Geschichte der Welt 600-1350 Geteilte Welten
von: Akira Iriye, Jürgen Osterhammel, Daniel G. König
Verlag C.H.Beck, 2023
ISBN: 9783406641121
Sprache: Deutsch
1192 Seiten, Download: 12228 KB
Format: EPUB, auch als Online-Lesen
1.VOM AMERIKANISCHEN DOPPELKONTINENT INS ÖSTLICHE EURASIEN
Um zu illustrieren, wie Isolation auf der einen und Verflechtung auf der anderen Seite die Periode zwischen 600 und 1350 prägten, betrachtet dieser Band die Globalgeschichte dieses Zeitraums aus der Perspektive verschiedener Makroregionen. Auf diese Weise berücksichtigt er regionale Besonderheiten und Blickwinkel, während er gleichzeitig erklärt, wie und zu welchem Grade diese Makroregionen Teil weitgespannter transregionaler Netzwerke protoglobaler Dimension wurden.
Der amerikanische Doppelkontinent
Aufgrund ihrer besonderen Position in der Globalgeschichte dieser Periode, widmet sich Kapitel 1 den amerikanischen Kontinenten. Zwar mag es im Untersuchungszeitraum sporadische Verbindungen zur Inselwelt des Pazifiks und in die asiatische und europäische Arktis gegeben haben. Dennoch hatten beide Kontinente an den stark verzahnten Interaktionssphären Eurafrasiens keinen Anteil. Der von Christopher S. Beekman, Justin Jennings und Michael D. Mathiowetz verfasste Beitrag macht deutlich, dass Nord- und Südamerika soziale Organisationsformen hervorbrachten, die von Jäger- und Sammlergesellschaften bis hin zu transregionalen Imperien reichten. Dieses Spektrum war zwar auch in Eurafrasien zu finden. Der Beitrag zeigt aber auf, dass amerikanische Entwicklungen zwischen 600 und 1350 auf ganz anderen Grundlagen aufbauten.
Auffällig ist zum einen, dass der amerikanische Doppelkontinent dieser Periode nicht im selben Maße Schriftsysteme produzierte, wie dies in Eurafrasien der Fall war. Dies macht es notwendig, den größeren Teil der präkolumbischen amerikanischen Geschichte auf der Basis von archäologischen und viel später aufgezeichneten schriftlichen und mündlichen Quellen aufzuarbeiten. Im Hinblick auf Konnektivität und Verflechtungen wird zum anderen deutlich, dass es im gesamten präkolumbischen Amerika keine Tiere gab, die als schwere Lastenträger oder Reittiere genutzt werden konnten, sodass auch Räder und Wagen keine Transportfunktionen übernahmen. Aus diesem Grund war es amerikanischen Gesellschaften nicht möglich, auf dieselbe Weise die intra- und interkontinentale Kommunikation zu beschleunigen und militärisch-politische Macht transregional auszuüben, wie dies in vielen Teilen Eurafrasiens der Fall war. Ein politisches Gebilde wie das mongolische Steppenimperium, dem es dank der überall verfügbaren Pferde und Kamele innerhalb weniger Jahrzehnte gelang, die Kontrolle über Regionen von China bis zum Mittelmeer zu übernehmen, war im präkolumbischen Amerika nicht denkbar. Kontinentale Verbindungen entstanden vielmehr im Tempo menschlicher Schritte, die jede Region mit ihren jeweiligen Nachbarn verbanden. Obwohl der maritime Transport geographische Zwischeninstanzen übergehen und Kommunikationskanäle zwischen weit voneinander entfernten Kollektiven ins Leben rufen konnte, scheint er nicht zur transregionalen Herrschaftsbildung genutzt worden zu sein.
Obwohl man auf den amerikanischen Kontinenten auf wichtige Stützen der Konnektivität verzichten musste, gelang es menschlichen Kollektiven von Nord nach Süd, beeindruckend lange Routen des intra- und interkontinentalen Austauschs zu schaffen, die oftmals sehr verschiedene geographische Zonen miteinander verbanden. Diese Routen durchkreuzten entweder große Teile Süd-, Mittel- oder Nordamerikas oder verbanden bestimmte Regionen dieser drei Teilkontinente miteinander. Ihre Existenz lässt sich anhand der weiten Verbreitung bestimmter Grundnahrungsmittel wie Mais, zahlreicher Exotika sowie transregionaler Phänomene nachweisen, darunter die sogenannte flower world-Ideologie, die Gemeinwesen zwischen der Isthmo-kolumbianischen Region und den heutigen US-Bundesstaaten Arizona und New Mexico miteinander teilten. Mittelamerika mitsamt der Karibik hatte als Verbindungsregion zwischen Nord und Süd natürlich eine bedeutende Rolle inne. Zwar machte es das Fehlen von Last- und Reittieren schwierig, logistische Herausforderungen über kurze, mittlere und längere Strecken zu bewältigen. Dennoch entstanden auf den amerikanischen Kontinenten riesige Agglomerationen, die Zehntausenden Nahrung und eine Heimstatt boten. Politische Gemeinwesen imperialen oder föderativen Charakters konnten nicht nur zu beeindruckender Größe anwachsen, sondern wiesen auch alle Eigenschaften hochorganisierter komplexer Gesellschaften auf. Aufgrund ihrer monumentalen Hinterlassenschaften und ihrer wichtigen, meist mündlich oder in ritualisierten Praktiken tradierten Beiträge zur Kosmologie wird die Zeit zwischen 600 und 1350 schließlich als Gründungsperiode von enormer Relevanz für die Identität und die spirituelle Weltsicht der indigenen Bevölkerungsgruppen Amerikas angesehen.
Der islamische Commonwealth
Angesichts der fast vernachlässigbaren Verbindungen zwischen den amerikanischen Kontinenten und dem Rest des Planeten im Zeitraum zwischen 600 und 1350 springt der Band nun über den Atlantik in die stark miteinander verflochtene trikontinentale Sphäre Eurafrasiens. Kapitel 2 zeichnet den Aufstieg eines soziokulturellen Makrosystems nach, das sich maßgeblich auf die Glaubenssätze des Islam stützte oder zumindest eine starke Verbindung zu ihnen aufwies. In vielen Varianten würden sie einen nachhaltigen Einfluss auf alle drei Kontinente der sogenannten «Alten Welt» haben.
Der Islam begann als eine religiöse Reformbewegung, die auf lokale Weltbilder und Praktiken sowie auf weitere religiöse, insbesondere christologische Debatten des spätantiken Mediterraneums reagierte. Bald entwickelte sich ein muslimisches Gemeinwesen, das im Zuge der arabisch-islamischen Expansion des 7. und 8. Jahrhunderts imperiale Dimensionen annahm. Diese imperiale Sphäre, die sich von der Iberischen Halbinsel im Westen bis in den Sindh im Osten erstreckte, stellte den Rahmen, innerhalb dessen sich langlebige Standards etablierten: Hier verbreiteten Muslime die arabische Sprache, der sie einen sakralen Status zusprachen; sie formulierten ihre monotheistische Botschaft mitsamt einem normativen Rahmen in immer konkreteren, aber auch facettenreicheren Varianten; sie entwickelten eine spezifische Form der Herrschaft des Rechts; nicht zuletzt schufen sie ein effektives hierarchisiertes System des religiösen Diversitätsmanagements.
Wie Daniel G. König in diesem Kapitel darlegt, wurden diese Standards von allen Gesellschaften unter muslimischer Herrschaft beibehalten, als das Expansionsimperium politisch zu zerfallen begann. Sie wurden durch eine wachsende muslimische Diaspora weit über das muslimische Herrschaftsgebiet hinaus verbreitet und von neu aufsteigenden muslimischen Gemeinwesen in der Peripherie des ursprünglichen Expansionsgebiets angenommen. Als Teil der Lebenswelt von Gruppen und Gesellschaften in einem Gebiet, das von Westeuropa und Westafrika bis zum Malaiischen Archipel und den großen Städten des imperialen China reichte, förderten diese Standards die Verbindung muslimischer Gemeinschaften in Eurafrasien miteinander. Sie bildeten die Stützpfeiler einer pulsierenden, dynamischen Sphäre des wirtschaftlichen und kulturellen Austauschs, die dieses Kapitel als postimperialen «islamischen Commonwealth» konzeptualisiert. Die arabisch-islamische Expansion, das daraus resultierende Imperium und der islamische Commonwealth übten einen nachhaltigen Einfluss auf Europa, West- und Zentralasien aus, restrukturierten subsaharische Kollektive in West- und Ostafrika und ließen bedeutende muslimische Diasporagemeinden in Süd- und Südostasien entstehen, die auf dem Malaiischen Archipel sogar die Herrschaft übernahmen. Vor diesem Hintergrund sprechen die folgenden Kapitel zu Europa, Afrika, Indien und dem östlichen Eurasien den muslimischen Einfluss auf die eine oder andere Weise an, heben aber auch regionale Spezifitäten hervor, die oftmals ein Gegengewicht zu diesem Einfluss auf die jeweilige Region bildeten.
Europa
Kapitel 3 wirft ein Licht auf historische Entwicklungen in Europa. Dieser Kontinent war in der Antike nur teilweise vom Römischen Reich kolonisiert worden und wurde nun zunehmend von christlichen Weltbildern und ihrem institutionellen Arm, der römischen Kirche, durchdrungen. Zwischen zwei Ausbrüchen der Pest im 6. und 14. Jahrhundert und parallel zur Entstehung...