Hitler, Stalin, meine Eltern und ich - Eine unwahrscheinliche Überlebensgeschichte

Hitler, Stalin, meine Eltern und ich - Eine unwahrscheinliche Überlebensgeschichte

von: Daniel Finkelstein

Hoffmann und Campe, 2024

ISBN: 9783455016673

Sprache: Deutsch

528 Seiten, Download: 4857 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Hitler, Stalin, meine Eltern und ich - Eine unwahrscheinliche Überlebensgeschichte



Vorwort


Die Wahrheit liegt zu Füßen der Freiheitsstatue.

Wenn ich in New York bin, wohne ich immer in Midtown, wo ich mir ein Hotel in der Gegend suche, in der mein Großvater während des Kriegs gewohnt und für den britischen Geheimdienst und die amerikanische Regierung gearbeitet hat. Am zweiten oder dritten Tag meines Besuchs steige ich an der Grand Central Station in die U-Bahn und fahre hinunter nach Bowling Green, und von dort ist es nur ein kurzer Fußweg zum Terminal der Staten-Island-Fähre.

Kurz darauf sehe ich, was meine Mutter sah, als sie an Deck des Rote-Kreuz-Schiffs heraufkam, das sie nach Amerika und in Sicherheit brachte. Vor mir liegt der Anblick, den sie kurze Zeit später in einem Schulaufsatz schilderte – es war einer ihrer frühesten, aber bemerkenswert selbstbewussten Vorstöße in die englische Sprache: »Das Allererste von Amerika, das ich sah, waren einige riesige Wolkenkratzer in New York, und das Nächste war die Freiheitsstatue, die Neuankömmlinge begrüßen; als ich dieses schöne Symbol sah, wusste ich, das ich wirklich im ›Land der Freien, der Heimat der Tapferen‹ war.«1

So bewegend es immer wieder ist – es ist nicht der Grund, weshalb ich diese Wallfahrt unternehme. Ich komme her, weil hier die Wahrheit liegt. Ich komme her, weil hier meine Tante Ruth die Kriegsmedaillen meines Großvaters ins Wasser geworfen hat.

 

Im Herbst 2012 räumten wir unser Wohnzimmer auf, liehen uns ein im Internet entdecktes Partyzelt und bestellten im Lokal um die Ecke Essen für die Gäste. Dann feierten wir meinen Fünfzigsten.

Gekommen waren die Menschen, die mir am meisten bedeuteten. Meine Familie natürlich. Ein paar Kollegen, mit denen ich befreundet bin. Aber die Mehrzahl gehörte zu der Gruppe, die meine Frau Nicky »alle« nennt. Leute, die sie seit der sechsten Klasse kennt und mit denen auch ich mich angefreundet habe, weil meine Schwester ebenfalls zu »allen« gehört. So haben Nicky und ich uns kennengelernt. Über Tamara.

Natürlich gab es Unterschiede zwischen uns. Aber wichtiger war, worin wir uns glichen. Wir führten alle ein glückliches, stabiles, sicheres, ziemlich erfolgreiches Leben im Londoner Umland. Außerdem waren die meisten von uns jüdisch, viele aus Familien, die erst seit zwei Generationen hier lebten.

Als Kind wurde meine Schwester bei einer Schwimmgala einmal von einem anderen Kind gefragt: »Wo ist eigentlich deine Mum her?« Tamara war verblüfft; nie war ihr aufgefallen, dass unsere Mutter einen leicht ausländischen Akzent hatte. Nie war ihr in den Sinn gekommen, dass jemand uns als »nicht aus Hendon« empfinden könnte. Und die meisten meiner Geburtstagsgäste hätten auf die Frage, wo sie herkämen, wohl »London« gesagt oder »gleich nördlich von London«. Dabei »kamen« die meisten keineswegs von dort.

Deshalb schienen mir meine Gäste das richtige Publikum für das, was ich zu sagen hatte.

Wir schnitten die Torte, die Nicky beim Konditor in der High Street bestellt hatte. Darauf thronte eine Marzipanfigur, die mich zeigte: auf einem Sofa, eine Dose Diet Coke in der Hand, fernsehend. Dann hielt ich eine kurze Rede, in der ich allen für ihr Kommen dankte.

Ich erklärte Nicky meine Liebe, sagte meinen Freunden und meinen Angehörigen, wie viel sie mir alle bedeuteten, bedankte mich für meine Geschenke; und am Ende fügte ich Folgendes hinzu:

Dankbar bin ich auch noch für etwas anderes. Als meine Eltern und meine Großeltern in meinem Alter waren, hatten sie alles verloren, was sie hatten. Ihre Heimat, ihr Zuhause, ihren Besitz. Sie mussten in einem fremden Land und einer fremden Sprache neu anfangen.

Wir leben hier in Frieden, liegen nachts nicht wach, weil wir Angst haben, dass jemand an unsere Tür hämmert und uns aus dem Bett holt. Wir haben keine Angst, dass unsere Kinder in einen fernen Krieg geschickt werden. Wir haben keine Angst vor Verhaftung oder Exil.

Stoßen wir also an auf das Sunrise Café in North Harrow und die U-Bahn-Station und auf das Einkaufszentrum Brent Cross und die chemische Reinigung um die Ecke. Auf uns alle, die wir dieses Land und seine wenig hochtrabenden Ideen lieben und nicht wollen, dass es von populistischer Begeisterung oder revolutionärem Eifer fortgerissen wird.

Auf das Land, das meine und eure Familien aufgenommen hat. Auf das Londoner Umland und euch alle, die ihr hier lebt.

Ich glaube nicht, dass ich, fände die Party heute statt, diese Rede noch einmal so halten würde.

Nicht, weil ich der Ansicht bin, dass wir vor dem sozialen Kollaps stehen. Aber das letzte Jahrzehnt hat – so unbehaglich mir bei dem Eingeständnis ist – meine Gewissheit etwas angekratzt. Heute erschiene es mir vermessen, so zu reden. In zu vielen Gegenden der Welt hat der soziale Kollaps bereits stattgefunden, und zu viele Menschen sind ihm zum Opfer gefallen. Im Nachhinein kommt mir die Zuversicht, die ich damals an den Tag legte, selbstgerecht vor. Die Idee, dass der hohe Wert von liberaler Demokratie und Recht und Freiheit und Toleranz eine Lektion sei, die wir ein für alle Mal gelernt hätten und die nicht mehr in Vergessenheit geraten könnte, halte ich aus heutiger Sicht für maßlos und unangemessen optimistisch.

Was meinen Eltern widerfahren ist, wird mir nicht so leicht widerfahren. Auch nicht meinen Kindern. Aber könnte es passieren? Ja. Auf jeden Fall.

 

Daher meine ich, es ist an der Zeit, dass ich die Geschichte meiner Eltern und meiner Großeltern erzähle. Dass ich schildere, was ihnen widerfahren ist; warum es so kam und warum es eine Rolle spielt.

Meine Eltern – Mirjam und Ludwik – suhlten sich nicht in ihren Erlebnissen, machten aber auch kein Hehl daraus. Ich konnte sie alles fragen, was ich wollte, und das tat ich. Gleichzeitig vertrat besonders meine Mutter die Ansicht, dass wir nicht leiden müssten, nur weil sie gelitten hatte.

Kurz bevor meine Mum starb, erschien unter dem Titel Survivor ein Buch des Fotografen Harry Borden mit Bildern von Holocaust-Überlebenden. Begleitet wurden die Bilder von kurzen handgeschriebenen Kommentaren der Porträtierten.

Auf einem der Fotos ist meine Mutter zu sehen, die an der Tür unseres Esszimmers steht. Auf der Seite gegenüber steht in Mums großer, ordentlicher Schrift: »Ich sehe mich zuallererst als Person, als Ehefrau und Mutter und erst zuletzt als Überlebende.«2

Daran hat sie sich immer gehalten, sie ließ sich nicht bestimmen von dem, was ihr widerfahren war; sie behielt das Heft in der Hand.

Als der US-Präsident Ronald Reagan 1985 die Kriegsgräberstätte Bitburg in Rheinland-Pfalz besuchte, erntete er Kritik im In- und Ausland, weil auf dem Friedhof auch Soldaten der Waffen-SS bestattet sind. Ich saß Radio hörend in meinem Zimmer und erfuhr, dass Reagan zwecks Glättung der Wogen nun auch die KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen besichtigen wollte.

Ich ging hinunter in die Küche, wo Mum beim Abspülen war, und berichtete aufgeregt: »Mum, Präsident Reagan fährt nach Bergen-Belsen!« Sie antwortete gelassen und ohne sich umzudrehen: »Na und? Da war ich auch.«

Auch mein Vater konnte das, was er erlebt und erlitten hatte, mit einem gewissen Humor betrachten. So sehr, dass ich seine Witze gelegentlich für Realität hielt. Hatten er und seine Mirjam tatsächlich einen sowjetischen Bahnaufseher mit einer Flasche Parfum bestochen, das sich »Stalins Atem« nannte? In den Geschichten, die sie uns in unserer frühen Kindheit erzählten, waren die Russen, die sie festnahmen, immer stümpernde Bürokraten und Idioten und vom Widerstand meiner Großmutter gnadenlos überfordert. Konnte das stimmen?

Die Herangehensweise meiner Eltern brachte es mit sich, dass mir nicht viel von ihrer Geschichte vorenthalten wurde. Aber sie stellte mich vor ein anderes Rätsel. Warum waren sie so? Wie hatten sie es fertiggebracht, ein derartiges Trauma zu überstehen und so normal zu bleiben?

Warum waren sie nicht wütender? Feindseliger? Wie konnte mein Vater, als er in der DDR einen Vortrag hielt und erfuhr, dass an jenem Tag gewählt wurde, lächelnd sagen: »Wenn es für Sie in Ordnung ist, bleibe ich nicht so lange auf, bis die Ergebnisse vorliegen.« Wie brachten sie es fertig, ihre Kinder so zu erziehen, wie sie uns erzogen haben?

Erst jetzt beginne ich das alles zu verstehen, wie ein Erwachsener es verstehen würde. Denn wenn man jung ist, stellt man den Eltern nicht so viele Fragen. Sie sind einfach die Eltern.

 

Heute kann ich vollkommen verstehen, warum meine Schwester erschrak, als jemand an der Sprechweise unserer Mutter einen irgendwie ausländischen Akzent wahrnahm. Der leise Anklang von Holländisch (oder war es Deutsch?) in ihrem perfekten Englisch, diese leichte Sprachmelodie – war das nicht einfach der Tonfall unserer Mum?

Und ja, unser Vater konnte etwas förmlich sein. Er trug auch am Wochenende ein Sakko und richtete seine Krawatte, bevor er ans Telefon ging. Auf einer USA-Reise zu meinem Onkel, der dort lebte, verabredeten sie sich einmal zum Essen in einem Highway-Restaurant der Kette Denny’s. Mein Onkel, ohnehin ziemlich lässig gekleidet, meinte, sie sollten sich vor dem Essen doch noch kurz umziehen. Als sie sich später trafen, trug Ted einen Jogginganzug, während mein Vater sein übliches Jackett mit Krawatte gegen einen noch formelleren Geschäftsanzug eingetauscht hatte. Sogar am Strand war Dad immer vollständig bekleidet, sein einziges Zugeständnis an den Ort war, dass er Anorak und Wanderschuhe trug.

Seine Förmlichkeit war nie Kälte gegenüber anderen, am wenigsten...

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