Wie viel Medizin überlebt der Mensch?

Wie viel Medizin überlebt der Mensch?

von: Günther Loewit

Haymon, 2012

ISBN: 9783709975398

Sprache: Deutsch

280 Seiten, Download: 1392 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Wie viel Medizin überlebt der Mensch?



Wenn Medizin krank macht


Alzheimer: Aufstieg einer Erkrankung

Die Alzheimer’sche Demenzerkrankung wird in der Öffentlichkeit häufig als eine „neue“ Bedrohung für die Gesundheit der Menschen wahrgenommen. Durch scheinbar steigende Fallzahlen ist die Erkrankung in den vergangenen Jahrzehnten immer stärker in den Mittelpunkt sowohl des medizinisch-pharmakologischen als auch des gesellschaftlichen Interesses gerückt. Aber die rapide Zunahme von betroffenen Patienten muss – im Licht des demografischen Wandels – differenziert gesehen und analysiert werden. Denn unter dem Titel „Alzheimer“ werden heute – medizinisch nicht ganz korrekt – verschiedene Arten von Demenzerkrankungen zusammengefasst, darunter auch ein Nachlassen des Kurzzeitgedächtnisses, das bei älteren Menschen gehäuft auftritt und aus medizinischer Sicht völlig normal ist. Aber nicht jeder vergessliche alte Mensch ist krank. Nicht jede Persönlichkeitsveränderung im höheren Alter ist mit Krankheit gleichzusetzen. Und vor allem ist nicht jeder alte Mensch automatisch ein Patient. Altern ist ein essentieller Bestandteil des Lebens und keine medizinisch behandelbare Krankheit. Abnützungsprozesse und psychische Veränderungen sind natürliche Teilaspekte dieses Alterns. Leider geraten solche triviale medizinische Leitsätze zunehmend in Vergessenheit. Als ob die Medizin selbst an Alzheimer leiden würde.

Namhafte Kritiker moderner Medizin behaupten, dass auch die heute weithin verwendete Diagnose Alzheimer-Demenz in vielen Fällen in Wirklichkeit überhaupt keine Krankheit darstellt, sondern im weitesten Sinne einfach eine Folge des „Altwerdens“ des Gehirns ab dem 80. bis 85. Lebensjahr darstellt. Eine normale Abnützung sozusagen.

Im Gegensatz zum heutigen Demenzbegriff war die von Alois Alzheimer beobachtete und protokollierte Patientin zum Zeitpunkt ihrer Erkrankung erst 51 Jahre alt und entspricht damit, zumindest vom Alter her, keineswegs dem Großteil der heute mit dem Etikett „Demenz“ versehenen Menschen. Auch in Anbetracht der Tatsache, dass es keine ursächlich wirkenden Medikamente gegen Alzheimer gibt, muss diesem Standpunkt der Vorzug gegeben werden. Alzheimer wäre demnach nichts anderes, als die Altersschwäche des Gehirns.

Die Krankheit gab es also vermutlich immer schon. Oder: Es hätte sie immer schon gegeben, wenn die Lebenserwartung schon früher heutige Werte erreicht hätte. Aber erst wenn ein Symptomenkomplex eindeutig beschrieben worden ist, erst wenn Ärzte und Öffentlichkeit ausreichend sensibilisiert sind und die zeitgeschichtlichen Bedingungen einen idealen Nährboden bieten, kann eine relativ „junge Krankheit“, wie die Demenz, ihren Siegeszug in dem traurigen Wettbewerb der Krankheiten antreten. Mit dem dramatischen Anstieg der Lebenserwartung in den westlichen Ländern im vergangenen Jahrhundert haben sich diese Bedingungen in Bezug auf Demenzerkrankungen perfekt erfüllt. Die Medien haben ein Übriges zum Bekanntwerden von Demenzerkrankungen getan, indem sie uns ausreichend mit herzzerreißenden Bildern und Berichten über das elende Zugrundegehen von prominenten Alzheimer-Persönlichkeiten versorgt haben. Denken wir nur an den ehemaligen US-Präsidenten und Schauspieler Ronald Reagan oder seinen beliebten Schauspielerkollegen Peter Falk, der 2011 an den Folgen der Alzheimer-Demenz verstarb. In den entsprechenden Medienberichten geht es immer um publikumswirksame Gerichtsentscheidungen, Entmündigungen, intime Familiengeschichten und um Geld. Dazu Bilder von traurig ausdrucks- und inhaltslosen Gesichtern ehemalig bedeutender Menschen. Genau der Stoff, aus dem mediale Kassenschlager gemacht sein müssen.

Wenn dann die Pharmaindustrie auch noch eine ge­eignete medikamentöse Behandlung anbieten kann, spricht auch für skeptische Geister nichts mehr da­gegen, einen beliebig zusammengestellten Symptomenkomplex als eigenständige Krankheit mit speziellen Therapiemöglichkeiten zu akzeptieren.

Betrachtet man den „medialen Hype“ um die verschiedenen Formen der Demenzerkrankung genauer, müsste man sich eigentlich fragen, warum noch niemand auf die Idee gekommen ist, die mangelnde Sprach- und Bewegungsfähigkeit von Säuglingen als eigenes Krankheitsbild zu definieren. Anders formuliert: Wenn es der Heilmittelindustrie eines Tages gelingen wird, die Windelphase von Säuglingen durch geeignete Medikamente zu verkürzen, wird ein einjähriges Kleinkind, das noch eine Windel braucht, vermutlich als „krank“ bezeichnet werden. Und das gilt natürlich auch für die geistig-mentale Entwicklung des Säuglings. Denn punktuell und isoliert betrachtet sind die geistigen Fähigkeiten von Kleinstkindern durchaus auch „alzheimerverdächtig“.

Unsere Gesellschaft ist nunmehr also hervor­ragend „alzheimersensibilisiert“ – oder, um den Jargon der Pharmawerbebranche zu verwenden: Zurzeit wird „Alzheimer“ regelrecht „gepusht“ (Financial Times Deutschland). Ein großartiges Geschäft ist zu erwarten, denn es geht um weit mehr als die sündhaft teuren Medikamente. Forschungsmöglichkeiten für neu auszubildende Mediziner, Heilbehelfe aller Art, tausende von Arbeitsplätzen für Ergotherapie und Pflege, juridischer Beistand bei der Erstellung von Patientenverfügungen und Sachwalterschaften, die fester Bestandteil einer modernen „Rechtsindustrie“ sind, krankheits­gerechte Unterbringung in Heimen und Pflegeeinrichtungen – eine nicht enden wollende Liste von Begleitumständen begleitet den kometenhaften Aufstieg dieser Erkrankungsform zu einer festen ökonomischen Größe. Aus der Sicht der „Gesundheitsanbieter“ bedeutet Alz­heimer schlicht und einfach Milliardenumsätze. Außer den Betroffenen und ihren Angehörigen möchte niemand auf Alzheimer verzichten.

Als „offizielles Geburtsjahr“ der Alzheimer’schen Erkrankung darf das Jahr 1901 angesehen werden. Damals wurde die erst 51 Jahre alte Auguste Deter wegen ihrer auffälligen Wesensveränderungen von ihrem Mann an die „Städtische Anstalt für Irre und Epileptische“ in Frankfurt am Main gebracht. Der aufnehmende Arzt hieß Dr. Alois Alzheimer.

„Wie heißen Sie?“, fragte Dr. Alzheimer.

„Auguste.“

„Familienname?“

„Auguste.“

„Wie heißt ihr Mann?“

Frau Deter soll etwas gezögert – und dann geantwortet haben:

„Ich glaube … Auguste“

„Ihr Mann?“

„Ach so.“

„Wie alt sind Sie?“

„51.“

„Wo wohnen Sie?“

„Ach, Sie waren doch schon bei uns.“

„Sind Sie verheiratet?“

„Ach, ich bin doch so verwirrt.“

„Wo sind Sie hier?“

„Da werden wir noch wohnen.“

„Wo ist Ihr Bett?“

Auguste Deter antwortete: „Wo soll es sein?“

Zwischen den einzelnen Fragen des aufnehmenden Arztes bemerkte sie mehrmals: „Ich habe mich sozusagen selber verloren.“ Alois Alzheimer nannte das Krankheitsbild von Auguste Deter „die Krankheit des Vergessens“.

Als Auguste Deter 1906 „völlig verblödet“, wie es in der Krankengeschichte heißt, in Frankfurt verstarb, ließ sich Alzheimer, der inzwischen das anatomische Labor der Königlichen Psychiatrischen Klinik in München leitete, die Krankenunterlagen sowie ihr konserviertes Gehirn schicken. Ziel seiner Untersuchungen war es, wie zu dieser Zeit üblich, gehirnanatomische Veränderungen als Ursache für die psychiatrische Erkrankung ausfindig zu machen. Und tatsächlich entdeckte Alois Alzheimer unter dem Mikroskop Milliarden von zugrunde gegangenen Nervenzellen in Auguste Deters Gehirn. Zu der damaligen Zeit erschien ihm das als eine ausreichende Erklärung für das Wesen der beschriebenen Krankheit. Therapeutische Möglichkeiten, um die von ihm beschriebene Krankheit zu lindern, gab es zu Alzheimers Zeiten noch nicht.

Bei der „37. Versammlung Südwestdeutscher Irrenärzte“ in Tübingen berichtete Alzheimer über seine Entdeckung unter dem Titel „Über eine eigenartige Erkrankung der Hirnrinde“. Doch die Reaktionen auf sein Referat waren enttäuschend. Fast keiner der anwesenden Kollegen interessierte sich für Alzheimers Ausführungen. Im Protokoll des Kongresses war zu Alzheimers Präsentation angemerkt: „Offenbar kein Diskussionsbedarf“. In den folgenden fünf Jahren wurden in der medizinischen Literatur elf ähnlich verlaufende Fälle beschrieben. Den offiziellen Namen Alzheimer-Krankheit führte erst der Psychiater Emil Kraepelin in der achten Auflage seines „Lehrbuchs der Psychiatrie“ aus dem Jahr 1910 ein. Damit war die von Alois Alzheimer beschriebene Krankheit innerhalb des medizinischen Wissens als eigenständiges Krankheitsbild etabliert.

Doch auch hundert Jahre nach dem Tod Alois Alzheimers 1915 weiß man immer noch nicht genau, wie die nach ihm benannte Krankheit entsteht und was ihre Ursachen sind. Lediglich die Fallzahlen und das damit verbundene öffentliche Interesse haben sich dramatisch verändert. Es gilt als erwiesen, dass ein hohes Lebensalter den einzigen gesicherten Risikofaktor darstellt, an Alzheimer zu erkranken: Nur 2 % der Erkrankten sind jünger als 65 Jahre, dann steigt die Kurve der betroffenen Menschen rapide an und erreicht ihren Höhepunkt bei den 85-Jährigen, von denen ungefähr 20 % an der Alzheimer’schen Erkrankung leiden. Für Medien, Forschung und Pharmaindustrie, Politiker und...

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