Israel schafft sich ab

Israel schafft sich ab

von: Gershom Gorenberg

Campus Verlag, 2012

ISBN: 9783593417677

Sprache: Deutsch

316 Seiten, Download: 3826 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Israel schafft sich ab



Kapitel 1 Die Straße nach Elisha

Die Lehranstalt von Elisha in der Westbank sieht nicht aus wie die Verkörperung dreier gesellschaftlicher Revolutionen. Die Mensa mit Blick auf den Hof ist ein Plattenbau, die Verwaltung ist in einem Bürocontainer untergebracht. Nur der steinverkleidete Studiensaal mit angeschlossener Synagoge ist ein festes Gebäude. Auch die Unterkünfte, die mehrere Dutzend Studenten beherbergen, bestehen aus verwitterten, in zwei konzentrischen Halbkreisen an den Hang gesetzten Mobilheimen. Am Eingang des Geländes hockt ein gelangweilter Unteroffizier der israelischen Streitkräfte in seinem Wachhäuschen. Er mustert mich durch das geöffnete Autofenster, sieht, dass ich Israeli bin, hört mit einem Ohr, dass ich eine Verabredung mit dem Vorsteher habe, und winkt mich durch.

Keine Säulengänge und Heldenstatuen zieren den Hof. Nichts hier wirkt monumental. Die Umbrüche in der israelischen Gesellschaft, für die Elisha steht, gleichen eher Verwerfungen im Untergrund: nur halb sichtbar, mächtig und fortlaufend in Bewegung. Sie treiben Risse in die Grundfesten des Staates. Aber sie sind die Folge menschlicher Entscheidungen, nicht das Werk von Naturgewalten.

Ich bin nach Elisha gekommen, weil mich die Sorge umtreibt, dass sich der Staat Israel in einer fortdauernden Zersetzung befindet, was sich an Elisha gleich in mehrfacher Hinsicht ablesen lässt.

Zunächst einmal ist dieser Ort ein illegaler Außenposten, eine von etwa 100 kleinen Siedlungen, die im ganzen Westjordanland errichtet wurden, seit das Oslo-Abkommen von 1993 Israel zu einem Verhandlungsfrieden mit den Palästinensern verpflichtete. Seit diesem Abkommen hat die israelische Regierung keine neuen Siedlungen in der Westbank mehr genehmigt. Angeblich haben sich die Siedlungsaktivisten auf dem israelisch besetzten Territorium seither also über staatliche Weisungen und geltende Gesetze hinweggesetzt. Doch in Wirklichkeit haben ihnen viele staatliche Stellen dabei unter die Arme gegriffen, während die gewählten Amtsträger ihre Aktivitäten entweder ignorierten oder sogar noch unterstützten. Das israelische Wohnungsbauministerium hat allein für Elisha über 300.000 Dollar für Infrastruktur und Gebäude aufgewendet. Die Armee stellt Soldaten, um den Ort zu schützen. Der Zweck solcher Außenposten besteht darin, die Lücken zwischen den größeren bereits bestehenden Siedlungen zu schließen, die jüdische Kontrolle über das Westjordanland auszudehnen und das Territorium, das den Palästinensern geblieben ist, zu zerstückeln. Tatsächlich handelt es sich um ein gewaltiges, jeder Rechtsstaatlichkeit spottendes Schurkenstück.

Gleichzeitig ist Elisha eine Institution strenggläubiger jüdischer Gelehrsamkeit. Die Studenten sind junge Männer unter 20. Der Vorsteher ist ein charismatischer Rabbiner mit einer ruhigen, warmen Stimme, der zufällig 1967 geboren wurde, im Jahr des israelischen Sieges im Sechstagekrieg. Aufgrund dieses als Wunder empfundenen Erfolges fegte eine neue Theologie durch das israelische Judentum. Sie deutete den Triumph auf dem Schlachtfeld als Teil von Gottes Plan, die Welt zu erlösen und die Menschheit ins vollendete Zeitalter des Messias zu führen. Diese Theologie sprach den Staat Israel und sein Militär heilig. Sie machte die Ansiedlung von Juden in den frisch eroberten Gebieten zu einem göttlichen Gebot, 'so wichtig wie alle anderen zusammengenommen'. Die neue Doktrin verkürzte den universellen Gehalt der jüdischen Moral und machte den militanten Nationalismus zu einem Pfeiler des Glaubens. Als der Vorsteher mir in seinem Büro seine erzieherische Botschaft erklärt, fallen die Schlüsselwörter dieser Theologie: Seine Studenten 'müssen verstehen', sinniert er, dass sie ein 'Teil der Erlösung Israels' seien. Wenn er eine Idee erläutert, weiten sich seine Augen und ein katzenhafter Schauder der Wohligkeit zuckt ihm über den Rücken. Zweifellos nimmt er an, dass ihm der orthodoxe Gesprächspartner, der ihm da mit seiner Kippa auf dem Haupt gegenübersitzt, in allem beipflichtet. Schließlich ist er in einer Gemeinschaft aufgewachsen, wo seine Ansichten, vermittelt in zahllosen staatlichen Schulen, allgemein geteilt werden.

Elisha ist jedoch eine ganz besondere Art von Schule: Sie ist eine vormilitärische Lehranstalt. Prinzipiell gilt in Israel ab 18 eine allgemeine Wehrpflicht. Allerdings gewährt die Armee Oberschulabsolventen einen Aufschub von einem und mehr Jahren für den Besuch solch vorbereitender Einrichtungen, die Körperertüchtigung mit Studien verbinden und in ihren Zöglingen den Wunsch bestärken, zur Armee zu gehen und sich in ihr hochzudienen. Eines der Ziele orthodoxer Lehranstalten ist es, den Glauben der Studenten zu festigen, damit sie dem Druck widerstehen, seine Ausübung während der Dienstzeit ruhen zu lassen. Ein weiteres Ziel besteht in der Schaffung eines Kaders ideologisch eingeschworener strenggläubiger Offiziere. Obwohl es sich um einen illegalen Außenposten handelt, wird Elisha auf der Website des israelischen Verteidigungsministeriums in der Liste vormilitärischer Lehranstalten aufgeführt. Das Erziehungsministerium stellt ein Drittel und mehr ihres Budgets bereit.

In den zwei Jahrzehnten seit der Einrichtung solcher Lehranstalten spielen religiöse Männer in den Kampfeinheiten der israelischen Armee und ihrem Offizierskorps eine immer größere Rolle. Doch der neue Rekrutensegen wirft eine beunruhigende Frage auf: Wie viel Einfluss hat ein politisierter Klerus im Militär? Der Antwort auf diese Frage könnte ein enormes Gewicht zufallen, falls Israel beschließen sollte, sich aus dem Westjordanland, das in der israelischen Amtssprache und in weiten Teilen des öffentlichen Diskurses mit seinen biblischen Namen Judäa und Samaria genannt wird, zurückzuziehen. Im Hof von Elisha will ich von einem jungen Mann mit einem dunklen Schatten von einem Bart wissen, was er denn tun würde, falls er den Befehl zur Räumung einer Siedlung erhielte. 'Ich werde nicht das religiöse Gesetz brechen, wenn all die Rabbiner sagen, dass ich es nicht tun soll', erwidert er.

Auf der Straße nach Elisha markiert kein Schild die Grenze zwischen Israel und dem besetzten Gebiet. Ich hatte auch keines erwartet. Seit 1967 ist der Staat bestrebt, diese Linie auszuradieren - auf den Karten und in der Landschaft. Die Straße führte ostwärts in die Berge der Westbank an dem palästinensischen Dorf Deir Nidham und den Vorstadthäusern der israelischen Siedlung Neveh Tzuf vorbei, bis ich schließlich vor das Maschendrahttor der Lehranstalt gelangte. Für die meisten Israelis, die sich nur selten über die Ränder des besetzten Territoriums hinauswagen, ist Elisha unsichtbar.

Doch Elisha stellt eine Wegscheide dar - nicht auf der Landkarte, sondern in der israelischen Geschichte. Die fortdauernde Besatzung, die Förderung des religiösen Extremismus, die Untergrabung von Recht und Gesetz durch die Regierung selbst, all das bedroht die Zukunft Israels. Insbesondere gerät dadurch sein demokratischer Anspruch in große Gefahr. Als Israeli bin ich überzeugt, dass mein Land die Richtung ändern muss. Meine Fragen - die Fragen, die ich in diesem Buch zu beantworten versuche - lauten: Wie konnte es mit Israel so weit kommen? Und welchen Weg muss das Land einschlagen, um zu gesunden und sich neu aufzubauen?

Es gibt zwei verbreitete Darstellungen von Israel. Die erste legt die Betonung auf seine Erfolge. Es hat Juden eine Zuflucht und Souveränität in ihrem eigenen Land verschafft. Sechs Jahrzehnte nach seiner Gründung ist Israel eine Rarität unter den Ländern, die ihre Unabhängigkeit in der Ära der Entkolonialisierung erlangt haben. Es ist eine parlamentarische Demokratie. Wirtschaftlich hat sich Israel von einem Drittweltland in die Erste Welt aufgeschwungen, von einem Obstausfuhrland zu einem Software-Exporteur.

Das zweite Porträt zeichnet ein Land im Konflikt, geprägt von Terroranschlägen gegen Israelis, aber auch von Straßensperren, Mauern, Siedlungen und israelischen Offensiven in Gaza und im Libanon. In den Medien und in wissenschaftlichen Analysen richtet sich aus diesem Blickwinkel das Augenmerk zunehmend auf die Besatzung des Territoriums, das Israel 1967 eroberte, und auf die Misere der dort lebenden Palästinenser. Das Regime im Westjordanland - sogar in Israel selbst - wird manchmal mit der Apartheid gleichgesetzt. Der Zionismus wird als eine kolonialistische Bewegung gezeichnet und die Vertreibung der Palästinenser 1948 als zwangsläufige Folge des Wesens des Zionismus. Am knappsten auf den Punkt gebracht lautet die Kritik, dass Israel eine 'Ethnokratie' sei, wie der Geopolitologe Oren Yiftachel 2006 in seinem gleichnamigen Buch argumentierte. Eine Ethnokratie, so erläutert er, ist ein Regime, das die 'Ausdehnung der dominanten Gruppe in dem umstrittenen Territorium vorantreibt, während es eine demokratische Fassade aufrechterhält'.

Diese beiden Darstellungen Israels bilden eine ebenso krasse wie irreführende Dichotomie. Nationen lassen sich nicht unbedingt in saubere Kategorien stecken, sie sind keine chemischen Elemente. Wie große literarische Figuren lässt sich Israel besser durch seine Widersprüche, durch seine tragischen Schwächen und heroischen Aspirationen porträtieren.

Der Zionismus ist, von innen heraus verstanden, die nationale Befreiungsbewegung der Juden. Diese Bewegung begann in Ost- und Mitteleuropa, ein Gebiet mit sich überschneidenden und ineinander verschränkten Volksgruppen, die Ende des 19. Jahrhunderts alle nach politischer Selbstbestimmung strebten. Das jüdische Leben in der Region war prekär und fruchtbar, doch nun gewann die Unsicherheit die Oberhand. Der Zionismus definierte die Juden in erster Linie als ethnische Gruppe statt als religiöse Gemeinschaft. Er betrachtete die Schaffung einer jüdischen Gesellschaft im 'Land Israel', auch Palästina genannt, als rechtmäßige Repatriierung eines staatenlosen, verfolgten Volkes in seine lange verlorene Heimat. Rückkehr, so postulierte der Zionismus, sei die einzig gangbare Lösung des ältesten Flüchtlingsproblems der Welt.

Aber diese Heimat war auch das Heimatland eines anderen Volkes, jener Araber, die sich nach und nach immer deutlicher als Palästinenser definierten. 1881, am Vorabend der Einwanderung europäischer Zionisten, überstieg die Zahl der Araber in Palästina die Zahl der Juden um das 18fache. Von den Ufern Palästinas aus betrachtet war der Zionismus eine Bewegung von Ausländern, die in das Land einfielen, um es zu besiedeln, zu kolonisieren. Der Streit zwischen diesen beiden Darstellungen ist wie eine Debatte darüber, ob Wasser in Wahrheit aus Sauerstoff oder Wasserstoff besteht. Dass beide zum Teil wahr sind, ist der Ausgangspunkt der Tragödie des israelisch-palästinensischen Konflikts.

Israel, gegründet 1948, war das Produkt dieser widersprüchlichen Geschichte. Noch unmittelbarer war es das Kind der Entscheidung der Vereinten Nationen vom 29. November 1947, Palästina in einen jüdischen und einen arabischen Staat aufzuteilen. Für den überwiegenden Teil der zionistischen Führung bedeutete Teilung die internationale Anerkennung des jüdischen Rechts auf einen eigenen Staat. Für die palästinensischen Araber bedeutete dieselbe Entscheidung, dass ausländische Mächte 'in einem Akt der Aggression' einen 'jüdischen Staat auf arabischem Boden' erzwangen. So wurde Israel aus dem Krieg geboren - zuerst mit den palästinensischen Arabern, dann mit den benachbarten arabischen Staaten. Für die Palästinenser war dieser Krieg die nakba, die Katastrophe, in deren Verlauf die meisten Araber flohen oder aus dem Land, aus dem bald Israel werden sollte, vertrieben wurden; für die israelischen Juden war es ein traumatischer Krieg ums Überleben. Wieder sind beide Beschreibungen wahr.

Bei seiner Geburt erbte Israel die Spaltungen im Inneren des Zionismus selbst - zwischen politischen Fraktionen, die das ganze Spektrum von der prosowjetischen Linken bis zur radikalen Rechten und zwischen einer säkularen Mehrheit und einer religiösen Minderheit abdeckten. Die Unabhängigkeitserklärung des neuen Landes verkündete, dass es das 'natürliche Recht des jüdischen Volkes' auf Souveränität verkörpere, versprach aber auch 'all seinen Einwohnern ungeachtet ihrer Religion, Volkszugehörigkeit oder ihres Geschlechts völlige Gleichheit in ihren sozialen und politischen Rechten'.

Das waren die Ausgangsbedingungen. Sie begrenzten die politischen Wahlmöglichkeiten, die den Staat Israel formten, aber sie legten nicht von vornherein das Ergebnis fest. Aus ein und denselben Anfängen hätte sich Israel sowohl zu einer prosowjetischen als auch zu einer rechtsgerichteten Diktatur entwickeln oder in inneren Kämpfen zerbrechen können. Stattdessen gelang es den Gründern Israels, wie ich im folgenden Kapitel darlegen werde, einen stabilen Staat zu errichten. Es war eine Demokratie, wenngleich mit einem schweren Fehler - am offenkundigsten sichtbar an seiner Behandlung der palästinensischen Minderheit, die nach der nabka, der Katastrophe, in Israel blieb. Andere Fehler waren weitaus unterschwelliger, wie jene frühen Entscheidungen, die über Jahrzehnte hinweg einen Wandel im strenggläubigen Judentum Israels bewirkten, indem sie dafür sorgten, dass die Ultraorthodoxen von der demokratischen Gesellschaft, die sie ablehnen, wirtschaftlich abhängig wurden. Und dennoch machte das Land in dieser Phase, die ich die Erste Israelische Republik nennen möchte, zwar ungleichmäßige, aber zuweilen bemerkenswerte Fortschritte in Richtung einer liberalen Demokratie.

Ironischerweise war der Sechstagekrieg vom Juni 1967 ein Wendepunkt: ein militärischer Sieg, der zu politischer Torheit führte. Er markierte den Beginn dessen, was ich das 'Zufallsimperium' nenne. Der Krieg überraschte Israel: Die Eroberungen des Westjordanlands, des Gazastreifens, der Golanhöhen und der Sinai-Halbinsel kamen unerwartet. Doch danach erwies sich ein unter Lähmung und Hybris leidendes israelisches Gemeinwesen als unfähig, harte politische Entscheidungen zu fällen, besonders über die Westbank und Gaza. Stattdessen hielt es die Palästinenser, die in diesen Territorien lebten, als Entrechtete unter einer Militärbesatzung, während es israelische Bürger auf dem besetzten Land ansiedelte.

Im Augenblick seines Triumphs begann Israel also, sich selbst zu zersetzen. Mit der langfristigen Herrschaft über die Palästinenser entfernte sich das Land vom Ideal der Demokratie, ein Abrücken, das wechselnde israelische Regierungen mit der Behauptung in Abrede stellten, die Besatzung sei nur eine vorübergehende Episode. Das Siedlungsunternehmen war ein breit angelegter Angriff auf die Rechtsstaatlichkeit. Entgegen einer verbreiteten Darstellung waren es säkulare Politiker, die mit der Besiedlung der besetzten Gebiete begannen und sie seither decken. Aber die ideologisch vernageltsten Siedler waren religiöse Zionisten - und die staatliche Unterstützung der Besiedlung beförderte die Verwandlung des religiösen Zionismus in eine Bewegung der radikalen Rechten.

Ein Land lässt sich, wie ich gesagt habe, am besten durch seine Widersprüche begreifen. In mancher Hinsicht hat sich Israel weiter demokratisiert. Die Wahl vom Mai 1977 nach dem Rücktritt von Jitzchak Rabin belegte, dass sich ein Machtwechsel in Israel friedlich vollziehen konnte, auch wenn er der rechtsgerichteten Likud unter Menachem Begin die Schlüssel zur Regierung in die Hand gab und ihr die Gelegenheit zu einer Eskalation der Besiedlungspolitik verschaffte. Das Oberste Gericht hat eine stärkere Rolle beim Schutz der Bürgerrechte übernommen. Die gewählte Führung der palästinensischen Bürger Israels ist selbstbewusster und unabhängiger geworden. 1993 signalisierte das Oslo-Abkommen die Anerkennung - durch zumindest der Hälfte der israelischen Öffentlichkeit -, dass Israel die Westbank und Gaza würde aufgeben müssen, um demokratisch zu bleiben.

Dennoch wurde Israel mit dem Oslo-Abkommen zum Reich der Zweideutigkeit. Es übergab den Gazastreifen und Bruchstücke des Westjordanlands einer beschränkten palästinensischen Selbstregierung, vermeintlich als ersten Schritt zum Ende der Besatzung. Das Eintreten für einen palästinensischen Staat an der Seite Israels, eine ehemals subversive Forderung, wurde zu einer Position der politischen Mitte. Selbst die rechten Premierminister Ariel Scharon und Benjamin Netanjahu legten schließlich ein Lippenbekenntnis zu einer Zwei-Staaten-Lösung ab. In akademischen Kreisen und in den Medien wurde die Debatte über die aktuelle und vergangene Politik des Landes offener denn je geführt.

Gleichzeitig hat sich Israels Verstrickung in die Westbank nur noch verstärkt. Seit 1993 ist die Zahl der Siedler im Westjordanland - außerhalb des annektierten Ostjerusalems - von 116.000 auf 300.000 gestiegen. Der Rechtsbruch, der dem Besiedlungsunternehmen stets anhaftete, ist bei den nach Oslo errichteten Außenposten nur noch offenkundiger; der religiöse Radikalismus ist extremer geworden. Die Aufgabe der Westbank gestaltet sich umso schwieriger, als das Militär sich gar nicht sicher sein kann, ob seine Offiziere und Soldaten einem Rückzugsbefehl überhaupt Folge leisten würden.

Gleichzeitig fährt die Regierung fort, die ultraorthodoxe Gemeinde zu subventionieren, und nährt damit eine andere Form des religiösen Extremismus. Über 20 Prozent der jüdischen Kinder in Israel gehen heute auf ultraorthodoxe Schulen. Ultraorthodoxe Parteien mit ihrer theokratischen Agenda sind mächtiger geworden. Sie verhindern nicht nur die Trennung von Staat und Religion, sondern stellen eine Gefahr für die wirtschaftliche Zukunft Israels dar. Sie sind außerdem ein wesentlicher Bestandteil des Bündnisses, das die Besiedlung der Westbank deckt.

Die besetzten Territorien sind keine überseeischen Kolonien. Die Gesetzlosigkeit, die hypernationalistische Politik und der Kampf zwischen Juden und Palästinensern um die Kontrolle des Landes lassen sich nicht hinter einer unsichtbaren Grenze abschotten. Siedler machen sich in jüdisch-arabischen Städten innerhalb Israels breit; rechtsgerichtete Politiker stellen palästinensische Bürger als Unglück Israels hin. Das ist ein weiterer Schlag gegen Israels Gründungsverpflichtung auf die Gleichheit 'all seiner Einwohner', ein weiterer Schritt auf dem Weg zur Demontage des Staates.

Ich möchte eines betonen: Die hier angesprochenen Tendenzen sind nicht die Früchte einer wohlüberlegten Politik. Einige verdanken sich dem Umstand, dass Warnungen vor einer lang währenden Herrschaft über ein anderes Volk in den Wind geschlagen wurden. Andere waren völlig unbeabsichtigte Folgen von Entscheidungen, mit denen man sich auf der sicheren Seite wähnte oder unmittelbar anstehende Probleme aus dem Weg räumen wollte. Viele sind die Folge eines Festhaltens an Werten, die vor 1948, als die Juden nach Selbstbestimmung strebten, sinnvoll waren, die aber in einem unabhängigen Staat keinen Sinn ergeben.

Doch diese Tendenzen bedrohen nun Israels demokratischen Anspruch und seine Existenz. Das Land muss und kann eine andere Richtung einschlagen. Zur Vervollständigung dieser Geschichte werde ich daher erläutern, was Israel tun muss, um sich neu aufzurichten, um die Spannung zwischen jüdischer Unabhängigkeit und liberaler Demokratie zu lösen und eine Zweite Israelische Republik aus der Taufe zu heben.

Israel ist nicht Südafrika, die Westbank nicht Algerien. Um Tolstoi zu paraphrasieren: Jedes unglückliche Land ist auf seine Weise unglücklich. Historische Parallelen zu anderen Ländern können uns hilfreiche Aufschlüsse geben, solange wir in Erinnerung behalten, dass die Ähnlichkeiten ihre Grenzen haben. Dies vorausgesetzt, möchte ich zwei historische Parallelen anführen, die Licht auf die Lage Israels werfen.

Die erste ist die Parallele zu Amerika. Die neugeborenen Vereinigten Staaten waren eine 'Siedlerethnokratie', um Oren Yiftachels Ausdruck zu benutzen. Diese versklavte dunkelhäutige Menschen und vertrieb die eingeborenen Amerikaner beharrlich von ihrem Land. Tatsächlich beschreibt der israelische Philosoph Avishai Margalit die von den amerikanischen Verfassungsvätern erzielte Einigung als Paradebeispiel für einen moralisch nicht zu verteidigenden 'faule[n] Kompromiss, der ein unmenschliches Regime der Grausamkeit und der Erniedrigung etabliert oder in seinem Fortbestand sichert', ein Regime, das 'Menschen so behandelt, als wären sie keine Menschen'.

Doch die Vereinigten Staaten waren auch ein bahnbrechendes Experiment in Demokratie, das Revolutionäre in anderen Teilen der Welt inspirierte. Offenbar kann ein Gemeinwesen als Demokratie und Ethnokratie geboren werden, wobei seine Politik in der Folge immer um den Widerspruch zwischen beiden kreisen wird.

Wir gründen unser Urteil darüber, welche Seite des Charakters eines Landes wohl seinen wahren Kern ausmacht, unausweichlich auf den späteren Verlauf seiner Geschichte, so wie die Bedeutung des ersten Kapitels eines Romans sich mit jedem weiteren, das man liest, verändert. Aus der Perspektive des 6. März 1857, nachdem das Oberste Gericht im Verfahren Dred Scott versus Sandford entschieden hatte, dass eine schwarze Person kein Bürger sein könne, sahen die Vereinigten Staaten wie eine Ethnokratie mit demokratischer Fassade aus. Aus der Perspektive des 5. November 2008 hingegen, dem Tag nach der Wahl ihres ersten afroamerikanischen Präsidenten, stellten sich die USA wie eine durch und durch demokratische Nation dar. So sehr uns die Geschichte hilft, der Gegenwart Sinn zu verleihen, verändert die Gegenwart beständig die Vergangenheit. Während sich die israelische Herrschaft über die Palästinenser immer mehr in die Länge zieht, fällt das Urteil über die Entstehungsgeschichte Israels in der Wissenschaft wie im Volk zunehmend strenger aus. Wenn Israel die Besatzung beendet und die Demokratie stärkt, wird es nicht nur seine Zukunft erlösen, sondern auch seine Vergangenheit.

Die zweite, sehr beschränkte Parallele ist die zu Pakistan. Dort hat eine Reihe häufig aus kurzfristigen Gründen getroffener politischer Entscheidungen die fundamentalistische Erziehung gestärkt, die Verfassung für eine Theokratie geöffnet und religiösen Radikalen eine machtvolle Rolle im Militär verliehen. Moderatere Formen der Religion, die einem modernen, säkularen Staat förderlich sind, haben darunter gelitten.

Israel ist gewiss noch nicht so weit auf diesem Weg vorangeschritten. Aber die Erfahrung in Pakistan sollte als Warnung dienen. Wenn die Führer eines Landes die Schutzherrschaft über religiöse Bewegungen übernehmen, die eine offene Gesellschaft ablehnen, richten sie doppelten Schaden an: am Staat und an der Religion. Die Förderung der religiösen Siedlerbewegung und der Ultraorthodoxie durch den israelischen Staat hat es beiden ermöglicht, einflussreicher, unnachgiebiger und intoleranter zu werden. Das Judentum wurde in diesem Prozess furchtbar entstellt.

Ich übe diese Kritik nicht als ein Gegner der Religion, sondern als religiöser Jude. Da dieses Buch keine Abhandlung über den jüdischen Glauben ist, werde ich nur kurz erklären, was aus meiner Sicht offenkundig ist: Die ersten Lehren aus den heiligen Schriften des Judentums in den biblischen Büchern Genesis und Exodus sind, dass alle Menschen nach dem Ebenbild Gottes erschaffen wurden und Freiheit verdienen. Den Grund, warum nach der Lehre der Bibel die Menschheit mit einem einzelnen Menschen beginnt, erläutert der Talmud so: 'Wer einen Menschen zerstört, hat eine ganze Menschenwelt zerstört', wer dagegen 'ein Menschenleben erhält, hat eine ganze Menschheit erhalten.' Der Zweck, dass Juden in ihrem Land zusammenleben, und die Bedingung dafür besteht darin, als Gesellschaft, nicht nur als Individuen, 'der Gerechtigkeit und nur der Gerechtigkeit zu folgen'.

Einer der vehementesten Kritiker der mit dem Staat verbundenen Religion in Israel war der strenggläubige Wissenschaftler und Theologe Yeshayahu Leibowitz. 'Es gibt keine größere Herabsetzung der Religion als die Erhaltung ihrer Institutionen durch einen säkularen Staat', schrieb er 1959. Nach den Eroberungen im Juni 1967 kritisierte Leibowitz als einer der Ersten das Festhalten an den besetzten Gebieten. Wenn die religiöse Rechte das Land Israel und den Staat Israel als heilig betrachtete, so sei das eine Vergötzung, argumentierte er: Land und menschlichen Institutionen könne man keine Heiligkeit zumessen. Leibowitz, der 1994 im Alter von 91 Jahren starb, bleibt als ein lautstarker, wütender Mann in Erinnerung - ein rationalistischer Philosoph mit dem unduldsamen Zorn eines Propheten. Im Rückblick auf seine frühen Schriften gegen die Besatzung scheint es mir offenkundig zu sein, dass er nicht nur die Korruption des Staates fürchtete, sondern auch die Korruption des Judentums. Die Zeit hat erwiesen, dass diese Furcht wohlbegründet war.

Ich möchte noch eine eher persönliche Anmerkung hinzufügen. Ich bin Israeli aus freien Stücken. Vor 35 Jahren bin ich als amerikanischer Student ins Land gekommen und habe mich entschlossen, als Bürger zu bleiben. Meine drei Kinder sind hier geboren. Zwei dienen gegenwärtig in den israelischen Streitkräften. Ich schreibe dieses Buch, weil ich um die Zukunft meines Landes besorgt bin. Ich habe Israel nicht für eine Wirklichkeit gewordene Utopie gehalten, als ich mich entschloss, hier zu leben. Allerdings war ich der Meinung, dass es sich um eine Gesellschaft handelte, in der gewöhnliche Menschen ein ungewöhnliches politisches Engagement an den Tag legten, und meine Hoffnung war, dass dies die Chancen auf einen Wandel erhöhen könnte. Ich glaubte, dass es eine Aussicht auf die Verwirklichung eines liberalen Zionismus gab: auf die Schaffung einer Gesellschaft, in der Juden in der Mehrheit sind, in der jüdische Dispute die Debatten der allgemeinen Gesellschaft sind - aber auch eine Gesellschaft mit vollen Rechten für Nichtjuden, eine Demokratie im vollsten Wortsinn. Ich glaube noch immer, dass dies möglich und notwendig ist, auch wenn viel Zeit vergeudet wurde.

Im Folgenden warte ich weder mit einer Geschichte Israels auf noch mit einem diplomatischen Plan für einen israelisch-palästinensischen Frieden. Vielmehr unternehme ich eine selektive und persönliche Reise durch Israels Vergangenheit und Gegenwart, um eine These zu verfolgen: dass Israel drauf und dran ist, sich selbst abzuschaffen, und sich wieder auf sich selbst besinnen muss.

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