Kriegsfibel 2023

Kriegsfibel 2023

von: Alexander Kluge

Suhrkamp, 2023

ISBN: 9783518776759

Sprache: Deutsch

126 Seiten, Download: 19346 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Kriegsfibel 2023



Meine Mutter Alice, geboren 1908.

Wir Schüler hatten im Dezember 1944 keine Ahnung von der Gefahr, in der wir schwebten


In welcher Gefahr wir Schüler des Dom-Gymnasiums Halberstadt im Dezember 1944 uns tatsächlich befanden, hatten wir nicht im Kopf. In den Pausen spielten wir »Jagdflieger«. Wir rannten als »Spitfires« und »Hurricanes« – das waren britische Flugzeugtypen aus der Anfangsphase des Krieges – die abschüssige Straße vor der Oberrealschule Westendorf, dem Ausweichgebäude unseres Gymnasiums, hinunter. Zurückgekehrt in die Schulräume, zerlegten wir Sätze aus Caesars Gallischem Krieg in ihre grammatischen Einzelteile. So wie wir hier arbeiteten und eine Viertelstunde zuvor noch rannten, waren wir nicht »kriegerisch«.

Das Wort »Gefahr« unterscheidet sich von den Worten »Unfall«, »Umkommen« durch den Grad an Wahrscheinlichkeit, mit dem das bezeichnete Geschehen eintritt. Eine »Gefahrenzone« ist nicht dadurch zu bestimmen, dass etwas geschieht, sondern dadurch, dass etwas darin droht. In den Dezembertagen voller »Schnee als Matsch«, der Farbe nach »herzgrau«, hatten wir nichts im Kopf als unser tägliches Tun als Schüler.

In jenen Tagen des Winters 1945 durchbrachen deutsche Panzerverbände die dünnen amerikanischen Linien in den Ardennen. Wie ich später erfuhr, sollte dieser letzte Vorstoß einer »zusammengefassten, motorisierten Truppenmasse« die Maas überschreiten und auf Antwerpen vorstoßen. Der Nachschub der Westalliierten sollte unterbrochen werden. Die dafür verwendeten Straßenkarten für die Truppe, die gesamte Logistik, stützten sich auf Unterlagen noch aus der Zeit des Blitzkrieges von 1940. Zum Zeitpunkt des Angriffs hingen die Wolken tief über den Tälern der Ardennen, und hätte dieses Wetter sich über die Weihnachtstage hinweg nicht aufgehellt, hätten die amerikanischen Luftstreitkräfte das Gelingen des Vorstoßes eventuell nicht verhindern können. IN SOLCHEM FALL HÄTTE DER KRIEG IN EUROPA SICH UM BIS ZU EINEM DREIVIERTELJAHR VERLÄNGERN KÖNNEN. Die Gefahr, von der wir Schüler nichts wussten, bestand darin, dass die im Sommer 1945 einsatzbereite Atombombe dann nicht in Ostasien, sondern in der Mitte des Deutschen Reiches zur Zündung gebracht worden wäre. Die Archive des Pentagon besagen, dass, wäre im August 1945 der Krieg in Mitteleuropa nicht beendet gewesen, die Planung vorsah, die Atombombe auf Ludwigshafen zu werfen. Alternatives Ziel: Lüneburger Heide. Göttinger Mathematiker, an der Entwicklung der Bombe beteiligt, hielten das – auch um US-Truppen zu schonen – für einen geeigneten Platz.

Bis zum Scheitern der Ardennenoffensive, also etwa zehn Tage lang, hätte »UNSER SCHICKSAL« diese Richtung nehmen und zum Einschlag der mörderischen Wunderwaffe führen können. Entscheidet sich im Krieg eine Großmacht für eine bestimmte Planung, ist diese schwer wieder rückgängig zu machen. Schon mit der Planung ist der Zeitpfeil nicht mehr umzukehren, nicht erst bei Abwurf des tödlichen Materials.

Solche Gefahr – obwohl kurze Zeit im Knäuel der Kausalitäten objektiv vorhanden – lag ganz außerhalb unserer Einbildungskraft als Schüler.

Praktische Erfahrung beim Spielen mit Zinnsoldaten


Ein beliebtes Verfahren bei Schlachten mit Zinnsoldaten ist die SCHUSSUMKEHR bei Artilleriebeschuss. Solche Umkehr der bereits abgefeuerten Munition überrascht den mitspielenden Gegner und verwirrt ihn, im konkreten Fall meinen Mitschüler Alfred Müller, der später zum Kieferchirurgen an der Charité in Berlin aufstieg. Rasch entscheidbar ist eine Zinnsoldatenschlacht am ehesten durch eine Wunderwaffe. Indessen spielten wir mit Zinnsoldaten die »Schlacht von Leuthen«.

»Frühling mit weißen Fahnen«


Als Beobachter der letzten zwei Monate des Zweiten Weltkriegs in meiner mitteldeutschen Heimatstadt war ich als Dreizehnjähriger tätig. Seit meinem Geburtstag im Februar 1945 war ich dreizehn Jahre alt. Meine Erfahrung und Beobachtungsfähigkeit war die eines Zwölfjährigen. So wurde ich Zeitzeuge. Vom Los, als Flakhelfer eingezogen zu werden, war ich noch viele Monate entfernt.

Meine Heimatstadt verbrannte im Feuersturm. Nach dem Luftangriff vom Sonntag, dem 8. April 1945. Wir Schüler konnten die silbernen Silhouetten britischer und amerikanischer Bomber zuverlässig unterscheiden. Die Verbände, die ich bei unserer Flucht aus dem schon brennenden, aber sonst intakten Elternhaus, durch die Feuerschlucht der Kaiserstraße in Richtung Braunschweiger Straße beim Abflug mit eigenen Augen sah, bestanden aus amerikanischen Flugzeugtypen. Ich lief auf die Gehörlosenschule zu, in Richtung Badeanstalt Bindseil. Das dortige Wasser sollte mich und meine Schwester vor den Bränden schützen. In einer Kuhle sah ich Karl Lindau liegen, den muskulösen, proletarisch machtvollen Heizer unseres Hauses. Er lag noch in Deckung. Wir Jungen dagegen sahen schon, wie die Rotten und Geschwader abflogen.

Drei Tage später, am Mittwoch, dem 11. April 1945, saß meine Kleinfamilie, mein Vater, die Schwester und ich, am Rande der Stadt in der Gärtnerei Domeyer. Wir erwarteten auf der Braunschweiger Chaussee, rechts und links Entwässerungsgräben, neben den Gräben Alleebäume, dazwischen die Hauptstraße, den Einmarsch der Amerikaner. Eine langsam fahrende Panzerkolonne näherte sich am Frühnachmittag der Stadt. Links und rechts eine Reihe marschierender G. ‌I. ‌s. Auf die weißen Fahnen, die in der Gärtnerei und an allen Häusern gehisst waren, welche die Stadteinfahrt markierten, reagierten sie offenbar positiv. Vom Burchardi-Anger bog ein ziviles Cabriolet der Bauart 1938 auf die Hauptstraße ein. Der Insasse, ein hohes Parteimitglied der NSDAP, wurde von der US-Voraustruppe angehalten, nach Waffen abgetastet, auf den Kühler eines Jeeps plaziert und in das rückwärtige Gebiet der einmarschierenden Truppe gefahren. Wir Jungen plünderten das Cabriolet, das zur Freisetzung der Straße von den G. ‌I.s in den Straßengraben gekippt worden war.

Ich kann mit Gewissheit sagen (ein »Erinnerungsfehler« ist nicht möglich): In keinem Moment habe ich diese in die Stadt einrückende Truppe mit den Flugzeugen, die vor drei Tagen die Stadt zerstört hatten, in Zusammenhang gebracht. Es gibt für das Beobachtungsvermögen eines Dreizehnjährigen keinen Allgemeinbegriff »Feind«. Die Reichsgrenzen von 1937 waren nichts, womit sich meine Phantasie oder meine Sinne befassten. Mich interessierten Landkarten, aber die ferner Länder, ich war neugierig. Stunden später, am 11. April, stürmten wir, mit Handwagen ausgerüstet, das Proviantamt, den gewaltigen Backsteinbau, in dem Vorräte für die deutsche Armee für die Zeit ungefähr bis zum Herbst gehortet waren.

Ein Unglück unter Millionen


Als der Treck unter Feuer geriet, hatte eine Mutter ihre drei Kinder in Richtung Wald losgeschickt, unter Führung der Ältesten, einer Achtjährigen. Sie sollten bis zu einem Holzstoß laufen, den sie am Vortag passiert hatten, und auf die Mutter warten. Die Kinder fanden die richtige Stelle nicht und wanderten von Holzstoß zu Holzstoß durch den Wald. Bald hatten sie sich verirrt, zogen weiter in die Richtung, von der sie annahmen, dass sie nach Hause führen würde, zum Heimatort, von dem aus sie aufgebrochen waren. Die Mutter suchte sie vergeblich am verabredeten Treffpunkt und dann weiter im immer größeren Umkreis. Den Anschluss an den Treck hatte sie schon verloren. Sie fand, so weit sie lief, keine Spur der Kinder. Auch nach dem Krieg blieben die Forschungen der Mutter vergeblich. Wohin waren die Kinder gelaufen? Waren sie verhungert? Waren sie irgendwem zugelaufen? Sind sie verschollen?

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