Walter Ulbricht - Der deutsche Kommunist

Walter Ulbricht - Der deutsche Kommunist

von: Ilko-Sascha Kowalczuk

Verlag C.H.Beck, 2023

ISBN: 9783406806612

Sprache: Deutsch

1006 Seiten, Download: 1814 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Walter Ulbricht - Der deutsche Kommunist



Vom Schreiben einer Biographie.
Einleitung


«Eine Biographie ist eine Sammlung von Zufällen,
das Kontinuierliche besteht in der Sensibilität für Zufälle.»[1]

I.


Walter Ulbricht war mir immer fremd. Er ist mir auch beim Schreiben dieser Biographie nicht zu nahe geworden. Das ist keine nebensächliche Bemerkung. Kann ich denn über eine Persönlichkeit eine Biographie schreiben, die mir selbst in ihren menschlichsten Regungen fremd bleibt? Das ist eine methodische Frage, die in der Geschichtswissenschaft von Gewicht ist. Es geht um Nähe und Distanz. Bei Ulbricht brauchte ich nie Sorge zu haben, dass mir Distanz fehle. Aber wie steht es um Nähe? Würde es ganz ohne Empathie, ohne Sympathie gehen, jahrelang an einer Biographie zu arbeiten, mit deren Hauptprotagonisten ich mich nicht unbedingt in meiner Freizeit zum Abendessen verabreden wollen würde?

Ulbricht ist tot, schon 50 Jahre, da stellt sich die Frage nicht. Aber heimlich eben doch. Ich muss gestehen, ich musste an mir arbeiten – es gab mehr an Ulbricht, an dem Mann vor 1945, vor 1933, vor 1918, das mich faszinierte, interessierte, aufhorchen und staunen ließ, das mich beeindruckte, mehr, als ich vermutet hätte. Zuweilen musste ich mich zwicken am Schreibtisch und mir in der fröhlichen Einsamkeit zurufen: Ey, das ist Ulbricht, bleib cool, der darf dir nicht sympathisch sein, du darfst dich mit ihm nicht gemein machen. Ich musste mir vergegenwärtigen: Eine Biographie, egal von wem, ist keine lineare Entwicklungsgeschichte, bei der sich eines aus dem anderen wie von selbst, logisch, wie einem Gesetz folgend ergibt. Allen, die glauben, dass es so ist, möchte ich zurufen: Schau auf deine eigene Biographie. Und zwar nicht auf die, mit der du dich irgendwo bewirbst und alle so lange zu täuschen versuchst, bis du selbst an deinen stringenten Weg glaubst – nein, schau auf deinen echten Lebensweg. Niemand wird da jene Linearität entdecken (höchstens konstruieren), die zuweilen bekannten Menschen der Geschichte untergeschoben wird.

Ich entdeckte einen Ulbricht, den ich bislang nicht kannte – immer wieder und nicht nur in seinem Leben vor 1945, auch in den folgenden Jahrzehnten, als er mächtig wie nur ein anderer in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts war. Das stellte mich vor ein Problem, mit dem ich am allerwenigsten gerechnet hatte: Ulbricht war mir eben nicht grundsätzlich und immer unsympathisch. Ich merkte auf einmal, wie ich anfing, ihn innerlich in Schutz zu nehmen, wie ich so manches Urteil, so manche Beschreibung als unfair empfand. Er wurde unter der Hand zu «meinem Ulbricht». Eine nicht ganz untypische Berufsdelle. Das ging für mich persönlich ganz und gar nicht. Ulbricht war der Mauerbauer, derjenige, der Todesstrafen anordnete, der seine Ziele mit fast allen Mitteln zu erreichen gedachte – was soll da meine Sympathie, weil er einen freundlichen Brief schrieb, nett zur Tochter war, seine Frau liebte, mit den verflossenen Frauen höchst respektabel umging, sich aus einem prekären sozialen Milieu herausarbeitete, sich als Autodidakt eine beachtliche Bildung aneignete, klug und schlau, gewitzt und auch witzig war, gern auf einem Berg saß und in die Weite schaute?

Solche Zwickmühlen sind für Biographen nicht ungewöhnlich. Sucht man sich keinen Bösewicht der Geschichte aus, sondern eine Lichtgestalt, steht man übrigens vor der gleichen Herausforderung. Denn auch sie ist nicht immer eine lichte Gestalt, wie der Bösewicht nicht als solcher zur Welt kam. Das wirft die älteste aller Fragen, wenn es um Biographien geht, auf: Was genau bezweckt die Biographie eigentlich?

II.


Ich hatte mir dieses Buch ganz und gar anders vorgestellt. Vor allem knapper und pointierter.[2] Aber auch prosaischer. Das alles überlasse ich anderen. Es ist eine ganz und gar konventionelle Biographie geworden, die von den Leser*innen keine aktuellen Theoriekenntnisse abverlangt. Beim Schreiben zielte ich auf kein besonderes Publikum. Mir war allein wichtig, mich beim Schreiben und Lesen nicht zu langweilen. Nun ist Langeweile etwas sehr Subjektives. Vieles, was andere langweilt, finde ich höchst aufregend. Und umgekehrt. Ich jedenfalls habe mich beim Lesen meines Manuskriptes nicht gelangweilt. Einen kritischeren Leser hätte ich nicht finden können. Es ist mein Text, der mir nun nicht mehr gehört.

Was ich zu Beginn der Arbeit an diesem Buch nicht ahnte, aber dann mit großer Begeisterung betrieb: Um über Walter Ulbricht, einen der einflussreichsten deutschen Politiker des 20. Jahrhunderts, in einer Reihe stehend mit Konrad Adenauer, Willy Brandt, Friedrich Ebert, Helmut Kohl oder Adolf Hitler, zu schreiben, bedurfte es einer Grundlagenforschung größeren Ausmaßes. Die Biographie ist ein Geschichtsbuch, in dem sich Zeiten, Strukturen, Ereignisse und Person miteinander vermischen. Ulbricht ist ein Kind seiner Zeit, der seiner Umgebung und bald sogar seiner Zeit seinen Stempel aufdrückte. Und doch bedurfte es immer Stempelfarbe, um das sichtbar werden zu lassen. Die meisten von uns verfügen nicht über die Möglichkeit, den eigenen Stempel mit Farbe so zu benetzen, dass Abdrücke für andere deutlich werden. Ulbricht gehörte zu dieser Minderheit, deren Spuren irgendwann nicht mehr zu verwischen waren.

Hier aber lauert eine nächste Falle: Es gibt nicht diese Stringenz, die wir anderen und womöglich unserer eigenen Biographie gern andichten. Es bleibt nur die Möglichkeit, eine Biographie mit ihren Brüchen zu erzählen.[3] Hier kommt Biographen eine fast unlösbare Aufgabe zu: Wie soll ein Leben erzählt werden, dessen größte Kohärenz und Stringenz womöglich der Eigenname als andauernde Kontinuität ausdrückt?[4] Biographien sind durch Zufälle gekennzeichnet, die wir in der Regel nicht einmal kennen. Wie aber lässt sich etwas beschreiben, was gar nicht bekannt ist? Biograph*innen müssen sich an dieser Stelle entscheiden: wissenschaftliche Geschichtsschreibung oder prosaisches Kunstwerk?

Ich habe mein ganzes Leben lang immer und immer wieder Biographien und Autobiographien gelesen, seit meiner ausgehenden Kindheit. Kaum andere Bücher haben mich so begeistert. Biographien etwa von Stefan Zweig, aber auch von Ralph Dutli über Mandelstam (2003), Stephen Greenblatt über Shakespeare (2004), Andreas Guski über Dostojewski (2018) oder Golo Mann über Wallenstein (1971) haben mich tief beeindruckt – ich könnte viele hinzufügen. Ich habe sie alle als «prosaische Kunstwerke» gelesen. Begeistert. Sie erreichten nicht nur meinen Kopf, sondern auch mein Herz. Das gelang den Autoren, weil sie viele Fragen hatten. Aber auch einige Antworten. Sie wussten zuweilen sogar, was ihr Held dachte, fühlte, wollte. Keine Ahnung, woher eigentlich.

Ich bin kein prosaisch veranlagter Künstler. Meine Richtschnur sind die mir bekannten Quellen. Auch wenn ich davon zuhauf fand, erst in diesen Papierbergen konnte ich erkennen, dass mir die wichtigsten fehlten, immer fehlen würden. Sie kannte nicht einmal mein Protagonist. Bei mir ist kaum etwas von Gefühlen des Helden zu lesen. Woher sollte ich diese kennen? Ich weiß nicht, was sich in seinem Kopf zutrug. Ich weiß nicht, was er dachte, fühlte, woran er wirklich glaubte, was er wirklich wollte. In seinen Kopf konnte ich begrenzt, in sein Herz bis auf ganz wenige Ausnahmen gar nicht hineinblicken. Ich behaupte also nicht, was ich nicht wissen kann. In dieser Biographie kommt nur vor, was ich glaube beweisen zu können.

III.


«Es ist natürlich ein Irrglaube, dass eine Dokumentation grundsätzlich wahrhaftiger, authentischer ist als eine Fiktion. Jede Ordnung, jede Weglassung, jeder Kommentar können eine Nachricht entstellen oder verdrehen, selbst wenn dem die besten Absichten zugrunde liegen. Auch der Verfasser einer Dokumentation hat seine Vorurteile, auch er hat Vorstellungen und Thesen im Kopf, die sich oft genug durch die Art des Zugriffs bestätigen.»[5]

IV.


Ist diese Biographie eine objektive Darstellung? Nein, nein und nochmals nein. Ich glaube nicht an die Objektivität geschichtswissenschaftlicher Rekonstruktionen und Erzählungen. Ich glaube überhaupt nicht an Objektivität. Keine Versuchsanordnung ist frei von Subjektivität, was auch immer Wissenschaftsgläubige erzählen mögen. Ulbricht war übrigens so ein Wissenschaftsgläubiger, immer dem 19. Jahrhundert verhaftet geblieben, in vielerlei Hinsicht. Eine Geschichtenerzählerin, eine Biographin, eine Historikerin wählt aus, ordnet, strukturiert....

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