Wahn und Wunder - Hitlers Krieg gegen die Kunst

Wahn und Wunder - Hitlers Krieg gegen die Kunst

von: Charlie English

Aufbau Verlag, 2023

ISBN: 9783841232328

Sprache: Deutsch

352 Seiten, Download: 2728 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Wahn und Wunder - Hitlers Krieg gegen die Kunst



VORWORT


Ein Brief aus Berlin

Am 9. Oktober 1939 – der Zweite Weltkrieg war kaum einen Monat alt – erließ das Ministerium des Inneren des Dritten Reichs eine Direktive an alle Heilanstalten für psychische Krankheiten im Land, die von Reichsgesundheitsführer Dr. Leonardo Conti unterzeichnet war. Als Teil neuer Wirtschaftsmaßnahmen der Kriegszeit fordert Conti die Ärzte darin auf, alle Patienten in ihrer Obhut mit psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie, Epilepsie, Altersdemenz, Syphilis, »Schwachsinn«, Enzephalitis oder Morbus Huntington zu registrieren. Ebenso Menschen ohne derartige Erkrankungen, wenn sie sich seit fünf oder mehr Jahren in einer solchen Anstalt befanden, als kriminell galten oder nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besaßen bzw. »nicht deutschen oder artverwandten Blutes« waren. Im Zweifelsfall sollten die Mediziner sich stets für die Registrierung entscheiden, da es für Berlin günstiger wäre, zu viele als zu wenige Patienten in den Listen zu haben.

Contis Brief lagen Meldebogen bei – einer für jeden Patienten. Neben der Angabe der sogenannten Rassekategorie (wobei unter Kategorien wie »Jude«, »jüdischer Mischling I. oder II. Grades«, »Neger«, »Negermischling«, »Zigeuner« und »Zigeunermischling« auszuwählen war) hatten die Ärzte Einzelheiten über die Arbeitsfähigkeit der Patienten und ihre Krankheiten mitzuteilen und anzugeben, ob und wie häufig sie Besuch erhielten. Die Formulare sollten möglichst mit Schreibmaschine ausgefüllt und so rasch es nur ging nach Berlin zurückgeschickt werden.

Als die Direktive in den psychiatrischen Heilanstalten überall im Lande eintraf, suchte das Personal herauszufinden, was sie wohl bedeuten mochte. Wollte die Regierung diese Patienten verlegen? Wenn ja, wohin? Brauchte sie Arbeitskräfte, die an der Front Schützengräben ausheben sollten, oder wollte sie für verwundete Soldaten Krankenhausbetten freimachen? Sie durchsuchten also die Meldeformulare nach versteckten Hinweisen. Da die Bürokraten nicht viel Raum für eine detaillierte medizinische Beurteilung vorgesehen hatten, kam zumindest ein Arzt zu dem Schluss, es könne sich um keine allzu drastische Aktion handeln. Andere fanden die Frage nach den Besuchern sehr merkwürdig. Wozu musste Berlin das wissen?

Der geheime Zweck des Conti-Briefs klärte sich in den darauffolgenden Wochen. Alle Papiere, die zurückkamen, wurden kopiert und an ein Gremium von Psychiatern, sämtlich stramme Nazis, geschickt. Diese hatten den Auftrag, jeden Fall entweder mit einem roten Plus oder einem blauen Minus zu markieren. Die wenigen Patienten, die ein blaues Minus erhielten, ließ man in Ruhe. Ein rotes Plus hingegen bedeutete ihr Todesurteil. Diese Menschen wurden in ihren Krankenhäusern und Heilanstalten eingesammelt, in Busse gesetzt und in speziell dafür vorbereitete Anstalten gebracht. Dort wurden sie entkleidet, gewogen und in luftdicht abgeschlossene Räume gestoßen, die man mit tödlichem Kohlenmonoxid flutete. Sobald sie alle tot waren, wurden ihre Leichen verbrannt und die Asche auf Feldern verstreut. Aktion T4, wie man dieses Programm nannte, war das erste Beispiel dafür, dass eine Regierung die industrielle Vernichtung eines Teils der Bevölkerung ihres eigenen Landes organisierte. Für die Nazis sollte dies der Prototyp eines weit größeren Massenmords sein, der noch bevorstand.

Unter den Hunderttausenden psychisch kranker und behinderter Menschen, die den »Euthanasie«-Aktionen zum Opfer fielen, befanden sich zwei Dutzend, deren Kunstwerke der Psychiater Hans Prinzhorn in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg gesammelt hatte. Wie diese Künstler, die zugleich Patienten waren, mit dem Naziregime in Konfrontation gerieten, davon will ich in diesem Buch erzählen.

Kunst im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus zu untersuchen, scheint widersinnig oder gar deplatziert zu sein. Was kann Malerei oder Bildhauerei bedeuten, wenn man sie an der ungeheuren Zahl der Toten misst? Sind Hitlers Vorstellungen von Kultur nicht eine Ablenkung von seinen weitaus schlimmeren Verbrechen, über die schon so viel geschrieben wurde? Mein Bericht wird zeigen, dass das Gegenteil zutrifft. Hitlers Massenmordprogramme und seine Kunstauffassungen waren durch ein ganzes Netz pseudowissenschaftlicher »Theorien« über »Rassen«, die Moderne oder die Konzepte von »Entartung« und »lebensunwertem Leben« eng miteinander verknüpft.

Die Kunstsammlung, die Hans Prinzhorn in Heidelberg aufgebaut hat, besteht ausschließlich aus Werken von Patienten psychiatrischer Heilanstalten. Zunächst als Forschungsarchiv der psychiatrischen Klinik der Universität Heidelberg geplant, wurde sie für Prinzhorn bald viel interessanter ob ihres künstlerischen Wertes, denn als Hilfsmittel zur Diagnose von psychischen Krankheiten. Das lag wesentlich an der außerordentlichen Qualität des Materials, das er fand.

Die Männer und Frauen, von denen die Werke stammten, hatten ihr Leben von aller Welt abgeschnitten verbracht, vergessen von ihren Freunden und oft sogar von ihren Familien. Meist diagnostiziert mit Schizophrenie, wollten die wenigsten unbedingt »Kunst« schaffen. Vielmehr benutzten sie Zeichnungen, Skulpturen und Texte, um Aspekte ihrer psychotischen Wirklichkeit abzubilden oder Botschaften von ihrer isolierten Innenwelt auszusenden. Die Sammlung enthält alle möglichen Schöpfungen – von Gemälden, Zeichnungen und Collagen bis hin zu Kritzeleien, Gedichten und Musik. Dafür verwendeten sie, was ihnen gerade in die Hände fiel: abgelaufene Pflege- und Speisepläne, Tüten, benutzte Briefumschläge und sogar Toilettenpapier. Plastiken finden sich neben Entwürfen für große Erfindungen, Tagebüchern oder Briefen, die wahrscheinlich niemals abgeschickt wurden. Eine Frau schrieb immer dieselben Worte – »Liebling, komm« – auf Hunderte Blatt Papier, bis jedes einzelne schwarz von ihrer Sehnsucht war. Manche zeichneten pornografische Szenen. Andere stellten mit Nadel und Faden Stoffpüppchen her oder bestickten Wäschestücke, die sie am Körper trugen, mit Worten und Satzfetzen. Diese oft sehr merkwürdigen Dinge zu betrachten, ist ein bewegendes, zuweilen transzendentes Erlebnis. Besucher äußerten, sie sähen darin »Aufwallungen aus der Tiefe der menschlichen Seele«, welche »Fenster in eine andere Wirklichkeit öffneten«. Eine ehemalige Kuratorin verglich ihren ersten Eindruck von der Sammlung mit dem Augenblick, in dem ein Damm bricht: »Phänomenale Welten öffneten sich mir, schlugen mich in ihren Bann und brachten mich aus dem Gleichgewicht.«

Prinzhorns Verdienst besteht darin, diese Kunst aus ihrem Entstehungsort, den psychiatrischen Kliniken und Pflegeeinrichtungen, herausgeholt und der Außenwelt zugänglich gemacht zu haben. Er präsentierte sie einer neuen Generation von Künstlern, die damit beschäftigt waren, den Wahnsinn zu verarbeiten, den sie im Ersten Weltkrieg erlebt hatten. Bekannte Maler, Bildhauer und Schriftsteller, darunter Paul Klee, Max Ernst, André Breton und Salvador Dalí, sahen in dieser Sammlung einen von bürgerlicher Erziehung und Bildung unverfälschten, unmittelbaren Ausdruck des menschlichen Innenlebens. Das führte dazu, dass für ein paar stürmische Jahre zwischen 1920 und 1930 von Wahnsinnsideen inspirierte Kunst bei der Avantgarde in hohem Ansehen stand. Doch sie blieb stets eine Provokation, und als in Deutschland die Weimarer Republik ihren Niedergang erlebte, geriet die moderne Kunst unter die Attacken der äußersten Rechten.

Die Nationalsozialisten suchten den Leuten den Traum von einer Zukunft zu verkaufen, die auf einer mythischen Vergangenheit, einer Zeit von »Blut und Boden« beruhte, in der das Feld von einer ethnisch reinen »Rasse«, dem Volk der Arier, bestellt wurde. Adolf Hitler, der Messias der Bewegung, hatte mit Prinzhorns Künstlern mehr gemein, als er zuzugeben bereit gewesen wäre. Obwohl nur wenige ihn jemals untersucht haben, hat seine hysterische, psychopathische Persönlichkeit Psychiater und Fachleute für mentale Gesundheit gleichermaßen zu einer Unzahl von Diagnosen veranlasst. Zudem sah sich Hitler als Mann der Kultur. Die skrupellosesten seiner Aktionen wurden aus dem Glauben geboren, er sei der »Künstler-Führer«, eine in der deutschen Geschichte periodisch wiederkehrende Figur, fähig, dem Volk den Weg zu weisen und es ohne Rücksicht auf Verluste auf ihn zu leiten. Seine Politik stellte er als eine kulturelle Unternehmung dar. In der Kunst...

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