Wo die Fremde beginnt - Über Identität in der fragilen Gegenwart

Wo die Fremde beginnt - Über Identität in der fragilen Gegenwart

von: Elisabeth Wellershaus

Verlag C.H.Beck, 2023

ISBN: 9783406799334

Sprache: Deutsch

158 Seiten, Download: 437 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Wo die Fremde beginnt - Über Identität in der fragilen Gegenwart



KAPITEL 2

Nachbarschaften


Ich traue mich nicht, an neuen Orten zu schlafen,
wo mein Kopf auf Alpträume fällt.
Jeder neue Ort ist ein neues Tor zur Einsamkeit.
Aber ich sehe dein blondbraunes Haar:
Es stellt der Sonne eine Falle,
verleiht ihr ihre Farben
und schenkt ihr einen zärtlichen Vorhang.

Lina Atfah

An manchen Tagen scheint die Wohnung, in der ich lebe, direkt an meine Kindheit anzugrenzen. Dann wirken die Grundpfeiler aus Wohlstand, Sicherheit und Homogenität, die meine Baugruppe tragen, wie ein verzerrtes Volksdorf – immun gegen «fremde» Einflüsse. Bis heute habe ich an solchen Tagen Ausbruchsfantasien aus dem Paradies. Vor allem im Frühling, wenn die ersten Sonnenstrahlen rauskommen.

Als Kind packte ich um diese Zeit immer einen kleinen Rucksack, stellte mich in die Kurve an unserer Straße und wartete aufs Flughafentaxi. Leider kam es immer erst im Sommer. Erst wenn in der Nachbarschaft die Sonnenschirme aufgeklappt wurden, die Teewagen auf die Terrassen rollten und sich vor Eisdielen Schlangen bildeten, fuhren meine Mutter und ich nach Spanien.

In Pankow schwinge ich mich aufs Rad und fahre unter der S-Bahnbrücke hindurch in den Wedding. Etwas an den Sozialwohnblocks im Viertel erinnert mich an die Bettenburgen, die an der Costa del Sol stehen. Daran, dass es nicht eine einzige Nachbarschaft sein muss, der man sich zugehörig fühlt. Dass ein Zuhause hier wie dort liegen kann.

In den kühleren Monaten erschien mir unser andalusisches Leben früher unwirklich. Wie eine parallele Wirklichkeit zur aufgeräumten Hamburger Vorstadt. Bars und Clubs an der Costa del Sol hielten sich selten an Altersbeschränkungen. Mein Vater gab hinterm Restauranttresen kein Volksdorfer Elternvorbild ab. Und wenn ich nach langen Abenden zerknittert aus dem Bett kroch, schien die temporäre Freiheit mit der Ferienfamilie zu schön, um wahr zu sein. Es war abenteuerlich, wenn mein Vater uns an flirrenden Abenden im Viertel präsentierte – wenn er der Nachbarschaft stolz demonstrierte, dass wir tatsächlich immer wiederkamen.

In unserer Abwesenheit wechselte er Wohnungen, Partner:innen, Jobs. Immer im Improvisationsmodus, immer skeptisch, ob Europa ihn je wirklich akzeptieren würde. Irgendwann zog er in eine kleine Straße abseits des Touristentrubels und blieb länger. Die Cafés, in denen er dort arbeitet, bewirten seit 30 Jahren dieselben Stammgäste. Vermutlich wird er sie bedienen, bis er umkippt. Zwischen Tapas und Tresengesprächen fühlt er sich leidlich zu Hause.

Vor kurzem verbrachte ich mit Mann und Kindern wieder ein paar Wochen in seiner Nähe. Nach ein paar Tagen kam der Hausmeister unseres Apartments auf mich zu. Er schwitzte, vielleicht, weil die sengende Mittagshitze ihm zusetzte. Vielleicht, weil ihm nicht wohl war. In der Nachbarschaft hatte es Beschwerden über meine Badegarderobe gegeben. Über Shirt und Hose aus dem Surf-Shop, die ich wegen meiner Sonnenallergie im Sommer trage. «Alltagskleidung ist im Pool verboten», sagte der Hausmeister und zeigte auf ein entsprechendes Schild. Ich beschrieb die Schwimmtauglichkeit meiner Kleidung, und meine Erklärung schien ihn zu überzeugen. Tragen sollte ich sie trotzdem nicht. «Es kommen leider immer mehr Menschen von ‹drüben›, die vollbekleidet in den Pool springen», sagte er achselzuckend. «Da sind die Nachbarn empfindlich geworden.»

Auch in Andalusien wächst die Islamophobie. Und im Zuge neuer Abgrenzungstendenzen verständigten die Nachbar:innen unserer Wohnanlage sich darauf, dass ich eine Marokkanerin sein musste, die sich aus kulturellen oder religiösen Gründen nicht an lokale Gebräuche und Bikiniregeln hielt. Es kümmerte sie wenig, ob mein Outfit beim Hausmeister durchging oder nicht: Für ihr Verständnis zeigte ich unnatürlich wenig Haut beim Schwimmen. Ein Umstand, der als Fremdheitsattribut ausreichte, um dagegen vorzugehen.

In diesen Ferien schwamm ich nur noch im Meer. Und etwas an dem Erlebnis legte sich wie ein Schatten über ein lang gehegtes Kindheitsnarrativ. Der Gedanke, dass im gefühlt durchlässigen Umfeld meines Vaters die Angst vor Fremdheit grassierte, brachte meine Erinnerungen aus dem Tritt. Nach Jahren der Verdrängung begriff ich, mit welcher Wucht sich das Bedürfnis nach Abgrenzung längst auch in meinem Ferien-Zuhause breitmachte – dass es vermutlich immer da gewesen war. Selbst in der Nachbarschaft meines Vaters, wo seine Stammkundschaft seit Ewigkeiten ein und aus ging. In jener Straße, wo mich Obsthändler und Fleischer seit Jahrzehnten kannten.

Sie treffen sich mehrmals täglich zu Tapas und Getränken im Café. Der Zeitungsverkäufer, der Klatsch verbreitet, während seine Frau arbeitet. Der Journalist, von dem manche behaupten, er sei früher «Spion» gewesen. Die Restaurantbesitzerin, die den Laden schon schmiss, als ihr Mann ihn offiziell noch leitete. Fast alle sind noch da. Doch die Erinnerung an das einst mythisch beschworene Erbe von al-Andalus scheint ihnen abhandenzukommen. Die Tatsache, dass weiße Dörfer, raffiniert angelegte Gärten und viele andere andalusische Traditionen muslimisch-arabischen Ursprungs sind.

Manchmal trifft mein Vater noch Hamid in der Stadt. Wenn er auf dem Weg in die Kneipe ist und der alte Freund mit seiner Vespa durch die Straßen brettert. Meist bleiben ihre Gespräche in den 1960er und -70er Jahren hängen, als sie gemeinsam an den «tollsten Tresen der Küste» arbeiteten. Es war die Zeit, in der Diktator Francisco Franco aus wirtschaftlichem Kalkül Clubs, Drogen und erste Oben-ohne-Bilder an der Costa del Sol tolerierte. Als das rauschhafte Aufeinandertreffen fremder Menschen ihren Charme auszumachen schien.

Mittlerweile verbringt Hamid wieder viel Zeit mit der Familie in Marokko. Mein Vater hat die Straße, in der er lange gewohnt hat, verlassen. Die Mieten steigen – und Freundschaften kommen in die Jahre. Allein der Tresen hält ihn noch in Verbindung zur Nachbarschaft. Im Café ist er der Gastgeber, derjenige, zu dem die Leute kommen, um zu plaudern, um sich zugehörig zu fühlen. Selbst wenn die Vorzeichen für das, was in der Nachbarschaft als fremd oder vertraut gilt, sich wieder mal geändert haben.

Der Biologe und Geograf Jared Diamond bereist seit Jahrzehnten Papua-Neuguinea. 2006 schrieb er beeindruckt von einer Szene, die er am Flughafen von Port Moresby beobachtete. 75 Jahre zuvor hatten «erste» Kontakte zwischen australischen Forschungsreisenden und Menschen aus dem Hochland stattgefunden, die damals weitgehend ohne Schrift, Metall, Geld und Schulen lebten. In der Abflughalle von Port Moresby traf Diamond zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf ihre Enkel. Sie trugen westliche Kleidung, Computertaschen, Armbanduhren, besaßen Mobiltelefone und Kreditkarten. Sie passierten mit Büchern unterm Arm das funktionierende Flughafensicherheitssystem und kämpften, wie Menschen in Industrienationen, mit Übergewicht. Das neuguineische Flugpersonal bewegte sich so selbstverständlich durchs Terminal wie die Kolleg:innen aus Paris und Mailand.

Diamonds Reaktion auf diese Szene ist interessant. Natürlich weiß er als Anthropologe um die Details des gesellschaftlichen Wandels im Land. Doch was ihn zu beschäftigen scheint, ist das Tempo: Innerhalb von drei Generationen hat sich der Lebensstil vieler neuguineischer Menschen vom frühzeitlichen zum postindustriellen verändert. Damit haben manche Bewohner:innen einen Sprung hingelegt, der «in großen Teilen der übrigen Welt Jahrtausende in Anspruch nahm».

Der Vergleich zwischen traditionellen Gemeinschaften und Industrienationen hinkt eigentlich immer. Doch ich lese aus Diamonds «Gegenüberstellung» auch leise Kritik an globalen Machtverhältnissenn heraus. Menschen in Papua-Neuguinea mussten sich die neue Lebensform in kürzester Zeit erschließen und schafften es, wie Diamond ausführt, sogar stellenweise, dem Druck westlicher Dominanz zu widerstehen. Europäische Gesellschaften sonnten sich derweil in vermeintlicher Überlegenheit, und das Resultat imperialer Selbstverständlichkeit ist bis heute ein skeptischer Umgang mit dem «außereuropäischen Anderen». Eine Skepsis gegenüber migrantischem und migrantisiertem Leben, die sich bis in spanische und deutsche Nachbarschaften drängt. Doch heute stößt sie auf eine superdiverse Gegenwart, mit der sie es erst einmal aufnehmen muss.

In den 1980er und -90er Jahren war Homogenität in meinem Hamburger Umfeld eine Selbstverständlichkeit. Die meisten Bewohner:innen waren weiß, in ihren Genderidentitäten unauffällig, ihr Leben entsprach gewissen Normen – und wenn es anders war, verhielten sie sich ruhig. ...

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