Torero, ich hab Angst - Roman | Der berühmte queere Liebesroman aus Lateinamerika

Torero, ich hab Angst - Roman | Der berühmte queere Liebesroman aus Lateinamerika

von: Pedro Lemebel

Suhrkamp, 2023

ISBN: 9783518776971

Sprache: Deutsch

200 Seiten, Download: 1269 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Torero, ich hab Angst - Roman | Der berühmte queere Liebesroman aus Lateinamerika



Als zöge man einen Gazeschleier von der Vergangenheit


Als zöge man einen Gazeschleier von der Vergangenheit, einen verbrannten Vorhang, der im Frühjahr 86 aus dem offenen Fenster jenes Hauses schwebte. Ein Jahr im Zeichen brennender Autoreifen auf Santiagos Straßen, die im Würgegriff der Polizeipatrouillen waren. Ein Santiago, das allmählich zu töpfeschlagendem Protest und zu den Blitzen des Stromausfalls erwachte; Ketten, die auf Kabel trafen, elektrischer Funkenschlag. Danach das völlige Dunkel, die Lichter eines Panzers, das Stehenbleiben, du Scheißkerl, die Schüsse und das panische Wegrennen, wie metallene Kastagnetten, die den Filz der Nächte zerfetzten. Diese düsteren Nächte, verziert mit Schreien, dem unermüdlichen »Und er wird stürzen« und den vielen, unendlich vielen allerneuesten Meldungen, geflüstert vom Radioecho des »Diario de Cooperativa«.

Dann das zierliche Häuschen am Eck über drei Etagen mit nur einer Treppe, die wie eine Wirbelsäule hinauf zur Dachterrasse führte. Von dort hatte man einen Blick auf die im Halbdunkel liegende, von einem undurchdringlichen Staubschleier gekrönte Stadt. Sie war ein Taubenschlag, eine Balustrade, kaum groß genug, um Bettlaken, Tischdecken und Unterhosen aufzuhängen, gehisst von den Marimbahänden der Tunte von der Front. Morgens trällerte sie bei offenem Fenster das »Ich habe Angst, Torero, ich habe Angst, dass heute Nachmittag dein Lachen schwebt«. Die ganze Gegend wusste, dass der neue Nachbar so war, eine Braut aus dem Viertel, die allzu entzückt war von diesem heruntergekommenen Bau. Ein Flatterling mit zusammengezogenen Augenbrauen, der eines Tages ankam und fragte, ob diese erdbebengebeutelte Bruchbude an der Ecke zu mieten sei. Diese Soffitte, die nur noch vom städtischen Aufsteigertum besserer Zeiten gehalten wurde. Jahrelang verriegelt, voller Ratten, Seelen und Fledermäuse, denen die Tunte unerbittlich den Kehraus machte, voller Spinnweben, die sie mit Staubwedel und Besen wegkratzte, mit ihrer Energie eines Falsettschwulen, Lucho Gatica singend, »Besame mucho« hustend, in den Staubwolken und zwischen dem Gerümpel, das sie auf dem Gehweg stapelte.

Fehlt nur noch der Bräutigam, tuschelten die alten Weiber auf dem Gehsteig gegenüber, während sie sich ihr Kolibrigeflatter am Fenster ansahen. Aber sympathisch, sagten sie, während sie ihren altmodischen Liedern lauschten, den Kopf im Takt ihrer gestrigen Melodien wiegten, die das ganze Viertel aufweckten. Diese gefühlsselige Musik, die morgens alle aus den Betten holte: die übernächtigten Ehemänner, die faulen Söhne und Töchter, die sich in ihre Laken rollten, die schlechten Schüler, die nicht zur Schule wollten. Das »Halleluja«, geschmettert von Cecilia, diesem neuen Sternchen am Schlagerhimmel, war der Weckruf, der Hahnenschrei im Morgengrauen, ein musikalisches Geheul, das die Tunte bis zum Äußersten ausreizte. Als wollte sie ihn mit aller Welt teilen, diesen kitschigen Text, der ihre Nachbarn aus dem Schlaf riss: »Und daa-nn … und da-ann nimmt dei-ei-ne Ha-a-nd die meiei-ei-ne.«

Und so wurde die Tunte von der Front sehr schnell ein Teil dieser sozialen Fauna kleiner Leute, in diesem Viertel Santiagos, wo man sich zwischen Müßiggang und dem viertel Kilo Zucker, das man anschreiben ließ, die Flöhe kratzte. Im kleinen Krämerladen des Viertels, dem Epizentrum des Geschnatters und Getratsches über die politische Situation des Landes. Die Bilanz der letzten Protestaktionen, die Erklärungen der Opposition, die Drohungen des Diktators, die Aufrufe für September. Diesmal ja, 86 wird er nicht überstehen, 86 ist unser Jahr. Alle in den Park, alle zum Friedhof, zum Grab des ermordeten Präsidenten, mit Salz und Zitronen, um den Tränengasbomben zu widerstehen, und die vielen, unendlich vielen Pressemitteilungen, die ständig aus dem Radio plärrten.

HIER SPRICHT RADIO COOPERATIVA, MANOLA ROBLES INFORMIERT

Aber um Politik scherte sie sich kaum. Sie bekam eher einen Schreck, wenn sie diesen Radiosender hörte, der immer nur schlechte Nachrichten brachte. Diesen Radiosender, der überall ertönte, mit seinen Protestliedern, mit seinem Dringlichkeitsgetue, das allen an den Nerven zerrte. Sie stellte lieber die nostalgischen Sendungen ein:

»Herzen im Gleichklang«, »Wir waren alle einmal jung«, »Nächte der Vorstadt«. Ganze Abende verbrachte sie so und bestickte riesige Tischtücher und Bettlaken für irgendeine adlige Alte, die sie für den Spinnendienst ihrer Hände gut bezahlte.

Jenes frühlingshafte Haus des Jahres 86 gab ihr Geborgenheit. Vielleicht war es das Einzige, was sie liebte, der einzige Ort, den die Tunte von der Front je ganz für sich gehabt hatte. Daher der Eifer, mit dem sie die Wände wie eine Hochzeitstorte dekorierte. Sie cremte Vögel, Fächer, Vergissmeinnichtranken an die Simse, legte farbenprächtige Tücher aus chinesischer Seide über das unsichtbare Klavier. Um die alten Kisten wickelte sie fransigen Tüll und benutzte sie als Möbel. Die schweren Kisten, die sie für diesen jungen Mann aufbewahrte, den sie im Laden kennengelernt hatte, diesen gutaussehenden Burschen, der sie um den Gefallen gebeten hatte. Es seien nur Bücher, verbotene Bücher, hatte er gesagt mit seinem feuchten Lilienmund. Mit dieser Stimme, die so männlich war, dass sie unmöglich ablehnen konnte, diesem Timbre, das in ihrem wasserstoffblonden Vogelköpfchen immer noch nachhallte. Warum ihm Fragen stellen, wenn er doch sagte, er heiße Carlos weiß nicht wie, studiere weiß nicht was an weiß nicht welcher Universität, und ihr blitzschnell einen Ausweis zeigte, auf den sie nicht einmal einen Blick warf, weil sie ganz im Bann dieser dunkelvioletten Augen stand?

Die ersten drei Kisten stellte er ihr in den Flur. Sie aber sagte mit Nachdruck, dass sie störten, er solle sie ins Schlafzimmer schaffen, dort könne sie sie als Nachttisch benutzen und ihr Radio daraufstellen. Nur wenn es keine allzu große Mühe macht, das Radio ist meine einzige Gesellschaft, sagte sie errötend und mit dem Gesicht eines verwaisten Lämmchens, während sie auf die funkelnden Schweißperlen starrte, die wie ein Band um seine Stirn lagen. Die restlichen Kisten ordnete sie im leeren Raum ihrer Phantasie an, als richte sie ein Filmset ein: Hierher, Carlos, vor das Fenster. Nein, Carlos, nicht so nah nebeneinander, so sehen sie ja aus wie Särge. Weiter in die Mitte, Carlos, als Beistelltischchen. Nicht hochkant, Carlos, lieber flach oder auf die Seite, Carlos, als Raumteiler. Weiter nach vorn, Carlos, weiter rechts, entschuldige, weiter links, wollte ich sagen. Bist du müde? Lass uns ein bisschen ausruhen. Willst du einen Kaffee? Wie eine Brummbiene schwirrte sie im Haus umher, im Federkleid ihrer Stola aus: Ja, Carlos. Nein, Carlos. Vielleicht, Carlos. Schon möglich, Carlos. Als stickte die Wiederholung des Namens seine Buchstaben in die vom Echo seiner Nähe gurrende Luft. Als bestünde das Pedal dieser Tratschzunge darauf, ihn ständig auszusprechen, zu rufen, ihn zu lecken, seine Silben zu schmecken, ihn zu kauen, sich vollzustopfen mit diesem Carlos, diesem Namen, der so tief war, so weit, dass sie bald nur noch ein einziger Seufzer war, selig verharrte zwischen dem C und dem A dieses C-arlos, in dessen Gegenwart das g-anze Haus erstrahlte.

Ständig kamen neue Kisten an, immer noch mehr Kisten, immer noch schwerere Kisten, die Carlos mit seiner männlichen Muskulatur hereinschleppte. Und die Tunte erfand immer neue Möbel, die er mit Bezügen und Kissen dekorierte, um das geschwätzige Geheimnis der Sarkophage zu verbergen. Dann kamen die Treffen, um Mitternacht, im Morgengrauen, wenn das Viertel ein Chor aus Schnarchern und Furzern war, die aus vollem Rohr die Marseillaise des Schlafes donnerten. Mitten im Platzregen und patschnass kamen Carlos’ Freunde an und versammelten sich auf dem Dachboden. Und einer blieb an der Ecke stehen und spielte den Ahnungslosen. Carlos hatte sie um Erlaubnis gefragt, hatte mit seinen Luchsaugenwimpern geklimpert. Das sind Freunde von der Uni, die nicht wissen, wo sie lernen sollen, und du hast ja ein großes Haus und ein noch größeres Herz. Wie hätte sie da Nein sagen sollen, wo sie doch jedes Mal vor Schweiß troff, wenn sich ihr dieser rassige Mann näherte. Und außerdem waren die jungen Hüpfer, soweit sie sehen konnte, gut erzogen und gepflegt. Die kann man als Freunde durchgehen lassen, dachte sie, während sie Kaffee servierte, mit der Zungenspitze den Glanz ihrer Lippen auffrischte und laut die Liebeslieder mitsang, die aus dem...

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