Mutters Flucht - Auf den Spuren einer verlorenen Heimat

Mutters Flucht - Auf den Spuren einer verlorenen Heimat

von: Andreas Wunn

Aufbau Verlag, 2023

ISBN: 9783841232915

Sprache: Deutsch

256 Seiten, Download: 14891 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Mutters Flucht - Auf den Spuren einer verlorenen Heimat



Hauenstein


Sie hatten keine Papiere, keine Koffer und besaßen nur die Kleidung, die ihnen in der Sommerhitze am Körper klebte. In einem Leinensäckchen waren die Familienbilder verstaut, gewellte Schwarz-Weiß-Fotografien, die sie hastig aus dem Album herausgerissen hatten. Meist versteckte es eines der beiden Kinder am Körper, weil Kinder in der Regel nicht durchsucht wurden. Den Stoß Notenblätter meines Großvaters, auf denen er leichte Operettenlieder komponiert hatte, um sie anschließend leidenschaftlich am Flügel vorzuspielen, trugen sie ebenfalls bei sich. Und auch den Familienschmuck hatten sie eilig eingepackt; sie würden die Ringe und Goldkettchen sofort hergeben, wenn es nötig wäre. Wenn sie etwa einen Grenzsoldaten bestechen müssten, damit er wegsah und sie durchließ. Oder einen Schlepper zu entlohnen hätten. Sie würden alles hergeben. Auf der Flucht ist wenig Platz für Nostalgie.

Schon mehrmals hatten sie versucht, aus dem Lager in Gakowa zu fliehen. Die Grenze nach Ungarn war so nah, keine fünf Kilometer Richtung Norden. Um dorthin zu gelangen, mussten sie erst die bewaffneten jugoslawischen Partisanen umgehen, die in loser Formation um das Lager herum Position eingenommen hatten. Dann mussten sie sich durch die Felder schlagen, abseits der Wege, damit sie an der Grenze nicht sofort wieder aufgegriffen wurden. Ein paarmal schon waren sie zurückgeschickt worden, aber sie gaben nicht auf, versuchten es immer wieder und immer wieder nachts.

Am 7. August 1947 gelang es ihnen dann. Vermutlich mithilfe von Schleppern konnten sie unentdeckt die Grenze nach Ungarn überqueren. Jugoslawien, ihre Heimat, die ihnen als Deutsche zur Hölle geworden war, lag hinter ihnen. Wären sie geblieben, davon war meine Großmutter Rosl überzeugt, hätten sie nicht überlebt.

Zwei Frauen und zwei Kinder auf der Flucht. Es fällt mir immer noch schwer, mir meine Mutter, meinen Onkel, meine Großmutter und meine Urgroßmutter von damals vorzustellen. Immer wenn ich es versuche, wirkt es auf mich, als liefe in meinem Kopf eine Art Kostümfilm ab. Meine Mutter Rosemarie war fünf Jahre alt, ein ernstes Mädchen mit durchdringendem Blick. Die Traurigkeit ihrer dunklen Augen wollte nicht recht zu den verspielten Zöpfen passen, die ihr oft mit weißen Schleifchen gebunden wurden. Ihr Bruder Kurt war nur ein Jahr jünger. Während meine Mutter auf den alten Fotos immer etwas schüchtern wirkt, stehen meinem Onkel schon als Vierjähriger Trotz und Wut im Gesicht geschrieben. Sie würden zusammenhalten, ein Leben lang. »Pass gut auf deine Mutter auf«, sagte mir mein Onkel als alter Mann in seinem Haus in der Schweiz leise ins Ohr. Er umarmte mich fest und hielt mich, und wir beide wussten, dass es ein Abschied für immer sein würde. Kurz darauf starb er an Magenkrebs. Von jenem Teil meiner Familie, die damals flüchteten, lebt heute nur noch meine Mutter.

Meine Großmutter Rosl war damals eine junge Frau Ende zwanzig – und sie war bereits Witwe. Auf den frühen Fotos, auf denen sie neben ihrem Mann, meinem Großvater, steht oder die Kinder auf dem Schoß hat, lacht sie und wirkt glücklich. Sie kam aus gutem Hause, spielte Tennis und Geige, interessierte sich für Mode und schlug elegant die Beine übereinander. Auf den späteren Fotos, jenen aus der Zeit nach der Flucht, ist das Glück aus ihrem Gesicht entwichen – und es sollte zeit ihres Lebens nicht wiederkommen. Ihre Mutter, meine Urgroßmutter Maria, war eine Frau um die fünfzig, die die Geschicke des Lebens stets selbst anpacken musste, weil auch sie ihren Mann früh verlor. Schon damals trug sie ihr Haar streng und zurückgebunden, ihre Röcke waren breit und dunkel, genau so, wie ich sie viel später als kleines Kind noch kennenlernen würde.

Am 7. August 1947 also, in der Hitze des Sommers, gelang ihnen die Flucht. Sie wussten, dass sie sich auch in Ungarn nur nachts und im Schutz der Dunkelheit fortbewegen konnten, um nicht entdeckt zu werden. Kurz hinter der jugoslawisch-ungarischen Grenze versteckten sie sich tagsüber in einem Sonnenblumenfeld. Sie legten sich auf den staubigen Boden, um sich auszuruhen, und verschwanden in einem Meer aus Gelb und Grün.

Plötzlich Hundegebell im Sonnenblumenfeld. Stiefel rammten sich ihren Weg durch die trockene Erde. Die Grenzpolizei machte Jagd auf Flüchtlinge, Ungarn zeigte schon damals eine harte Hand. Meine Urgroßmutter und die beiden Kinder waren im Schatten der Sonnenblumenköpfe eingeschlafen, nur meine Großmutter war noch wach. Durch das Grün der Blätter sah sie die Schnauze zuerst. Der Hund kam schnüffelnd näher, Schritt für Schritt. Jetzt stand er direkt vor ihr und starrte sie an. Er hechelte, doch sonst gab er keinen Laut von sich. Ein einziges Bellen, und es wäre vorbei. Sie würden entdeckt und zurückgeschickt werden. Meine Großmutter sah dem Hund in die Augen und bewegte sich nicht. Er starrte sie weiter an. Sie starrten sich gegenseitig an. Die Zeit dehnte sich.

Und dann ging er. Er machte kehrt und trottete davon, ohne Hast, ohne Bellen.

Niemand entdeckte meine Familie. Sie konnten ihre Flucht fortsetzen. Richtung Deutschland, wo alles besser war, wo sie in Sicherheit sein würden. Wo sie neu beginnen konnten, wo sie sich ein neues Leben aufbauen mussten. Dies war ihre einzige Hoffnung. Ein einziges Hundebellen hätte sie zunichtemachen können.

Wann immer ich an die Flucht meiner Mutter denke, sehe ich das Sonnenblumenfeld vor meinem Auge. Ich sehe es aus der Vogelperspektive, als fliege eine Drohnenkamera darüber, es strahlt in leuchtenden Farben und reicht bis zum Horizont. Ich sehe es auch von Nahem, Wind weht durch das Feld, er rauscht und biegt und schüttelt die Halme. Und irgendwo darin stelle ich mir meine schlafende Mutter als kleines Kind auf der Flucht vor und den Hund und die Grenzsoldaten. Aber im Grunde sehe ich fast immer nur das Feld, selten meine Mutter. Das Sonnenblumenfeld ist das einzige Bild, das ich von Mutters Flucht in meinem Kopf habe, das echt wirkt und nicht wie aus einem zu opulent geratenen Geschichtsbuch.

21 Tage lang dauerte ihre Flucht von der jugoslawischungarischen Grenze durch Ungarn (das seine Donauschwaben selbst ausgewiesen hatte) über Österreich bis nach Bayern – zu Fuß, auf Pferdewagen, mit dem Zug. Doch in Deutschland angekommen, sollte es fast drei Jahre dauern, die sie in verschiedenen Flüchtlingslagern verbrachten, bis sie ihren künftigen Wohnort, Hauenstein in der Pfalz, erreichten. Und genau siebzig Jahre später, im August 2017, ist Hauenstein die erste Station unserer großen Reise.

*

Waldfischbach, Thaleischweiler, Pirmasens, Hinterweidenthal. An der Perlenschnur meiner Erinnerung sind die Namen der Orte aufgereiht, an denen wir immer vorbeigefahren sind, wenn wir meine Omas in der Pfalz besuchten. Ich erinnere mich an die Schilder am Straßenrand. Und wenn mein Bruder und ich auf dem Rücksitz rechts hinter den Bäumen irgendwann den Teufelstisch erspähten, eine Felsformation so hoch wie ein mehrstöckiges Haus, die aussieht wie ein einbeiniger Tisch oder auch ein Pilz, dann wussten wir, gleich sind wir da. Bis ich sechs Jahre alt war, sind wir mit meinen Eltern oft am Wochenende in die Pfalz gefahren, um meine Großmutter und Urgroßmutter zu besuchen.

Ich bin viele Jahre nicht in Hauenstein gewesen. Jetzt nehme ich mit meiner Mutter denselben Weg wie damals. Wir fahren die Bundesstraße 10 entlang, durch die bergigen Kiefern- und Buchenwälder der Hinterpfalz. Wie ein hingeworfener Teppich wellt sich hier der Pfälzerwald durch die Landschaft, jetzt im Sommer saftig und grün. Leitplanken sind mit Büschen überwachsen. Es ist der erste Tag unserer Reise, wir sind morgens in Trier losgefahren, die Sonne steht hoch am Himmel. Meine Mutter auf dem Beifahrersitz ist ein wenig aufgekratzt. Sie konnte sich bisher nicht auf die Reise freuen, denn Vorfreude ist ihre Sache nicht. Es kann ja immer etwas dazwischenkommen. Doch jetzt sind wir wirklich unterwegs, ein Abenteuer steht uns bevor. Wir sind auf dem Weg in das Dorf, in dem meine Mutter im Alter von acht Jahren das Ende ihrer Flucht erlebte, das Dorf, in dem sie nicht nur aufgewachsen ist, sondern viel später, als junge Lehrerin, auch an der Schule unterrichtet hat.

Meine Mutter bemerkt, wie hoch die Bäume gewachsen sind und welche Bauarbeiten und Änderungen der Streckenverläufe an der Landstraße vorgenommen wurden. Auch sie ist lange Zeit nicht hier gewesen. Den Teufelstisch haben wir längst passiert, die Schilder am Straßenrand (»Deutsches Schuhmuseum«, »Luftkurort«) kündigen in großen Lettern unser Ziel an. An die Tankstelle am Ortseingang kann ich mich erinnern. Auch an die beiden Felsen, den Mond- und den Blitzfelsen, die steil an beiden Straßenseiten emporragen, wenn man weiter hinein fährt ins Dorf. Es ist »der Felsen« von Hauenstein.

»Hier ist die Oma verunglückt«, sagt meine Mutter leise und schaut weiter starr nach vorne. Sie spricht von dem Tag, an dem die unbeschwerten Familienbesuche meiner Kindheit jäh endeten.

»Wie fühlst du dich?«, frage ich sie.

»Normal«, antwortet sie und sagt dann nichts mehr.

Als meine Mutter im Juli 1950 nach Hauenstein kam, fuhren sie gar nicht erst durch »den Felsen« weiter Richtung Dorfkern. Die beiden Busse mit den aus Bayern umgesiedelten Flüchtlingen hielten in der Siedlung davor. »Hinterm Felsen«, so nannte man damals in Hauenstein die Arbeitersiedlung vor den Toren des Dorfes, die 1936 unter Hitler errichtet worden war und fast nur aus einer langen Straße bestand. Nach dem Krieg wurden hier zusätzliche Flüchtlingshäuser gebaut, kleine, im Dach spitz zulaufende Reihenhäuser, einfach und...

Kategorien

Service

Info/Kontakt