuspitzung, der krisenhafte Höhepunkt (die Krise im engeren Sinne) und dann die Nach-Krisenphase.

Etymologisch stammt das Wort Krise vom griechischen κρίσις (krisis) mit der Bedeutung: Meinung, Beurteilung oder Entscheidung. Das dazugehörige Verb krinein bedeutet so viel wie trennen oder unterscheiden. Im Deutschen wird das Wort Krise nachweislich seit dem sechzehnten Jahrhundert, zunächst vor allem in medizinischem Zusammenhang, verwendet. Für die Medizin bedeutet Krise eine plötzliche Veränderung des Gesundheitszustandes. Schon im Corpus Hippocraticum, einer Sammlung medizinischer Texte aus der Zeit vom sechsten Jahrhundert vor bis zum dritten Jahrhundert nach Christus, heißt es: »Die Krise bei den Krankheiten ist, wenn Krankheiten sich verstärken, nachlassen, in eine andere Krankheit umschlagen oder aufhören.«

Das Verb krinein hieß im Griechischen aber auch zu Gericht sitzen, richterlich entscheiden, jemandem den Prozess machen und ihn oder sie zur Verantwortung ziehen. Das bedeutet, dass zwei unterschiedliche »Entscheidungsqualitäten« in diesem Wort enthalten sind: das Unterscheiden und das Richten. Letzteres hat sich zur »Kritik« gewandelt, die über Menschen, Produktionen und vieles mehr »richtet« und nur mehr wenig mit einer Krise im engeren Sinne zu tun hat. Wir finden diese Entwicklung im Rassismus, im Mobbing im Antisemitismus oder grundsätzlich im Phänomen der Stigmatisierung – jemand wird aufgrund eines willkürlichen Merkmales »gerichtet« und ausgeschlossen.

Krise ist ein (all-)tägliches Phänomen, das uns in unterschiedlicher Form und Schwere oft begegnet. Das folgende Beispiel zeigt eine Alltagssituation, anhand derer wir uns den Prozess einer Krise genauer ansehen können: Silvana hat ihren Kindern und ihrem Mann, die bald von einem langen Tag nach Hause kommen werden, versprochen, deren Lieblingsgericht zuzubereiten – Spaghetti Bolognese. Als sie mit dem Kochen beginnen will und die Schränke nach den Zutaten durchsucht, stellt sie fest, dass sich in ihren Vorräten zwar Zwiebeln, Tomaten, Gewürze, Nudeln und noch einige andere Lebensmittel befinden, aber kein Hackfleisch für den Sugo. Ein Besuch im Supermarkt geht sich nicht mehr aus, auch die Nachbarn können nicht aushelfen. Silvana ist verzweifelt, sie will ihre Familie keinesfalls enttäuschen. Was soll sie nur machen? Sie setzt sich also an den Tisch und sinniert vor sich hin. Vor ihr liegt dabei eine Illustrierte über vegane Küche. Darin findet sie beim Blättern einen Artikel über Fleischersatz durch Soja und verschiedene andere Produkte wie Pilze. Dabei erinnert sie sich, dass im Kühlschrank doch noch Pilze gelegen haben. Sie läuft in die Küche, sieht nach und da – die Kräuterseitlinge springen sie geradezu an. Problem gelöst – heute gibt es vegane Spaghetti!

Krise und schöpferischer Prozess


Das Beispiel von Silvana zeigt, dass eine Krise auch als »schöpferischer Prozess« wahrgenommen werden kann. Dieser wird zumeist durch ein Problem ausgelöst – in diesem Fall das fehlende Fleisch. Zuerst wird versucht, mit vorhandenen oder vertrauten Mitteln – alle Schränke durchsuchen, die Nachbarn fragen, einkaufen gehen – eine Lösung zu finden. Wenn das nicht gelingt, steigt der Frust. Unruhe, Nervosität und Ungeduld tauchen auf, Silvana zweifelt an sich und ihrer Kompetenz. Nun gesellt sich nicht selten Angst dazu: die Angst zu versagen, vor dem Verlust von Anerkennung oder der Liebe der Kinder. In anderen Problemsituationen dieser Art kann es um die Karriere oder gar um Lebensgefahr gehen. Diese Herausforderungen bringen uns schließlich dazu, nach Hilfen, nach anderen, neuen Methoden zu suchen und diese anzuwenden und auszuprobieren. Ist das Niveau der Angst aber zu hoch, wird die Suche nach Neuem eher blockiert. Dann nehmen der Stress und der innere Druck zu, die Krise stellt sich ein. Wenn sich jedoch Türen auftun und eine neue Idee einfließen kann, hilft das wesentlich zur Auflösung der krisenhaften Situation. Im Beispiel von Silvana ist die Angst nicht Blockade-wirksam, und sie findet deshalb eine alternative Lösung, von der sie sogar noch glaubt, sie gegenüber ihrer Familie gut verkaufen zu können.

Versuchen wir nun, den schöpferischen Prozess, für den es viele recht ähnliche Modelle gibt, genauer zu verstehen: Am Anfang steht ein Problem, das die Ausgangssituation bedroht oder eine Idee, die noch ihrer Umsetzung harrt. Vor einer Problemlösung steht die analytische Phase, in der das Problem (im Beispiel das fehlende Fleisch) sich bemerkbar macht und dann festgestellt wird, dass eine Lösung mit vorhandenen Mitteln nicht möglich ist. Aus der analytischen Phase entwickelt sich dann die intuitive Phase, in der die Lösung durch Experimentieren versucht wird (suchen, einkaufen wollen, die Nachbarn um Hilfe bitten). Gelingt auch das nicht, folgt die Inkubationsphase, in der Unterbewusstsein und Kreativität Gelegenheit erhalten, eine neue Lösung zu finden. In unserem Beispiel zieht sich Silvana zurück, blättert in einer Zeitschrift und kommt so in diese Inkubationsphase. Zu guter Letzt entwickelt sie sich in die kritische Phase. In dieser geht es um eine nochmalige, genaue Problem- und Zieldefinition und die Entscheidung, welcher Weg gegangen wird. In den Konzepten von Erik Eriksons Identitätsentwicklung beispielsweise sind die potenziellen Krisen mit mindestens zwei Ergebnissen mitgedacht: positive Entwicklung und nächste Entwicklungsstufe oder aber Steckenbleiben der Entwicklung mit negativem Abschluss der betroffenen Entwicklungsphase.

Krisen sind also Teil des schöpferischen Prozesses und damit Teil unseres Alltages. Wir erleben sie häufig, wahrscheinlich mehrmals täglich, und lösen sie meistens sehr erfolgreich, weshalb wir sie oft nicht einmal als Krisen wahrnehmen oder bezeichnen. An Kindern kann man diese Prozesse gut beobachten, wie das folgende Beispiel zeigt: Der kleine Pauli spielt mit Bauklötzen und versucht, einen möglichst hohen Turm zu bauen. Er legt einen Klotz auf den andern und der Turm wächst. Ab dem zehnten Klotz beginnt der Turm jedoch, sich zu neigen, und beim dreizehnten Klotz fällt er um. Pauli ist erstaunt, beginnt wieder von vorne und legt diesmal die Klötze ganz sauber aufeinander. Diesmal hält der Turm ein bisschen länger, aber dann fällt er wieder um. Jetzt ist Pauli doch recht unzufrieden, runzelt die Stirn, ruft etwas Unverständliches aus, springt zweimal in die Höhe und setzt sich dann wieder hin und wartet. Es vergeht eine Weile, dann beginnt er den Turm von vorn. Diesmal legt er zwei Klötze parallel und einen weiteren quer darüber. Doch als er die nächsten zwei wieder parallel quer über den einen Klotz legen will, stürzen sie ab. Er untersucht...

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