Migration im 19. und 20. Jahrhundert. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Band 86)

Migration im 19. und 20. Jahrhundert. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Band 86)

von: Jochen Oltmer

De Gruyter Oldenbourg, 2009

ISBN: 9783486701241

Sprache: Deutsch

184 Seiten, Download: 1341 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Migration im 19. und 20. Jahrhundert. (Enzyklopädie deutscher Geschichte, Band 86)



II. Grundprobleme und Tendenzen der Forschung (S. 61-62)

Den großen räumlichen Bevölkerungsbewegungen im Deutschland ,des 19. und 20. Jahrhunderts wurde unmittelbare wissenschaftliche Aufmerksamkeit der Zeitgenossen zuteil, denn sie galten als politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich und kulturell relevante Phänomene und Probleme. Das betrifft die transatlantische Massenauswanderung des 19. Jahrhunderts ebenso wie die starken interregionalen Arbeitswanderungen im Kontext von Industrialisierung, Urbanisierung und Agrarmodernisierung. Auch die rasche Zunahme der Ausländerbeschäftigung seit dem späten 19. Jahrhundert ist bereits zeitgenössisch in unterschiedlichen Disziplinen lebhaft diskutiert worden. Für das 20. Jahrhundert lässt sich Ähnliches beobachten: Flucht und Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg bildeten z.B. bis in die späten 1950er Jahre einen zentralen Gegenstand sozial- und bevölkerungswissenschaftlicher sowie wirtschafts- und rechtswissenschaftlicher „Flüchtlingsforschung“. Und auch die Beschäftigung ausländischer Arbeitsmigranten seit den frühen 1960er Jahren mündete in die Herausbildung einer zunächst stark sozial- und erziehungswissenschaftlich geprägten „Ausländerforschung“.

Die an den je aktuellen Entwicklungen orientierten empirischen Untersuchungen blieben in aller Regel einzelnen Phänomenen bzw. Gruppen verpflichtet. Sie berücksichtigten selten zeitgleich auftretende Bewegungen anderer Gruppen oder Formen und stellten zumeist keine Bezüge auf abgelaufene, historische Prozesse her. In gewisser Weise wurden damit grundlegende Muster, Formen und Folgen von Migration wissenschaftlich immer wieder neu entdeckt. Häufig verstanden die beteiligten Disziplinen die untersuchten Migrationsphänomene als mehr oder minder solitäre Erscheinungsformen sozio-ökonomischer bzw. politischer Probleme, oder sie galten selbst als Problem, zu dessen Lösung die jeweiligen Studien einen Beitrag zu leisten suchten. Anders als diese anwendungsorientierten, je aktuellen Erfahrungen verpflichteten Forschungen zu einzelnen Migrationsphänomenen ist die interdisziplinär orientierte Historische Migrationsforschung eine junge Forschungsrichtung. Ein breit rezipiertes Konzept, das Gegen stand, Ausrichtung und Ziele programmatisch umschreibt, hat in den 1980er Jahren K.J. B entwickelt.

Es versteht Migration als multidimensionalen und multikausalen Sozial- und Kulturprozess, als ein Phäomen mit unterschiedlichen Hintergrüden, Erscheinungsformen und Bewegungsmustern [5: Sozialhistorische Migrationsforschung, 8: Historische Migrationsforschung]. Untersuchungsfelder sind das Wanderungsgeschehen und das Handeln im Migrationsprozess vor dem Hintergrund der Entwicklung von Bevökerung, Wirtschaft, Gesellschaft, Politik und Kultur in den Ausgangs- und Aufnahmerämen. Die Frage nach dem Wanderungsgeschehen zielt dabei auf Umfang, Verläfe und Strukturen, diejenige nach dem Handeln im Migrationsprozess auf Bestimmungskräte, Motivationen, Mentalitäen und Netzwerkfunktionen. Die Historische Migrationsforschung widmet sich nach dem Konzept Bs vier Dimensionen: Sie fragt nach

1. den Hintergrüden und Formen der Abwanderung als schrittweiser Ausgliederung aus den Ausgangsrämen,
2. den Mustern rämlicher Bewegung zwischen Herkunfts- und Zielgebieten,
3. den Formen und Folgen der Zuwanderung im Zielgebiet, die in einen Generationen üergreifenden Prozess der Integration müden kann sowie
4. den Wechselbeziehungen zwischen Ausgangs- und Zielrämen und den Rükwirkungen auf die Ausgangsräme.

Dieses offene Konzept bietet nicht nur weitreichende Perspektiven Perspektiven fü die Untersuchung von interkontinentalen bzw. kontinentalen Ferndes Konzepts wanderungen, sondern auch fü die Vielfalt des interregionalen und kleinrämigen Wanderungsgeschehens. Es läst sich sowohl auf Migrationsprozesse anwenden, die auf dauerhafte Niederlassung in einem Zielgebiet ausgerichtet waren (und entsprechender Vorbereitungen in den Herkunftsgebieten bedurften), als auch auf die zahlreichen Formen zeitlich befristeter Aufenthalte –von der Bewegung von Tages und Wochenpendlern zwischen Wohn- und Arbeitsort üer saisonale oder zirkuläe Bewegungen sowie mehrjärige Arbeitsaufenthalte in der Fremde bis hin zu dem meist üer einen begrenzten Zeitraum aufrechterhaltenen Umherziehen als ortloser Wanderarbeiter. Mit diesen Perspektiven ließsich eine lange in der historischen Forschung dominierende Sicht üerwinden, die Migration vorwiegend als einen linearen Prozess verstand, der von der Wanderungsentscheidung im Ausgangsraum üer die Reise in das Zielgebiet bis zur dort vollzogenen dauerhaften Niederlassung reichte.

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