Backlash - Die neue Gewalt gegen Frauen

Backlash - Die neue Gewalt gegen Frauen

von: Susanne Kaiser

Tropen, 2023

ISBN: 9783608119886

Sprache: Deutsch

224 Seiten, Download: 3397 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Backlash - Die neue Gewalt gegen Frauen



Backlash im Schlafzimmer


Im Frühjahr 2022 gelangt ein Bild an die Öffentlichkeit, das den »CEO Lunch« der Münchner Sicherheitskonferenz zeigt. Auf dem Foto sind ausschließlich Managermänner zu sehen, die alle dunkle Anzüge und helle Hemden tragen und mit ihren ergrauten Köpfen kaum voneinander zu unterscheiden sind. Der Platz im Twittertrend war ihnen damit garantiert, die berechtigte Kritik ließ nicht lange auf sich warten. Die Veranstaltenden unternahmen zunächst einen halbherzigen Versuch, den aufziehenden Shitstorm abzuwenden, indem sie erklärten, dass alle Frauen abgesagt hätten. Dann taten sie das einzig Vernünftige: Sie entschuldigten sich und versprachen, beim nächsten Mal deutlich mehr Frauen einzuladen.

Weite Teile der medialen Öffentlichkeit sind sich einig, dass so ein Auftritt nicht mehr zeitgemäß ist. Frauen sind nicht mehr wegzudenken aus der Öffentlichkeit, aus Spitzenpositionen in Politik, Medien, Wirtschaft, Wissenschaft. Selbst wenn manche wichtige Veranstaltung oder Verhandlung hinter verschlossenen Türen stattfindet, macht es gleich einen unseriösen, gestrigen Eindruck, wenn keine Frau dabei ist. Und die junge Generation muss sich nach 16 Jahren Merkel erst daran gewöhnen, dass die Kanzlerin auch männlich sein kann. Wir haben heute eine feministische Außenministerin, eine Innenministerin, Verteidigungsministerinnen und Bürgermeisterinnen. Dass Frauen früher kein eigenes Konto eröffnen durften, ihren Mann fragen mussten, wenn sie arbeiten wollten, sich den Ehepartner nicht selbst aussuchen oder sich nicht ohne triftigen Grund scheiden lassen konnten, ist für die meisten Menschen in Deutschland ein kurioser Fun Fact aus der Geschichte. Spätestens seit der Ehe für alle hat sich das Bündnis zwischen Mann und Frau weitestgehend aus der staatlichen Kontrolle befreit. Und damit auch der weibliche Körper: Frauen haben das Recht, selbst über ihn zu bestimmen. Sie können sich dafür entscheiden, keine Kinder zur Welt zu bringen und stattdessen Karriere zu machen. Abzutreiben. Sich zu kleiden, wie sie wollen. So auszusehen, wie sie es für richtig halten. Sex zu haben, wann und mit wem sie wollen, solange die beteiligten Personen einverstanden sind.

Die konservativen Gegenstimmen in der Presse, oftmals von älteren Herren, deren große Zeit vorbei ist, stoßen auf mehr Häme als Konsens. Wenn Wolfgang Thierse im Zeit Magazin, Harald Schmidt im Spiegel oder Harald Martenstein im Tagesspiegel ihr Recht verteidigen, keine diskriminierungsfreie Sprache zu verwenden, brandet kurz eine künstliche Debatte auf, die genauso schnell wieder verebbt. Denn: Inzwischen ist es eine Meldung, wenn »viele Städte in Sachsen Gender-Sonderzeichen meiden«. Sachsen natürlich, die Heimat von Pegida und Hochburg der AfD, denkt man bei so einer Schlagzeile zuerst und eben nicht: Wie, die Kommunen in anderen Bundesländern nutzen gendergerechte Sprache?

So unangenehm oder unwichtig viele die Debatte um gendergerechte Sprache finden mögen: Positionen, die sich grundsätzlich gegen Gleichstellung richten, sind nicht mehr mainstreamfähig, sondern Außenseitermeinungen. Auch wenn wir faktisch noch nicht gleichberechtigt sind und biologische und soziale Unterschiede zwischen den Geschlechtern oft kontrovers und vehement diskutiert werden, gibt es an dem Ideal – dass Frauen die gleichen Rechte haben sollten wie Männer – kaum etwas zu rütteln. Niemand könnte heute noch eine ernsthafte Debatte mit der Behauptung anstoßen, dass weibliche Personen weniger fähig oder weniger wert seien als männliche und deshalb benachteiligt werden sollten.

Dass wir so gleichberechtigt sind wie noch nie, ist dem Feminismus zu verdanken, der in den letzten zwei Jahrzehnten vor allem als »Netzfeminismus« viel bewirkt hat. Überall auf der Welt haben sich Frauen dank des Internets neue Räume und Rechte erkämpft, sich vernetzt und gemeinsam Bewegung in die zähen Debatten gebracht. Mit dem Internet war eine neue Form der Öffentlichkeit geschaffen, ohne Hierarchien, gläserne Decken oder Gatekeeper. So konnten sich politische Minderheiten Gehör verschaffen und in vergleichsweise kurzer Zeit viel erreichen. Nicht nur Frauen natürlich, sondern auch Menschen mit Behinderungen, People of Colour, Queere – all jene, die vor dem Zeitalter der Digitalisierung marginalisiert wurden. Mit beachtlichen Erosionserscheinungen für die patriarchale Ordnung, denn die analoge Öffentlichkeit existiert nicht einfach als Paralleluniversum weiter. Sie wird von der digitalen Wirklichkeit immer stärker durchdrungen und umgewälzt.

Netzfeminismus ist so erfolgreich, weil eine breite Bewegung entstand, die immer noch wächst. Nicht einige wenige Leute treiben die Feminismusdebatte voran, als Avantgarde wie in früheren Zeiten, sondern viele. Zwar sind manche Impuls gebenden Aktionen mit bestimmten Namen verbunden, etwa die #Aufschrei-Kampagne von Anne Wizorek, bei der Frauen ab 2013 ihre Erfahrungen mit Alltagssexismus in Deutschland auf Twitter teilten. Damit rührten sie an einem lange bestehenden Tabu: Über sexuelle Übergriffe und Benachteiligungen schweigt man als Frau, um nicht als »hysterisch« oder als »selbst schuld« abgestempelt zu werden. Doch es kann nicht nur jede:r bei #Aufschrei, #MeToo oder #DeutschrapMeToo mitmachen, sondern es kann auch jede:r auf dem eigenen Profil Erlebnisse oder Forderungen teilen und so selbst neue Hashtags und Bewegungen ins Leben rufen.

Gesellschaftliche Missstände sind seitdem nicht mehr nur in abstrakte Statistiken eingelagert, sondern sie sind lebendig geworden, mit Gesichtern verbunden und persönlichen Geschichten. Die feministische Autorin Rebecca Solnit schreibt in ihrem Essay »Recollections of My Non-Existence«: »Es gab jedenfalls Wege, das Schweigen zu brechen, das selbst einen Teil der Bedrohung darstellte: Rebellion. Ein Aufleben, eine Machtübernahme über das Erzählen von Geschichten, meine und die von anderen Frauen.« Frauen würden, so Solnits Diagnose, nicht bloß mit Gewalt zum Verschwinden gebracht, sondern diese Gewalt werde auch noch durch das Tabu, darüber zu sprechen, verschleiert. Man könnte es ein doppeltes Verschwinden nennen: Erst verschwindet die Person, zum Beispiel aus der Öffentlichkeit, dann wird auch noch das, was ihr zugestoßen ist, ausgelöscht. »Die Gewalt gegen Körper wurde in einem episch epidemischen Ausmaß möglich durch die Gewalt gegen Stimmen«, resümiert Solnit. Das eine Verschwinden begünstigt das andere. Das Erzählen der Geschichten von Frauen ist somit ein rebellischer Akt gegen das Verschwinden, indem es das Unsichtbare sichtbar macht.

Diese Sichtbarkeit hat eine geradezu seismische Wirkmacht entfaltet und zum Umdenken geführt. Einzelpersonen nutzen heute soziale Medien, um sexistische Praktiken und sexuelle Übergriffe anzuzeigen, mit Reichweiten, von denen manche große Zeitung nur träumen kann. Als die Komikerin Ines Anioli 2019 erst in einem Podcast anonym berichtet und später auf Instagram öffentlich macht, dass ihr Expartner Luke Mockridge sexuell gewalttätig war, verfolgen Millionen Menschen das Hin und Her zwischen den beiden mit und fordern Konsequenzen. Das durch Aniolis Anzeige eingeleitete Ermittlungsverfahren war von der Staatsanwaltschaft eingestellt worden. Doch der Spiegel beleuchtet nach ihren Social-Media-Auftritten die »Akte Mockridge« in einer großen Recherche und forscht offenbar gründlicher nach als die Staatsanwaltschaft. Darauf sagt Mockridge seine Comedytournee ab und wird von vielen in der Branche geächtet.

Diejenigen, die heute als die sichtbarsten Expert:innen und Meinungsmacher:innen den Ton in den Mainstreammedien angeben, sind weiblich und oft jung, People of Colour oder jüdisch und auch auf Twitter oder Instagram aktiv. Frauen wie Dunja Hayali, Natascha Strobl oder Jasmina Kuhnke haben eine Followerschaft von weit über 100 000. Deren Reichweiten garantieren auch ihren Erfolg in der analogen Welt – wenn sich das überhaupt noch trennen lässt. Sie sind wie Hayali berühmte Fernsehmoderatorinnen bei großen Sendern oder schreiben wie Kuhnke und Strobl Bestseller in renommierten Verlagen. Die großen Debatten unserer Zeit werden, wenn nicht bei Twitter, in politischen Talkrunden im Fernsehen geführt. Die wichtigsten neben Markus Lanz und der Phoenix Runde: Anne Will, Maybrit Illner, Maischberger. Frauen sind sichtbar, laut, streitbar und extrem erfolgreich in ehemaligen »Männerdomänen«. Sie haben heute theoretisch alle Möglichkeiten und Freiheiten.

Erfolgreich sind sie auch, weil breite Teile der Gesellschaft ihren Aufstieg unterstützen. Frauen wird heute deutlich mehr zugetraut als früher. Es gäbe...

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