Lüste und Leichen

Lüste und Leichen

von: Svend Åge Madsen, Barbara Kalender

MÄRZ Verlag, 2023

ISBN: 9783755050209

Sprache: Deutsch

165 Seiten, Download: 1367 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Lüste und Leichen



Die Sonnen scheinen auf B. R., als er aus der Tür tritt, und veranlassen ihn, nach ihnen hochzublicken, erst nach der einen, die offenbar nicht die Absicht hat, sich zu verbergen, dann nach der anderen, die mit der ersten um die Wette scheint, darauf lässt B. R. seine Blicke von den Sonnen zum Nachbarhaus gleiten, welches sich nicht sonderlich verändert hat, seit er es zuletzt sah, und vom Nachbarhaus die Straße hinauf, sodass der Blick über verschiedene Hindernisse fast den Platz erreicht, während B. R. mit einer nur durch langjähriges Training erreichbaren Selbstverständlichkeit seine Tür abschließt, indem die eine Hand sich zum Schlüsselloch vortastet, die andere den Schlüssel hineinsteckt, ohne dass er dem besondere Aufmerksamkeit schenken muss. Worauf B. R. die Straße überquert, weil ihn die Sonnen dort leichter erreichen können, auf der Höhe von Chabis Haus abbiegt und die schwach abfallende Straße hinaufgeht, parallel, wenn auch in einigem Abstand von der einen Häuserreihe. Sodass Haus an Haus an ihm vorbei nach hinten abgeht, während er sich dem Marktplatz nähert, überzeugt, dass alles wie normal vor sich gehen wird, oder ziemlich normal, mit den geringfügigen Abweichungen, die unausbleiblich von Mal zu Mal eintreffen, ohne dass sie jedoch zu einer Abweichung im eigentlichen Sinne führen, überzeugt, dass alles normal vor sich gehen wird, ohne die geringste Ahnung, was ihm heute bevorsteht. Weshalb B. R., als er den Platz erreicht hat, ihn gelassen wie gewöhnlich überquert, in Richtung dessen grünen Teils, in Richtung des großen Baums, an dem der zerrissene Papierfetzen schlaff herabhängt, ohne dass der Wind stark genug wäre, ihn in Bewegung zu versetzen, in Richtung der leeren Bank, deren eines Ende von den Sonnen beschienen wird, während das andere sich in dem tiefen Schatten befindet, den der große Baumstamm wirft, ohne dass B. R. jedoch die Einladung der Bank annimmt, sondern sich in dem dunkelsten Schatten anbringt, den der große Baum wirft, den Rücken dessen Stamm zugewandt, all dies, während er sein Taschenmesser aus seiner Jackentasche genommen hat, und damit beschäftigt ist, es zu öffnen, die Nägel der einen Hand in der Klingenrille vergraben, und seine Augen über den Platz wandern, wo sie an einem Ende an der Melonenfrau vorübergehen, die unermüdlich an ihrem Stand steht, und an ihrem Kunden, und wieder zurück über das holprige Pflaster des Platzes, bis sie vor seinen Füßen innehalten, und er will sich gerade bücken, das Messer, das jetzt offen ist, in der Hand, als er die schon begonnene Bewegung plötzlich abbremst, vielleicht hat er doch eine Ahnung von etwas Ungewöhnlichem, vielleicht sah er auch, als er vorher den Platz überquerte, ohne genauer darauf zu achten, einen Schimmer von etwas Weißem unter der Bank, das dort nichts zu suchen hat, sodass diese Ahnung oder vielleicht auch jener flüchtige Schimmer ihm jetzt erst richtig zu Bewusstsein gekommen ist, darum wird die schon begonnene Bewegung abgebremst, und er bleibt stehen, auch das in dieser Situation befremdlich unnütze Messer in der Hand, bleibt einen Augenblick stehen, bevor er sich zur Lostbank unter dem zerfetzten Plakat hindreht und einen Schritt nähertritt, und sich darauf herabbückt, und sofort eines Armes ansichtig wird, der unter dieser ungewöhnlichen Stelle hervorschaut. Und überrascht bemerkt, als er die fremde Hand in die Hand nimmt, um den dazugehörigen Menschen aus dessen Versteck zu ziehen, dass die Hand sich kalt und starr anfühlt, und vor Verblüffung über diese unerwartete Wahrnehmung loslässt, sich dann aber noch entschließt, sie zu ergreifen, und mit beiden Händen den Körper von etwas losreißt, was Widerstand leistet, und den schweren, unhandlichen Körper heraushievt in sein Tageslicht, nur dadurch, dass er an der Hand zieht, die sich zuerst darbot. Und während er gleichzeitig feststellt, dass der Körper, der nun verkrümmt daliegt, dass der Körper ein Mann gewesen war, den er kannte, und sich gleichzeitig nach einer Fortsetzung dieses Geschehens umblickt, weil er sich in einem Handlungsvakuum befindet, in dem nichts weiter geschehen will und nur von Weitem der Frau am Stand ansichtig wird, deren Aufmerksamkeit nicht dieser Richtung zugewandt ist, und auf seine Hände schaut, die noch immer, nutzlos, den leblosen Arm umklammern, der mit einem unnatürlichen Laut herunterfällt, als seine Hände loslassen, weil er sich entschließt, die wenigen Schritte bis zum nächsten Haus zu gehen, in dem Finder wohnt, um ihn hinzuziehen, damit sie gemeinsam einen Beschluss fassen können, überzeugt, dass der Körper in ein paar Sekunden, die jene Handlung beanspruchen wird, nicht den Platz verlassen wird und auch nicht irgendwie rascher wiederbelebt werden kann, wenn er überhaupt noch wiederbelebt werden kann, denn ihm fällt im Augenblick keine brauchbare Behandlungsmethode ein, weshalb er mit der einen Hand an Finders Tür hämmert, und mit der anderen ausdauernd auf die Klingel drückt.

Hanne Schäfer hat eine gute Erziehung genossen, etwas streng, aber immer gerecht. Regelmäßigkeit war dabei eines der Grundprinzipien. Deshalb will sie in diesem Augenblick spazieren gehen, so wie sie es sich zur Gewohnheit gemacht hat. Sie hat sich zurechtgemacht und das Haus ein bisschen in Ordnung gebracht. Es ist nicht nett, etwas zu verlassen, wenn man keine Lust hat, wieder dahin zurückzukehren. Sie schaut sich noch einmal um und überzeugt sich, dass sie ihr Haus mit gutem Gewissen verlassen kann. Das Haus ist nicht groß, aber gut eingerichtet, und daher für Hannes Bedürfnisse ausreichend. Es hat ein gemütliches Wohnzimmer, das einen warmen und anheimelnden Eindruck macht, sobald man es betritt. Die Küche ist ein bisschen eng, aber doch groß genug für die einfachen Mahlzeiten, die sie sich selbst zubereitet. Es muss zugegeben werden, dass das Schlafzimmer auch nicht besonders geräumig ist, aber für die paar Handlungen, die man in diesem Raum ausführt, reicht es dennoch völlig aus. Sie hat darin Platz sowohl für ihr Bett als auch für einen Kleiderschrank, sowie für einen kleinen Toilettentisch in einer Ecke, so praktisch angebracht, dass sie sich genau vor dessen Spiegel befindet, wenn sie am Fußende des Bettes sitzt.

Es wird offenbar warm. Schon jetzt kann sie bequem mit dem dünnen Mantel auskommen, den sie über dem warmen Kleid trägt, das sie kürzlich selbst genäht hat. Bei jedem Schritt, den sie macht, spürt sie, dass ihre Schenkel aneinanderreiben, nur durch die dünnen Strümpfe voneinander getrennt, weil sie diesmal ausnahmsweise keine wollenen Unterhosen unter dem Kleid anzog. Ihr Weg mündet geradewegs in den großen Platz. Als sie ihn erreicht, sieht sie, dass er fast völlig leer ist. Zu ihrer Rechten errichtet die Melonenfrau ihren Stand für den bevorstehenden Verkauf. Drüben, am anderen Ende, sieht sie, dass Finder vergessen hat, seine Haustür zu schließen.

Als ihr Weg sie jedoch näher an den großen Baum führt, entdeckt sie, dass ihre Annahme, jener Teil des Platzes sei völlig leer, falsch war, denn auf der Lostbank liegt ein Mann und schläft.

Sie macht noch ein paar Schritte, bleibt dann aber stehen, aus Furcht, sie könne sich wieder getäuscht haben, als sie annahm, der Mann schlafe, denn seine Lage ist für einen Schläfer recht ungewöhnlich.

Deshalb wendet sie sich ein wenig nach links und strebt nun direkt auf den Mann vor der Bank zu. Ihr fällt auf, dass dies außerdem eine recht merkwürdige Stelle ist, um sich schlafen zu legen.

Als sie sich erneut umblickt, wird ihr klar, dass Finder offensichtlich nicht vergessen hat, seine Haustür zu schließen, sondern sie geöffnet hat, um durch sie hinauszugehen, denn gerade in diesem Augenblick kommt er mit großer Geschwindigkeit die Treppe herunter. Und hinter ihm B. R., der es anscheinend ebenfalls sehr eilig hat.

Sie sieht, dass die beiden Männer auf den Schläfer zustreben, genau wie sie selbst es tut. Ein paar Schritte, bevor sie den Körper erreicht, bleibt sie stehen und sieht, dass dies Tolb ist, der da auf der Erde liegt, und dass er nicht schläft, denn sein Hemd ist von etwas gefärbt, was nur Blut sein kann.

Finder hat seinen Krug genommen und ist dabei, seine Treppe herunterzukommen.

Er macht sich Mut, damit ihn der Anblick, dem er entgegengeht, nicht erschrecken wird.

Das, was er zuerst zur Ansicht auswählt, kann niemanden erschrecken. Kurz vor der Lostbank trippelt und starrt Hanne Schäfer mit den Augen und auf die Beine.

Hinter Finder kommt B. R. laut und vernehmlich die Treppe herunter, außer Atem.

Finders Haus ist an diesem Tag praktisch am Platz angebracht, dergestalt, dass sich nur ein paar Schritte zwischen ihm und der Bank befinden.

Als sie die Bank erreichen, liegt ein Mann davor. Der Mann ist Tolb, der genau am anderen Ende des Platzes wohnte, solange er lebte. Denn er hat sich vor die Bank gelegt, weil...

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