Queer - Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute

Queer - Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute

von: Benno Gammerl

Carl Hanser Verlag München, 2023

ISBN: 9783446276932

Sprache: Deutsch

272 Seiten, Download: 2483 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Queer - Eine deutsche Geschichte vom Kaiserreich bis heute



Oft ist gegenwärtig von den neuen Zwanzigerjahren die Rede. Gemeint ist dann die Dekade, auf deren Mitte wir uns gerade zubewegen. Inwiefern ähnelt sie ihrer berühmten Schwester aus dem letzten Jahrhundert, jenen oft als golden bezeichneten 1920er-Jahren, als Deutschland zwischen rosigen Aussichten und dunklen Ahnungen schwankte? Sowohl in positiver als auch in negativer Hinsicht lassen sich Parallelen ausmachen: Um wichtige Zukunftsfragen wird heftig gerungen, das politische Feld ist in Bewegung, und popkulturelle Szenen experimentieren — auch im queeren Sinn — mit neuen Möglichkeiten. Gleichzeitig geht die Inflationsangst um, manche beschwören den Geist von Rapallo, angesichts der Nähe zwischen einigen deutschen und russischen aka sowjetischen Politiker*innen, und rechte Terrorist*innen ermorden ihre Feinde.

Auch die Ampelregierung sprach Ende 2021 in ihrem Koalitionsvertrag viel vom Aufbruch in die Zwanzigerjahre und legte nicht zuletzt queerpolitisch die Latte ganz schön hoch: das Recht auf reproduktive Selbstbestimmung für alle, ein Aktionsplan gegen Diskriminierung und für Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt sowie die Abschaffung des Transsexuellengesetzes. Mal sehen, was aus den Vorhaben werden wird. In jedem Fall gibt es breite und auch streitfreudige queere Szenen, die den Lauf jener Dinge nicht nur beobachten, sondern auch mit vorantreiben werden. Diese lebendigen Subkulturen stellen die dominierende zweigeschlechtliche und heteronormative Ordnung infrage. Sie wollen neben maskulinen und femininen auch anderen geschlechtlichen Varianten Anerkennung verschaffen. Und Sex kann für sie beileibe nicht nur zwischen einem Mann und einer Frau stattfinden. Solche queeren Anregungen stoßen auf die Ablehnung rechter Kräfte, die sich mit aller Gewalt gegen die Auflösung althergebrachter und neu erfundener Hierarchien und Vorschriften sträuben. Der Streit prägt die Gegenwart. Also tatsächlich alles wie in den 1920er-Jahren schon gehabt?

Queere Zeitläufe


Dieses kleine Buch bietet einen Überblick über die queere Geschichte Deutschlands seit dem späten 19. Jahrhundert und fragt zugleich, wie sie sich am besten erzählen lässt. Ein geradliniges Erfolgsnarrativ wäre wenig überzeugend. Zwar formierte sich bereits im Kaiserreich die erste Homosexuellenbewegung und erlebten die Subkulturen in den Zwanzigerjahren tatsächlich eine Blüte, aber seitdem wurde keineswegs alles immer besser. Stattdessen verfolgten die Nationalsozialisten gleichgeschlechtlich liebende und gender-nonkonforme Menschen mit unnachgiebiger Grausamkeit. Nach dem Zweiten Weltkrieg war das queere Leben allenfalls ein bisschen weniger gefährlich. Vor allem in der Bundesrepublik drohten nach wie vor harte Strafen und gesellschaftliche Ächtung. Erst in den 1970er-Jahren konnten Emanzipationsbewegungen wieder Erfolge erringen.

Mit Blick auf queere Geschichte im modernen Deutschland schrieb Peter Weissenberger im September 2021 in seiner taz-Kolumne »Unisex«, dass die »Freiheit« bereits zweimal »in greifbarer Nähe« gewesen sei und dass beide Male ein tiefer Sturz in die drohende »Auslöschung« folgte. Eine solche Katastrophe erkennt er im Übergang von der Weimarer zur NS-Zeit. Und eine andere in dem Moment, als der emanzipatorische Aufbruch der langen 1970er-Jahre unterging im Sterben der Aids-Epidemie. Dieser Gedanke stiftet einen historischen Zusammenhang zwischen zeitlich weit auseinanderliegenden Episoden. So wie das obige Bild aus dem Film von Yael Bartana, den das Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen seit 2018 zeigt. Im Hintergrund sehen wir links einen vermutlich aus den 1980er-Jahren stammenden Button mit dem Slogan »heterosexism can be cured!«, Heterosexismus ist heilbar. Daneben das 1901 vom wissenschaftlich-humanitären Komitee herausgegebene Heft »Was muss das Volk vom dritten Geschlecht wissen!«. Rechts davon ein mit »Victor Victoria« beschriftetes Foto, das vielleicht einen Damen-Imitator der Weimarer Zeit zeigt. Inwiefern die Aufschrift auf die UFA-Komödie Viktor und Viktoria anspielt, die Ende 1933 in die Kinos kam, ist unklar. In dem Film geht es um eine Frau, die vorgibt, ein männlicher Damen-Imitator zu sein. 1982 brachte Blake Edwards in Hollywood ein Remake heraus. Vor dem Hintergrund all dieser Bilder und Anklänge küsst sich ein queeres Paar. Und davor können wir uns wiederum uns selbst vorstellen, als zeitgenössische Besucher*innen des Denkmals, deren Gesichter sich in der Glasscheibe spiegeln, hinter welcher der Film läuft.

Queere Geschichte soll hier also auch nicht als das Durchschreiten eines tiefen Tals erzählt werden, so als ob man nach ungefähr hundert Jahren endlich wieder dieselben Höhen vielfältiger Buntheit erklimmen würde, die in den 1920er-Jahren bereits schon einmal erreicht waren. Diese Geschichte vom Auf, Ab und Auf ist nur geringfügig überzeugender als das Narrativ vom geradlinigen Erfolg. Frei nach Kurt Schwitters’ i-Gedicht: rauf, runter, rauf, aber das Pünktchen können wir nicht draufsetzen, weil es geht noch mal runter und wieder rauf, und wer weiß, was als Nächstes kommt? Deswegen erscheint es vielversprechender, die Gegenwart — unter Missachtung des chronologischen Vergehens der Zeit — immer wieder neu mit verschiedenen Momenten der queeren Vergangenheit zu verknüpfen und dann zu sehen, welche Funken der Einsicht sich aus diesem Übereinanderlegen der Zeiten schlagen lassen.

Ein Versuch: Die Zwanziger finden nicht nur in der Gegenwart ein Echo, sondern stießen bereits in den 1970er-Jahren auf Resonanz. 1972 kam Cabaret in die Kinos. Liza Minnelli spielt darin die Tänzerin Sally Bowles, die sich in den letzten Jahren der Weimarer Republik zu behaupten versucht. Der Film beruht auf einem Roman von Christopher Isherwood, der um 1930 selbst in Berlin lebte. Auch heute kommen einem unweigerlich die Bilder aus Cabaret in den Sinn, wenn man an die queere Subkultur und die aufkommende Nazi-Bewegung in den späten 1920er-Jahren denkt. Die 2010er-Jahre haben mit Babylon Berlin, basierend auf Kriminalromanen von Volker Kutscher, ihre eigene televisionäre Vorstellung vom Berlin der Weimarer Zeit geschaffen. Zeigt sich hier eine historische Nähe zwischen zeitlich voneinander getrennten Momenten, die 1920er-, 1970er- und 2010er-Jahre, in denen sich die Feier errungener Erfolge mit der Angst vor drohenden Rückschlägen mischt? Charakterisiert diese Melange unsere Gegenwart?

Weil es derlei Fragen aufwirft, ist das vielschichtige Übereinanderlegen verschiedener Zeiten aufschlussreich. Die bloß nostalgische Rückbesinnung auf die Zwanziger als eine goldene Zeit, in die man zurückzukehren hofft, eröffnet dagegen keine erhellenden Perspektiven. Daher fragte Peter von Becker bereits Anfang 2020 im Tagesspiegel ironisch: »Hätten wir’s denn gerne wieder so? Berlin Babylon, aber bitte mit Smartphone.« Dieser Mythos der Weimarer Jahre vernebelt den Blick auf die queere Geschichte. Wie ein glitzernder Schleier verbirgt die Vorstellung von den damals prallen Subkulturen die wirkliche Komplexität der 1920er- wie der 2020er-Jahre. Heraus kommt eine Art weichgespülte Version von Cabaret, in der die Nazis nicht auftauchen, oder eine Website für queer-freundliche Urlaubsresorts, auf der alle Ängste und Selbstzweifel strahlend weiß überlächelt werden. Auch heute ist nicht alles eitel Sonnenschein. Nach wie vor sind homosexuelle Menschen mit gewalttätigen Angriffen konfrontiert. Und trans* Personen müssen sich durch viele Seiten mit schwuler Werbung klicken, bevor sie auf ein halbwegs überzeugendes Reiseangebot stoßen, das für sie bestimmt ist.

Urlaubspensionen für Transvestiten wurden bereits in den frühen 1930er-Jahren in der Zeitschrift Das 3. Geschlecht beworben. Als Transvestiten bezeichneten sich damals meist Männer, die gerne...

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