Willy Brandt - Sozialist, Kanzler, Patriot

Willy Brandt - Sozialist, Kanzler, Patriot

von: Gunter Hofmann

Verlag C.H.Beck, 2023

ISBN: 9783406798764

Sprache: Deutsch

517 Seiten, Download: 2127 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Willy Brandt - Sozialist, Kanzler, Patriot



Vorwort


Als dieses Buch begonnen wurde, war an einen Einfall russischer Truppen in die Ukraine und einen imperialistischen Krieg zur Rückeroberung des Besitzstandes aus sowjetischen Zeiten nicht zu denken. Die Zeit schien gekommen, die Ostpolitik der 70er Jahre zu historisieren. Uneingeschränkt galt das auch für den Mann, der sie angestoßen und Mehrheiten für sie erstritten hatte. Jahrzehntelang schieden sich die Geister an Willy Brandt. Es ist nicht übertrieben zu sagen, sein Bild als «anderer Deutscher» hatte sich seit dem Kniefall in Warschau 1970 weltweit eingraviert. Es wirkte nach. Heimlich revisionistische Absichten werden der Republik in der Regel nicht mehr unterstellt, wenn doch, wie in Warschau, dann eher zu innenpolitischen Zwecken – und es verhallt.

Was genau Brandts Vermächtnis ist, steht unvermittelt neu zur Debatte, manche Kritik geht so weit, diese Politik für den Anfang jener «naiven» Annäherung an die (damalige) Sowjetunion zu erklären, die Wladimir Putin zu seinem Feldzug geradezu ermunterte. Schon bei der Ostpolitik handelte es sich demzufolge um Appeasement.

Wie die Einwände von heute denen von damals zu Anfang der siebziger Jahre gleichen, voller Empörung über fehlenden Kampfgeist und Feigheit, über die pazifistische Nachkriegsmentalität. In der FAZ wurde Jürgen Habermas als intellektueller Wortführer ausgemacht, der die Bundesrepublik mit historisch-moralischen Argumenten seit jeher auf die falschen Gleise schob, im Konflikt um die «Nachrüstung» habe endgültig Willy Brandt mit seinen entspannungspolitischen Illusionen gegen den Realisten Helmut Schmidt obsiegt.[1] Als «Reise zum Mars» beschrieb der Spiegel, der einst zu den vehementen Befürwortern von Brandts Ostpolitik zählte, die Geschichte der Bundesrepublik. Seit dem Machtwechsel im September 1969 und dem Beginn der Entspannungspolitik träumten die Deutschen von ewigen Friedenszeiten, was sich bis heute perpetuiere, Willy Brandt sei dabei der «romantische Held dieser postheroischen Zeit» geworden.[2]

Es geht hier nicht darum, die deutsche Russlandpolitik seit 1970 nachzuverfolgen. Vielmehr soll reflektiert werden, was Willy Brandt anleitete während seiner Kanzlerschaft und danach, aber auch, was er als seine Erbschaft betrachtet und verteidigt haben würde.

Schon in der erbitterten Debatte Anfang der siebziger Jahre wurden die Ostverträge mit «Rapallo» verglichen, dem Vertrag von 1922 zwischen der Weimarer Republik und Sowjetrussland, oder auch mit dem Münchner Abkommen 1938, Chamberlains Entschluss, Hitler im Konflikt um die Tschechoslowakei entgegenzukommen, um einen großen Krieg doch noch zu verhindern. Heute klingt es ähnlich, die Geister scheiden sich wieder an Brandt. Die Frage, was würde Brandt dazu sagen, klingt dreißig Jahre nach seinem Tod merkwürdig aktuell. Was hätte er zu dem Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 gesagt? Was dazu, dass Amerika, das ihm so viel bedeutete, den demokratieunverträglichen Donald Trump zum Präsidenten erwählte? Würde er heute noch festhalten an dem Traum seiner Jugend, den Vereinigten Staaten von Europa, wovon er erstmals schon 1940 sprach? Wie soll man verfahren mit den Nationalkonservativen Polens, wenn sie Brüssel als «neues Moskau» anprangern, wie mit den Apologeten einer «illiberalen Demokratie» in Budapest?

Die Antworten auf solche Fragen können sehr unterschiedlich ausfallen, je nachdem, wer welchen Brandt vor Augen hat. Hier geht es, zugegeben, um «meinen Brandt». Wie ich ihn erlebt habe als Journalist und wie er sich aus heutiger Sicht ausnimmt. Aus meiner Sicht jedenfalls gehörte er nach der Rückkehr aus dem Exil in Norwegen sehr rasch zu den Stimmen, die man heraushörte in der jungen Republik, einer Halbnation, die ihre Identität noch suchte. Eine solche Stimme mit Autorität ist er unbestreitbar geblieben. Wie immer man ihn sieht, die Antworten, die er suchte und gab, die Autorität, die er gewann, leiteten sich ab aus seinem Leben, dessentwegen er aber auch oft mit Ressentiments verfolgt wurde. Um diese Spur geht es mir insbesondere.

Quelle dieses Buches ist vor allem Willy Brandt, also was er über sich sagte und was er notierte. Quelle ist aber auch, was über ihn gesagt, gedacht, geschrieben worden ist und welches Bild Zeitgenossen wie Günter Grass, Heinrich Böll oder Alexander Mitscherlich von ihm zeichneten. Er spiegelte sich in uns, wir in ihm. Jeder hatte seinen Brandt vor Augen. Unbeteiligt ließ er nicht. Dem ganzen Brandt suchte Andy Warhol auf seine Weise gerecht zu werden, als er 1976 in Bonn mit der Polaroidkamera 26 Fotos von dem Ex-Kanzler machte, die er in Siebdrucke umwandelte. Jedes der Multiples (84 × 59), mit Zigarettenspitze, präsentierte zugleich einen jeweils anderen Brandt. Warhol hob den deutschen Politiker, mit dem sich «mehr Demokratie wagen», der «Kniefall» und (im Ausland) auch das Wort vom «anderen Deutschen» verband, damit für alle Zeiten in den Pop-Himmel, auf eine Ebene mit Mao Tse-tung oder Marilyn Monroe.

Mit seiner Polaroid-Kamera schafft Andy Warhol 1976, zwei Jahre nach dem Rücktritt des Kanzlers, die fotografische Vorlage für 26 Multiples, Siebdrucke, mit denen er den weltweit geschätzten Brandt wie Marilyn Monroe oder Mao Tse-tung in den Pop-Himmel erhebt.

So defensiv und zurückhaltend er auch auf Ressentiments und Diffamierungen wegen seiner Lebensgeschichte reagierte, mir scheint, man muss seine zahlreichen Bücher (oder auch Reden und Essays) als Antwort verstehen, insgeheim setzte er sich damit zur Wehr. Ihn quälte selbst die Frage, warum er es sich so schwergemacht habe, wenn ihm Ressentiments wegen seiner Herkunft und seiner zwölf Jahre in Norwegen und Schweden entgegenschlugen. Anhören musste er sich, dass ein Vaterlandsloser, der Norwegen als neue Heimat empfand, kein wahrer Patriot sein sollte. Emigranten galten als «Deserteure». «Verrat» oder «Verzicht», das blieb die Grundmelodie der Gegner über weite Strecken seines Lebens seit der Rückkehr aus Oslo 1946, dagegen musste er sich verteidigen und behaupten, obwohl er sich lieber bedeckt gehalten hätte. Zur Ausnahmefigur machte ihn allein schon dieser Lebenslauf, wie ich meine, aus dem sich die Ostpolitik gleichsam zwangsläufig ergab. Nach seiner Lesart setzte die Ostpolitik nur die Kontinuität der Westpolitik fort. Mir scheint, dass es sich auf paradoxe Weise dennoch um eine radikale Zäsur handelte, die Republik definierte sich neu. Auch um diese Spur geht es.

Im Jahr 1974 übernahm der Kanzler die Verantwortung, nachdem Kanzleramtsmitarbeiter Günter Guillaume als DDR-Agent enttarnt worden war, er trat zurück. In späteren Jahren machte Brandt Herbert Wehner dafür verantwortlich, gegen ihn intrigiert und seinen Rücktritt betrieben zu haben. Auch diese Spur verfolgt das Buch, Wehner war der andere «andere Deutsche». Brandt schien an ihn gefesselt zu sein und wollte sich emanzipieren, sie scheiterten aneinander. Helmut Schmidt, mit dem ihn ein kompliziertes Verhältnis verband, folgte ihm nach als Regierungschef. Brandt behielt den Vorsitz seiner Partei. Schmidt hatte sich als Soldat zur Wehrmacht gemeldet und am Krieg teilgenommen, einer von neunzehn Millionen, er verkörperte die Mehrheitsdeutschen. Wenigstens mit ihm musste das Bündnis gelingen, daran orientierte sich Brandt an der Spitze der SPD, also die Versöhnung von Mehrheits- und Minderheitsdeutschen wie ihm. Der Streit um die Nachrüstung wurde zur großen Zerreißprobe, aber beide verhinderten einen endgültigen Bruch. 1982 löste der Christdemokrat Helmut Kohl den Sozialdemokraten Helmut Schmidt im Kanzleramt ab. Links und frei betitelte Brandt die Erinnerungen an seine Jugendjahre, in denen er nun endlich ausführlich erwiderte auf die Vorwürfe, links und frei fühlte er sich jetzt auch. Ein radikales Moment bewahrte er sich, seinen Respekt vor Rosa Luxemburg verbarg er nicht. Seine Reputation, weltweit, schmälerte das alles nicht, ganz im Gegenteil.

So beseelt er vom Mauerfall 1989 war, unterstellt wurde ihm, er habe die Einheit nicht gewollt. Aber die Sache war komplizierter. Erwartet hat er ein Ende der Spaltung noch im Sommer 1989 wohl nicht, obgleich ihn die unruhigen jungen Leute in der DDR, in Warschau oder in Prag elektrisierten. Aber das heißt nicht, er habe es nicht gewünscht.

In wenigen Zeilen seines Buches Andenken komprimierte Lars Brandt den Werdegang des Vaters, den er schlicht «V» nennt, folgendermaßen: «Um sich vor den Nazis in Sicherheit zu bringen, die eben an die Macht gekommen waren, floh Herbert, neunzehnjährig, nach Norwegen. Machte sich mit der Zeit als Willy Brandt ...

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