75 Jahre Soziale Marktwirtschaft in 7,5 Kapiteln

75 Jahre Soziale Marktwirtschaft in 7,5 Kapiteln

von: Nils Goldschmidt, Stefan Kolev

Verlag Herder GmbH, 2023

ISBN: 9783451849985

Sprache: Deutsch

80 Seiten, Download: 1008 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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75 Jahre Soziale Marktwirtschaft in 7,5 Kapiteln



Kapitel 2
20. Juni 1948 –
Der Sprung ins Ungewisse


Am 5. August 1948 notierte Leonhard Miksch in sein Tagebuch: „Die Eiersache ist wirklich nur ein Witz. Seit die Preise freigegeben sind, könnte man glauben, die deutsche Bevölkerung habe vorher nur von Eiern gelebt. Ich spreche überhaupt einem großen Teil der Leute, die gegen die Marktwirtschaft wettern und hetzen, den guten Glauben ab. Sie entblöden sich nicht, zu behaupten, dass die Arbeiter jetzt schlechter lebten als früher, wobei sie offenbar die bis vor kurzem ausgestoßenen Jammertöne ganz vergessen haben.“1

Der Ökonom Leonhard Miksch arbeitete damals in der Verwaltung für Wirtschaft des Vereinigten Wirtschaftsgebietes – mehr oder weniger die Vorläuferin des späteren Bundeswirtschaftsministeriums. Er war einer der engen Vertrauten des Direktors, Ludwig Erhard, und führte in jenen Jahren ein erhellendes und nicht selten unterhaltsames Tagebuch. Bislang sind seine Aufzeichnungen unveröffentlicht – Sie sind also gewissermaßen Premierengast. Doch was hat es nun mit der „Eiersache“ auf sich? Dafür müssen wir anderthalb Monate im Jahr 1948 zurückspringen.

Vor 75 Jahren, am Sonntag, dem 20. Juni – traut man den historischen Wetterdaten, ein wolkenverhangener Tag mit einzelnen Schauern –, fand in den drei westdeutschen Besatzungszonen die Währungsreform statt. Löhne und Gehälter, aber auch Steuern und Mieten wurden im Verhältnis 1 : 1 in D-Mark umgestellt. Zudem erhielt jeder und jede einen „Kopfbetrag“ von 40 D-Mark. Bei bestehenden Bankguthaben war die Umstellung deutlich restriktiver und führte zu Empörung bei denjenigen, die hohe Ersparnisse hatten. Dass die Währungsreform aber unausweichlich war, lag auf der Hand. Die schulden- und wechselfinanzierte Rüstungspolitik der Nationalsozialisten hatte die Geldmenge im deutschen Währungsgebiet massiv erhöht. Dazu war lediglich die Reichsbank gleichzuschalten. Bereits im Oktober 1939 wurde eine achtfache Erhöhung des Bargeldumlaufs angeordnet, um die Finanzkraft der Kriegsfinanzierung auszuweiten. Im Verlauf des Zweiten Weltkrieges wurden weitere Finanzierungsquellen im okkupierten Ausland ausgeschöpft. Beschlagnahmtes Gold aus Geschäfts- und Zentralbanken besetzter Länder wurde von der Reichsbank eingeschmolzen und auf dem noch bestehenden europäischen Kapitalmarkt veräußert. Der Außenwert der Reichsmark blieb davon stets unberührt.

Nach dem Krieg änderte sich die Situation jedoch grundlegend. Spätestens im Sommer 1945 war angesichts der eingetretenen ökonomischen Folgen der Kriegsfinanzierung offensichtlich, dass eine Währungsreform unumgänglich sein würde. Zudem wurde der Bedarf an Bargeld wesentlich geringer, weil das Währungsgebiet ab 1945 nicht nur von der Fläche her, sondern auch in Bezug auf die Einwohnerzahl wesentlich kleiner wurde: Große Teile des alten Reichsterritoriums lagen nicht im Machtbereich des Alliierten Kontrollrates. Auch kehrten die vormals besetzten Gebiete zu ihren alten Staatswährungen zurück. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Reichsmark weitestgehend ihre Geldfunktionen verlor.

Der Hauptgrund, warum dennoch mehr als drei Jahre verstreichen mussten, bis eine neue Währung emittiert werden konnte bzw. durfte, wird in der Uneinigkeit der Alliierten gelegen haben, wie mit den vier Besatzungszonen verfahren werden sollte. Die unterschiedliche Vorgehensweise in der sowjetisch besetzten Zone und den drei Westzonen ließ bereits im Herbst 1945 erwarten, dass eine dauerhafte Trennung unausweichlich und die gemeinsame Reichsmark obsolet werden würde. Obwohl der Plan zu der im Juni 1948 durchgeführten Währungsreform bereits 1946 weitestgehend vorlag, befassten sich die Besatzungsmächte erst ab 1947 mit dem Gedanken, die Reichsmark durch eine andere Währung abzulösen. So wurde auf Beschluss des Wirtschaftsrates vom 23. Juli 1947 unter der Leitung von Ludwig Erhard die „Sonderstelle Geld und Kredit“ in Bad Homburg gegründet, die mit der Aufgabe betraut wurde, einen offiziellen deutschen Plan zur Währungsreform zu erarbeiten. Der ausgearbeitete „Homburger Plan“ fand jedoch nur in seinen Grundzügen Berücksichtigung.

Schon seit einigen Jahren trieb Ludwig Erhard die Frage um, wie das Geldüberhangproblem nach Ende des Krieges zu lösen sei. Ab März 1944 zirkulierte eine von ihm geheim verfasste Denkschrift mit dem Titel Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung.2 Er betonte, dass eine Schuldenkonsolidierung und eine Reduktion des Geldüberhangs in erster Linie der Beseitigung des inzwischen aufgestauten Kaufkraftüberschusses bedürften. Hierfür sei der Notenumlauf von rund 35 Milliarden Reichsmark auf zwei bis vier Milliarden Reichsmark zu reduzieren. Die zweite Aufgabe sei es, die angelaufenen Ansprüche an den Staat, die Banken und sonstige Unternehmen abzulösen und auf eine dem Sozialprodukt entsprechende Höhe zurückzuführen.

Doch die Währungsreform alleine konnte es nicht richten. Um eine durch Geldmengenausweitung drohende Inflation zu vermeiden, hatten die Nationalsozialisten bereits 1936 das Einfrieren von Löhnen und Güterpreisen angeordnet. Zudem wurden im Rahmen der am 4. September 1939 in Kraft getretenen Kriegswirtschaftsverordnung das Horten von Geld unter Strafe gestellt, der freie Geldverkehr eingeschränkt und zusätzlich der Bargeldumlauf weiter erhöht. In seiner Denkschrift erschien Erhard eine mit dem Währungsschnitt durchgeführte Preisfreigabe noch als „wirklichkeitsfremd“. Doch nach dem Krieg wurde deutlich, dass nur weitestgehend freie Preise den Marktmechanismus wieder in Kraft setzen konnten.

Hier nun kommt wieder Leonhard Miksch ins Spiel. Er war wohl derjenige, der im Wesentlichen darauf drängte, dass eine Preisfreigabe ohne Alternative sei und dass man den Wirtschaftsrat, eine Art Parlament der amerikanisch-britischen Bizone, dazu bringen musste, einer entsprechenden Verordnung zuzustimmen. Am 24. Mai 1948 heißt es in seinem Tagebuch:

 

Im Auftrage von Erhard habe ich die Grundsätze der deutschen Preispolitik im weitesten Sinne in einer Reihe von Thesen zusammengefasst. – Hauptabteilungsleitersitzung. Erhard sagte, meine Thesen entsprächen völlig seiner Auffassung. Sie sind für die Militärregierung bestimmt. Ich erhielt den Auftrag, sie jetzt in eine Form zu gießen, in der sie dem Wirtschaftsrat vorgelegt werden können, um dann als eine Art Generalermächtigung für die anlässlich der Währungsreform erforderlichen Maßnahmen zu dienen. – Erhard ist entschlossen, zur Marktwirtschaft überzugehen.

 

Nach einigem Abwägen (31. Mai: „Erhard wollte noch einen Satz drin haben, dass nach der Währungsreform die Preise nicht steigen können, er behauptet das wegen der Radikalität der Reform, aber ich habe ihn dringend vor einer solchen Festlegung des Wirtschaftsrats gewarnt.“) fand das Gesetz über Leitsätze für die Bewirtschaftung und Preispolitik nach der Geldreform („Leitsätzegesetz“) seinen Zuschnitt. Miksch, übrigens SPD-Mitglied mit einem ambivalenten Verhältnis zum Nationalsozialismus als junger Mann, hatte die Präambel verfasst, der stellvertretende Direktor der Verwaltung für Wirtschaft und CDU-Mann Edmund Kaufmann den eigentlichen Text (Miksch in seinem Tagebuch: „Zuletzt nach vielem hin und her, hat Kaufmann die Richtlinien selbst formuliert, auf Grund meiner Entwürfe. Sehr verwaschen, aber das Verwaschene ist das Richtige.“).

Nach heftigen Debatten wurde das Gesetz am Freitag, dem 18. Juni 1948, vom Wirtschaftsrat verabschiedet. Eigentlich hätte es vor seiner Inkraftsetzung noch den Länderrat passieren und von den Alliierten genehmigt werden müssen. Jedoch gab Erhard ohne die Zustimmung der Alliierten und der Ländervertreter parallel zur Währungsreform am 20. Juni 1948 die Anweisung, zahlreiche Preise entsprechend des Leitsätzegesetzes freizugeben. Dieser Sprung ins Ungewisse markiert den Beginn der Sozialen Marktwirtschaft – und verursachte einigen Ärger. Bereits am nächsten Tag wurde Erhard in das Hauptquartier der Alliierten in Frankfurt am Main zitiert. Dort warf ihm der Militärgouverneur der amerikanischen Besatzungszone, General Lucius D. Clay, vor, eigenmächtig Besatzungsvorschriften geändert zu haben. Wie Erhard später selbst erzählte, habe er darauf geantwortet: „Ich habe die Vorschriften nicht abgeändert, ich habe sie abgeschafft.“ Clay war über Erhards Eigenmächtigkeit aber nicht wirklich unglücklich, da er dessen wirtschaftspolitischen Kurs – den Weg in die Soziale Marktwirtschaft – grundsätzlich für richtig hielt. Clay wurde übrigens in ebendiesen Monaten auch der „Vater der Berliner Luftbrücke“ – aber das ist eine andere Geschichte.

Währungsreform und Preisfreigabe wirkten unmittelbar: Bereits am darauffolgenden Montag, dem 21. Juni, waren die Läden wieder mit zahlreichen Produkten gefüllt, die Händler holten gehortete Waren aus den Lagern und Kellern und stellten sie in ihre Auslagen, da sie sie nun zu rentablen, offiziellen Preisen verkaufen konnten, anstatt sie für Bezugsscheine abzugeben oder sie unter dem Ladentisch gegen die inoffizielle Zigarettenwährung einzutauschen. Westdeutschland hatte ein „Schaufensterwunder“. Der offizielle Lohn hatte eine deutlich höhere Kaufkraft, das Warenangebot verbreiterte sich. Auch auf der Produktionsseite passierte einiges: Hatten sich die Bewirtschaftungsmaßnahmen der Alliierten als Zwangskorsett für die Gütererstellung erwiesen, stieg die...

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