TEXT + KRITIK 237 - Juli Zeh

TEXT + KRITIK 237 - Juli Zeh

von: Heinz-Peter Preußer

edition text + kritik, 2023

ISBN: 9783967077933

Sprache: Deutsch

109 Seiten, Download: 4198 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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TEXT + KRITIK 237 - Juli Zeh



Juli Zeh

Anfänge nicht veröffentlichter und unvollendeter Romane


Zu meiner Schreibpraxis gehört es, viele Texte zu schreiben, die ich irgendwann aufgebe, vor allem Romane. Manchmal sind es nur Anfänge von zwanzig oder fünfzig Seiten; manchmal sind sie zur Hälfte oder zu zwei Dritteln erzählt; und es gibt auch Fälle, in denen der Text eigentlich schon fertig ist, ich mich aber trotzdem dagegen entscheide, ein Buch daraus zu machen. Je länger der letzte Arbeitstag an einem bestimmten Text zurückliegt, desto unwahrscheinlicher wird es, dass ich ihn noch fortentwickele. Das ist das »Survival of the Fittest« in meinem kreativen Prozess. Unten vier Beispiele von Romanen, die es nicht geschafft haben. Die Datierungen sind sehr unpräzise, da es immer um lange Arbeitsphasen geht und ich mich meistens nicht genau erinnern kann, wann ich ein Projekt begonnen und dann wieder fallen gelassen habe.

»Die guten Jäger«, unvollendet, momentan ca. 250 Seiten (um 2017/18)

Alle Häuser im Viertel sind erleuchtet. Wenn nicht die großen Erkerfenster im Erdgeschoss, mit Blick auf Esstische, Kronleuchter und Bücherregale, dann jedenfalls ein paar kleinere im ersten Stock, hinter denen Menschen Zähne putzen, Augenbrauen zupfen oder im Bett sitzen und noch etwas lesen, bevor sie das Licht ausknipsen und sich hinlegen für die Nacht.

In den Vorgärten ist das Gras gemäht, ordentlich, aber auch nicht zu akkurat, mit einer kleinen Verbeugung in Richtung Natur wie bei einem gepflegten Fünf-Tage-Bart. Es gibt mehr Obstbäume als Zierbüsche, aber nicht Apfel, das wäre zu rustikal. Kirsche und Quitte stehen hoch im Kurs, und ich kann mir vorstellen, wie sie sich hier alle ihre selbstgemachten Gelees über die Zäune reichen. Es ist Ende April, die Bäume präsentieren stolz ihr hellgrünes Gewand. An den Kastanien hängen dicke, klebrige Knospen. Während ich an den Zäunen entlanggehe, wehen mich schwere Düfte an, als hätten die Häuser ihre Abendgarderobe mit einem satten Spritzer Parfüm ergänzt. Ansonsten riecht es nach dem Regen, der seit Wochen ständig fällt. Nach feuchtem Asphalt und nach Studienabschlüssen.

Im Vergleich zur Größe der Häuser sind die Gärten klein. Die Häuser stehen alle einzeln, es gibt keine DHHs, wie die Makler sagen. Aber die Makler sagen ohnehin nicht viel über dieses Viertel, außer, dass es unmöglich ist, hier etwas zu kriegen, es sei denn, man ist bereit, einen Mord zu verüben. Ich gehe langsam, das Viertel ist nicht groß. Ich schreite jede einzelne Straße ab. Ich fange an, die Menschen zu kennen. Familienväter mit grau melierten Schläfen, die die Küche aufräumen. Den Literaturkreis in der großen Gründerzeitvilla, der jeden Mittwochabend mit Weingläsern in Händen auf Korbmöbeln zusammensitzt, während einer aus einem Buch vorliest. Eine alte Frau, die vor einem Regal steht und nachdenklich etwas mustert, das ich nicht erkennen kann. Eine junge, die ein Baby durchs Wohnzimmer trägt, während sich ihre Lippen bewegen, vielleicht singt sie etwas. Eine Katze, die immer auf derselben Fensterbank zwischen zwei Kerzenleuchtern schläft. Ein Mann, der im ersten Stock an einem kleinen Fenster sitzt, eine Lupe wie ein Monokel ins Auge geklemmt; ich wüsste gern, woran er bastelt: Modellschiffe, Uhren, gefälschte Geldscheine oder ein Reichstagspuzzle aus 10 000 Teilen? Niemand hat Gardinen, Gardinen sind spießig, ich mag auch keine, und nicht nur deshalb, weil ich jetzt die bin, die draußen steht. Die Vorhänge dienen Dekorationszwecken, sie sind immer offen, nichts behindert die Sicht, außer fehlender Körpergröße. Ich muss alles sehen. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen, manchmal hüpfe ich, im Notfall klettere ich auch mal auf eine niedrige Gartenmauer. Nur in wenigen Häusern läuft ein Fernseher. Das ist kein TV-Viertel hier. Es ist ein Viertel der Bücher, Gespräche und Klavierstunden. Alle Räume, in die ich schaue, sind ordentlich, auch dann, wenn erkennbar kleine Kinder in den Häusern leben. Das ist eine Ausstellung, ein Museum menschlicher Perfektion. Hier leben Leute, die das Richtige wählen, das Richtige essen, die ihre Kinder richtig erziehen, Menschen mit interessanten Jobs und guten Freunden und ungewöhnlichen Urlaubszielen. Menschen mit zwei Autos, Menschen, die Schallplatten kaufen, die eine Dauerkarte fürs Schwimmbad besitzen oder ein hochmodernes Fahrrad oder wenigstens ein Paar teurer Joggingschuhe. Keine Aquarien, keine Wellensittiche. Dafür überall Katzen. Die Katze ist die Gallionsfigur des Dichterviertels. Trotz aller Gemeinsamkeiten ist jedes Exponat ein Unikum, jedes Haus anders als sein Nachbar, kleiner, größer, mehr Villa oder Würfel, jedes auf seine individuelle Weise perfekt. Das hat Gott gemeint, als er von der Krone der Schöpfung sprach.

Ich schlafe seit drei Wochen bei meiner Schwester Melanie auf der Couch und manchmal in einer kleinen Pension in Bahnhofsnähe, wenn mein Schwager Thomas wieder einmal ausgerastet ist, was ich ihm nicht verdenken kann. Meine Kinder kann ich nicht sehen, es sei denn, ich stelle mich in der großen Pause an den Zaun. Im Labor habe ich mich für sechs Wochen suspendieren lassen, es ging nicht mehr, meine Hände zitterten und warfen die Präparate von den Objektträgern. Meine Mutter ruft häufiger an als sonst, um sich an meiner Niederlage zu erfreuen. Meine Schwester behandelt mich, als ob jemand gestorben wäre, und vielleicht ist auch jemand gestorben, nämlich ich. Abends gehe ich möglichst lange spazieren, um Melanie und Thomas ein wenig Beinfreiheit zu gönnen, oder um dem engen Käfig meines Pensionszimmers zu entgehen, je nachdem, wo meine Tasche gerade steht. Ich gehe ins Dichterviertel. Ich laufe sämtliche Straßen ab. Ich habe entschieden, dass ich hier leben werde. Dass ich ein Mensch werde, der hier lebt. So wie die anderen. Ich habe ein Recht darauf. Ich bin mit einem Architekten verheiratet, der gut verdient. Ich habe zwei Söhne, für die ich alles tue. Ich habe mein Leben lang alles richtig gemacht und ich habe keine Ahnung, wofür man mich jetzt bestraft. Die 5-Zimmer-Altbauwohnung, in der Kujo jetzt mit unseren Kindern zusammenlebt, nachdem er mich ausradiert hat, als wäre ich schon immer ein Fehler im Gesamtbild gewesen, diese Wohnung mit alten Dielen und Stuck hat einen Balkon, auf dem selbstgezogene Tomaten stehen. Es ist Kujos Wohnung, aber es sind meine Tomaten. Sie sind eine Eintrittskarte ins Dichterviertel; ich brauche nur noch ein Haus für John, Simon, die Tomaten und mich, denn wir sind nicht schlechter als die Leute hier, wir können genauso gut sein, das verspreche ich dem Viertel, das ich im Dunkeln durchstreune, denn nichts anderes habe ich mein Leben lang gewollt. […]

»Packhof«, vollendet, aber unveröffentlicht, ca. 550 Seiten (um 2018–2020)

1 Ella

Die Sonne schien, und alle waren da. Die großflächige Wiese des Packhofs war gesprenkelt von kleinen Grüppchen: Jugendlichen, die miteinander plauderten, Hundespaziergängern, Müttern, die das schöne Wetter für ein Nachmittagspicknick mit ihren Kindern nutzten, oder Leuten, die einfach im Gras lagen und in den Himmel schauten oder ein Buch lasen. Bislang war der Sommer ziemlich mies gewesen. Jeder, der konnte, nutzte die Gelegenheit, um ein paar Stunden unter freiem Himmel zu verbringen.

Direkt am Havel-Ufer hatten die Schüler vom Dom-Gymnasium ihren Stammplatz. Ella lag zwischen Josie und Claudia. Alle drei trugen kurze Hosen und hatten sich so ausgestreckt, dass Gesichter und Arme von den Zweigen eines Ahornbaums beschattet wurden, während die Beine ordentlich Sonne abbekamen.

»Nervt schon, dass die jetzt hier rumhängen.«

»Ich versteh auch nicht, was die hier wollen. Die waren doch sonst immer bei den Rampen.«

In zwanzig Metern Entfernung hatte sich eine Gruppe »Gettokinder« niedergelassen. Das waren Leute aus der Plattenbausiedlung, die auf die »Nord« gingen und sich normalerweise am Rand einer Betonfläche trafen, die mit Halfpipes und Ramps für die BMX-ler bebaut war. Ab und zu ließen sie sich am Packhof sehen, wo sie wie Fremdkörper wirkten.

»Der Zigarettenqualm zieht hier rüber.«

»Sollen wir was sagen?«

»Bringt doch nichts.«

Josie setzte sich auf und wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum. Die Gettokinder schenkten ihr keine Beachtung. Dabei sah Josie heute besonders gut aus, ihre langen roten Haare leuchteten in der Sonne, und das grüne, ärmellose Top passte perfekt zu ihrer schlanken Figur.

»Wenigstens haben sie keine Musik dabei.«

Sie hatten Musik dabei. Es dauerte nicht lange, bis eine Boombox aus irgendeinem Rucksack zutage gefördert wurde, und bald tönten die ersten Hip-Hop-Klänge herüber, Sido oder Bushido, Ella kannte sich nicht wirklich aus. Eine Mutter mit Kleinkind packte ihre Picknickdecke zusammen und zog an einen ruhigeren Platz um.

»Der Typ da ist doch schon zwanzig.«

Der Typ, den Josie meinte, war nicht besonders groß, aber drahtig; er sah aus wie einer, der bei Bedarf ungeheure Kraft entfalten konnte. Sein Kopf war kahlgeschoren, Arme, Rücken und Unterschenkel von unzähligen Tätowierungen bedeckt. An seiner Seite lag ein American Staffordshire Terrier, dessen Leine er sich um den Fußknöchel geschlungen hatte. Obwohl Ella Tiere, ganz besonders Hunde, über alles liebte, musste sie zugeben, dass dieses Exemplar gefährlich aussah. Die Augen wirkten viel zu klein im breiten Schädel, beim Hecheln bewegte sich die Zunge träge zwischen den kräftigen Eckzähnen, und irgendwie schien das...

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