Albrecht Dürer und der Wal - Wie die Kunst unsere Welt vorstellt.

Albrecht Dürer und der Wal - Wie die Kunst unsere Welt vorstellt.

von: Philip Hoare

Klett-Cotta, 2023

ISBN: 9783608119862

Sprache: Deutsch

320 Seiten, Download: 25917 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Albrecht Dürer und der Wal - Wie die Kunst unsere Welt vorstellt.



Barmherzigkeit


Durch diesen Hafen hindurch driftet ganz Europa weg, all die Massen, die Tag um Tag hinein- und wieder hinauswogen. Die Fähren schaukeln auf der Flut, stoßen gegen Kais aus Gummi wie kleine Wale. Da ist es.

Das Meer.

Dieses Meer könnte wie jedes andere überall sein. Alle Häfen ähneln sich. Offen zur Welt und abgeschlossen gegenüber dem Land – so sind sie die verwundbarsten, am unerbittlichsten verteidigten Orte, denn hier erschöpfen sich alle Gesetze. Gebräuche treten ab, Ordnung weicht, Geschichte wird zurückgelassen. Sie haben alle dieselben ausgebaggerten Rinnen, dieselben Schiffe auf der Suche nach jemandem, der ihnen ihre Last abnimmt. Dieselben Linienschiffe mit ihren totweißen Oberbauten gleiten gespenstergleich durch die Dunkelheit, wenn ein ahnungsloser Schwimmer vorübergleitet, wenn andere, heruntergekommene Kähne auslaufen.

Am Ende dieses Kais in Rotterdam steht ein altes, einer Trutzburg gleichendes Gebäude mit zwei Türmen und einer mit Grünspan überzogenen Kuppel. Heute ist es ein schickes Hotel; früher war es das Hauptquartier einer Firma, die eine Million Menschen über den Ozean verschiffte. Umsonst war das nicht. Es handelte sich um ein penibel bürokratisiertes Business, einen einträglichen Austausch. Wer es bis hierher schaffte, durfte ruhig teilnehmen. Gegen Gebühr.

Die Plakate, die an Straßenecken bis weit ins Landesinnere hinein ihre Botschaft verkündeten, verhießen strahlende ungeahnte Möglichkeiten. So jedenfalls lautete die Botschaft des Firmenlogos: die ineinander verschränkt flatternden Fahnen zweier Länder, der Niederlande und der Vereinigten Staaten. Die Menschen bildeten eine ordentliche Schlange, die sich über einen ganzen Kontinent erstreckte: Alle Männer trugen dieselben Hüte und Mäntel, alle Frauen trugen dieselben Taschen und dieselben Kinder. Und dieselben Szenen wiederholten sich auf der ganzen Welt; dieselben Backsteinbauten, dieselben amtlichen Formulare, dieselben Warteschlangen.

Und dann kam alles zum Stillstand, als ob jemand gegen den Handel Einspruch erhoben hätte. Eines Nachts wurde das Zentrum dieser Stadt zerstört. Bei einem 15-minütigen Angriff fielen 1500 Bomben, 1000 Menschen starben, 80 000 wurden obdachlos. 2000 Läden, 700 Lagerhäuser, 24 Kirchen und 62 Schulen wurden in Schutt und Asche gelegt. Ein Hafen, der ständig Menschen ohne Heimat verschifft hatte, besaß selbst keine Heimat mehr. An einem Ort, der bereits zwei Meter unterhalb des Meeresspiegels lag, schien jegliche Hoffnung untergegangen.

Sechs Monate danach brachten dieselben Flugzeuge, dieselben Piloten, die aus ihren Cockpits nach unten spähten, dasselbe Schicksal über meine Heimatstadt auf der anderen Seite des Ozeans.

Am 25. November 1940 gab die Regierung in Berlin eine Pressemitteilung aus, die in Amerika direkt neben Zeitungsartikeln mit der Mitteilung erschien, dass Santa Claus unterwegs ist. In dem Communiqué wurde mitgeteilt, Geschwader aus 250 Flugzeugen hätten 300 Tonnen hochexplosiver Bomben und 12 000 Brandbomben über Southampton abgeworfen. Der transatlantische Hafen sei nur noch, so hieß es, eine rauchende Ruine.

Sie versuchten, das Meer zu zerstören.

Wie Tiere krochen die Menschen in den Untergrund. Wer es nicht in die Schutzräume schaffte – einige waren in mittelalterlichen Krypten eingerichtet –, stand in den Türstürzen und sah zu, wie seine oder ihre Stadt um ihn oder sie herum in Trümmer fiel. Meine Mutter kam von der Arbeit nach Hause und sah, dass über ihrer Straße Rauch hing. Bis sie am Ende der Straße angekommen war, hatte sie keine Ahnung, dass es nicht ihr Haus war, das getroffen worden war. Ich komme der Vergangenheit näher, indem ich diese Erinnerungen erbe. Ich wurde in dieser Hafenstadt geboren, die noch immer von bombardierten Flächen vernarbt war. Ich wuchs mit dem Klang von Nebelhörnern und dem Gepolter aus den Docks auf. Als Junge spürte ich die Endlichkeit eines Ortes, wo alles andere erst begann. Immer brachen Menschen von hier auf, um eine neue Identität zu finden, als ob wir, die Zurückbleibenden, nicht selbst eine Identität hätten. Kein Hafen ist eine Heimat. Keiner ist frei.

Man hat immer dieses Gefühl von Wiederaufbau und Herstellung, sagt Ellen, als wir die Fähre nach Rotterdam verlassen. Sie und Edgar arbeiten in einem Studio am Kai, kreieren tiefblaue Bilder aus dem Meer und dem Himmel. Das Haus, in dem sie wohnen – früher wurden darin importierte Früchte gelagert – verfügt in seinem Boden über einen riesigen Schlitz, durch den ihre Kunstwerke wie Fracht hinausbefördert werden können. Ellen sagt mir, ich solle nicht unten im Dock schwimmen; aus Angst vor den dort untergegangenen Sachen.

Am Abend verlassen wir die Stadt, vorbei an ausgedehnten Raffinerien auf dem Weg nach Zeeland. Das Licht ist klar und durchdringend. Die Häuser klammern sich wie Schnecken an das Land, steile Dächer ducken sich hinter grünen Deichen. Die Fenster haben keine Vorhänge; dies zeige, dass sie nichts zu verbergen haben, sagt Ellen. Man kann alles und jeden kommen oder gehen sehen.

Wir fahren, bis das Land aufhört. Ich bin nicht sicher, ob hier überhaupt noch Leute sein sollten, oder die Kühe, die auf den Wiesen grasen. Vor 500 Jahren kam Albrecht Dürer hierher, auf der Suche nach einem Wal. Es war der Wendepunkt seines Lebens.

1519 war ein schlechtes Jahr für den Künstler. Sein Schutzherr, Maximilian I., Kaiser des Heiligen Römischen Reiches, war 1519 gestorben. Dürer hatte nun kein Einkommen mehr. Alle Sicherheit – dahin. Dürer ist in schlechter Verfassung, sagte sein Freund Willibald.

Dürer war zwar der berühmteste Künstler nördlich von Italien, doch er machte sich Sorgen. Er war kein junger Mann mehr; sein Körper ließ ihn schon manches Mal im Stich. Verlöre er sein Sehvermögen und seine Geschicklichkeit, wie er befürchtete, stünde es nicht gut um ihn.

Mehr als je zuvor war er von der Melancholie des Saturn durchdrungen, unter dessen Einfluss er seit jeher gestanden hatte. Sein ganzes Leben hatte er in seiner Phantasie gelebt. Würde es ab jetzt mit ihm bergab gehen? Er musste die Lage in den Griff bekommen. Als er hörte, dass der Erbe Maximilians, sein neunzehnjähriger Neffe Karl, die Absicht hatte, den englischen König Heinrich VIII. zu besuchen, fasste Dürer den Plan, ihm zu folgen und ihn um eine neue Rente zu ersuchen.

Er wog seine Möglichkeiten ab. Es würde ein riskantes und teures Unternehmen werden; womöglich stand er ohne einen Fürsprecher da. Ich stelle mir vor, wie er in Southampton ankam, bei Ebbe, zwischen den Lagerhäusern und dem Schlamm und den Austernfängern. (Karl V., der neue Kaiser, traf hier bei seiner zweiten Englandreise zwei Jahre später ein und brachte siebenhundert Pferde mit. Sonderlich erfreut war Kardinal Wolsey nicht.)

Dann wurde angekündigt, Karl V. solle in den Niederlanden gekrönt werden. Dürer beschloss, sich stattdessen dorthin zu begeben. Denn er hatte einen weiteren, sehr viel dringlicheren Grund, Nürnberg zu verlassen. Die Pest wütete in den engen Straßen der Stadt, und die Sommerhitze verschlimmerte die Situation noch mehr. Der Stadtrat hatte eine Notverwaltung eingerichtet, die Bewohner fürchteten um ihr Leben. Diejenigen, die es sich leisten konnten – wie etwa Dürers reiche Kaufmannsfreunde, die Imhofs –, flohen aus der Stadt. Und nun brachen am 12. Juli 1520 auch der Künstler, seine Frau Agnes und ihre Magd Susanna gen Westen in Richtung Küste auf.

Wir wissen, wie diese Reise durch das Herz Europas verlief – zu Pferd und mit dem Schiff, über Flüsse hin zum Meer –, denn Dürer schrieb alles auf. Sein Tagebuch der ein Jahr dauernden Reise ist der umfassendste Bericht über sein tägliches Leben, der erhalten blieb – und er ist der uninteressanteste.

Schon immer war Dürer ein Reisemensch – eine Reise war für ihn nicht nur eine tägliche Wegstrecke, sondern auch sein Tagwerk –, und sein Tagebuch ist voll von Angaben zu Ausgaben und Einnahmen, dem Gegenteil seiner ungezügelten Phantasie. Vier Jahrhunderte später, im Jahr 1913, als der zur Bloomsbury-Gruppe gehörende Künstler und Kunstkritiker Roger Fry Dürers Tagebuch herausgab, musste er erstaunt feststellen, dass die Haltung des Künstlers, wenn er unterwegs war, geradezu zeitgemäß war, als hätte er einen Baedeker zur Hand gehabt. Seine täglichen Niederschriften unterschieden sich eklatant von einem anderen Tagebuch, das Fry zitierte. Dieses war lediglich 50 Jahre vor Dürers Aufzeichnungen entstanden, doch es beschrieb eine andere Welt.

Im Jahr 1465 war Baron Leo von Rozmital von Prag über Nürnberg aufgebrochen, mit einem Gefolge von...

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