American Matrix - Besichtigung einer Epoche

American Matrix - Besichtigung einer Epoche

von: Karl Schlögel

Carl Hanser Verlag München, 2023

ISBN: 9783446297753

Sprache: Deutsch

832 Seiten, Download: 13697 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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American Matrix - Besichtigung einer Epoche



Vorwort


Was muss passiert sein, dass jemand wie ich, der sich ein Leben lang mit Russland beschäftigt hat, auf die Idee verfällt, ein Buch über Amerika zu schreiben? Vielleicht ist die Antwort einfacher als vermutet: Wer sein Leben lang in der sowjetischen und der amerikanischen Hemisphäre unterwegs war, der blickt anders auf die eine wie die andere Welt. Ich reiste 1970 zum ersten Mal in die USA, war aber 1966 und 1969 bereits in der Sowjetunion unterwegs gewesen. Das ist nun ein halbes Jahrhundert her. Der sowjetische Realsozialismus war für einen linken Aktivisten, der damals mehr von der chinesischen antibürokratischen Kulturrevolution fasziniert war, nicht besonders interessant, und wer es nach dem Internationalen Vietnam-Kongress in Westberlin 1968 mit dem Kampf gegen den Imperialismus ernst meinte, der ging in die USA: The belly of the beast, wie es damals hieß. Die erste Reise ging vor allem in die Zentren der Antikriegsbewegung, in das Amerika der Bürgerrechtler, in meinem Fall besonders zu Kundgebungen und Büros der Black Panther Party, die mit ihrem Konzept, die soziale Frage mit der Rassenfrage zu verbinden, eine neue Perspektive zu eröffnen schien.

Von dieser ersten Reise, der zahlreiche andere folgten, stammen die Eindrücke, die dauerhaft bleiben, so wie das bei ersten Eindrücken oft der Fall ist. Monate lang die USA von Küste zu Küste und von Nord nach Süd durchquerend, das Land durch die Fenster des Greyhound Bus entdeckend, überall freundlich aufgenommen — so ist eine tiefe Sympathie gewachsen, die ich bis heute nicht anders fassen kann als in Goethes berühmter Verszeile in den Xenien: »Amerika, du hast es besser/Als unser Kontinent, das alte,/Hast keine verfallene Schlösser/Und keine Basalte./Dich stört nicht im Innern/Zu lebendiger Zeit/Unnützes Erinnern/Und vergeblicher Streit.« Daran haben auch die auf die dunklen Seiten Amerikas verweisenden Erfahrungen — die Bilder aus den Städten des Rust Belt, die von Drogen und Gewalttätigkeit verwüsteten Viertel, die gottverlassenen Siedlungen irgendwo in einem Tal der Appalachen, die verhängnisvollen Kriege im Irak und Afghanistan — im Prinzip nichts geändert. Man konnte von der Größe und Großzügigkeit Amerikas fasziniert sein, auch wenn man an dem Land unendlich Vieles auszusetzen hatte. Ich habe mich gefragt, woher diese tiefe Sympathie rührte, ob es sich nicht doch um eine Projektion handelte, die alles ausblendet, was zu einem Idealbild von Amerika nicht passt, eine Form von Verdrängung, eine Fluchtreaktion in einer Situation, in der eine Alternative zur freiheitlich-liberalen Lebensform des Westens nicht in Sicht ist.

Für die Rekonstruktion der eigenen Faszination — und vielleicht nicht nur meiner — bleibt nichts anderes übrig als — für einen Augenblick wenigstens — die großen Erzählungen von Aufstieg und Fall des amerikanischen Imperiums erst einmal ruhen zu lassen und jene Stationen noch einmal Revue passieren zu lassen, an denen die dauerhafte Begeisterung für das Land geweckt wurde. Das sind — nicht überraschend — die Pflichtstationen jeder Amerika-Reise, die in jedem Reiseführer verzeichneten Naturwunder, die Sehenswürdigkeiten und Highlights, die jeden Ankömmling aus Europa schockierende und befreiende Weite des Raums, der Eintritt in eine Zeit mit ihrem eigenen Tempo und Rhythmus. Man bewegt sich dabei, ob man will oder nicht, immer schon auf Wegen, auf denen andere vor einem unterwegs gewesen sind. So werden Reisen im Raum zu Reisen durch die Zeit.

Wenn es einen übergreifenden Begriff gibt für das, was mich nie losgelassen hat, dem ich nachgehen musste, dann war es: die Produktion des amerikanischen Raumes, die aus dem nordamerikanischen Kontinent in so kurzer Zeit das Zentrum einer Zivilisation hat werden lassen, die im 20. Jahrhundert weltweit ausstrahlte und große Teile der Welt bis heute prägt.

Ein Titel wie »Americanization of the World. The Trends of the Twentieth Century« von William T. Stead, erschienen im Jahre 1901, konnte in einem Augenblick auftauchen, als Amerika im Begriffe war, sich definitiv von seinen Vorbildern zu lösen und zu einer eigenen Form zu finden. Vielleicht war die Weltausstellung von Chicago 1893 — zur Feier des 400. Jahrestags der Ankunft von Christoph Kolumbus im Jahre 1492 — der erste große selbstbewusste Auftritt des »amerikanischen Jahrhunderts«, so wie vielleicht der Einsturz der Türme des World Trade Center am 11. September 2001 in unüberbietbar prägnanter Symbolik dessen Ende und den Eintritt in eine Konstellation mit gänzlich neuen Grenz- und Frontverläufen signalisierte. Was sich in dem Jahrhundert ereignet, ist der Aufstieg Amerikas, verkörpert in der Entfesselung einer beispiellosen gesellschaftlichen Dynamik, die die USA zum Kraftzentrum der transatlantisch-westlichen Zivilisation haben werden lassen. Es ist kein Zufall, dass der Amerika-Enthusiasmus europäischer Reisender um 1900 in vielem dem zwischen Fassungslosigkeit und Verunsicherung schwankenden Staunen heutiger China-Reisender gleicht.

Man kann die Geschichte Amerikas im 20. Jahrhundert entlang der Geschichte der Verfassung, der Institutionen, der Kultur und vieler anderer Themen schreiben, enzyklopädisch in chronologisch geordneter Form, aber man kann sie auch als Ortsbeschreibung versuchen, als Topographie des Wandels, ob ausgelöst durch technologischen Fortschritt, demographische Veränderungen, Naturkatastrophen oder andere Prozesse. »Im Raume lesen wir die Zeit«, auf die Geschichte der USA bezogen, bedeutet dann, sich auf der Oberfläche zu bewegen, durch den Raum zu navigieren, Landschaften zu erschließen, sich auf Schauplätzen umzusehen, Zeitschichten freizulegen und lesbar zu machen. So entsteht ein Amerikabild nicht primär aus der Vertikale der zeitlichen Abfolge von Epochen, sondern aus der Horizontale des Raums. Für eine derartige Neuvermessung des amerikanischen Jahrhunderts werden dann Objekte, Quellen und Materialien wichtig, die sonst eher in Spezialdisziplinen — Verkehr, Kommunikation, Infrastruktur, Bau und Stilgeschichte — abgedrängt oder ausgewandert sind. Die Arbeit an Raumbildern und die Analyse von Orten und Landschaften rücken ins Zentrum. Besondere Aufmerksamkeit richtet sich auf die Gemeinplätze, die man in der Regel der Rede nicht für wert befindet, weil sie sich von selbst verstehen. Es sind aber gerade jene wie selbstverständlich in Anspruch genommenen Common Places und Alltagsroutinen, die Gesellschaften zusammenhalten und über die das Nachdenken in der Regel immer erst dann beginnt, wenn sie — wie in Katastrophenfällen oder Ausnahmezuständen — ausfallen und zu funktionieren aufgehört haben. Infrastrukturen und Netzwerke, Knotenpunkte und Verkehrskorridore sagen etwas aus über Beschleunigung und Verlangsamung, über Integration oder Desintegration, über soziale Stabilität und Mobilität, über gesellschaftliche Basiskräfte, die auch die Institutionen tragen. Die Geschichte der amerikanischen Gesellschafts- und Nationsbildung lässt sich, wie Donald W. Meinig in seinem großen Werk »The Shaping of America. A Geographical Perspective of 500 Years of History« gezeigt hat, entlang der Transformation des kontinentalen Raums beschreiben. Diese räumliche Prägung, die sich nicht nur in den Grundrissen von Städten und Kartenbildern von Landschaften niedergeschlagen hat, bezeichne ich als American Matrix.

Und hier kommt die andere Erfahrung ins Spiel, die Erfahrung des sowjetischen Wegs im 20. Jahrhundert. Es bedurfte nicht erst der Lektüre der berühmten Passage in Alexis de Tocquevilles »De la démocratie en Amérique«, wo er von den verschiedenen Wegen Amerikas und Russlands als den Mächten der Zukunft spricht, um einen vergleichenden Blick zu entwickeln. Wer sich auf beiden Seiten der Grenze bewegte, die Europa geteilt hat, konnte Verbindungslinien und Wahlverwandtschaften entdecken, für die der bloß auf das politische System fixierte Blick unempfindlich oder blind war. Der an den Phänomenen der sowjetischen Welt geschärfte Blick sieht anders und anderes auch in der amerikanischen Welt.

Das System der Highways, das den Kontinent durchzieht, wird als Form der Raumerschließung und Raumdurchdringung erst wirklich bedeutsam, wenn man etwas von der Wegelosigkeit im weiten russischen Raum erlebt hat. Die Bedeutung der...

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