Nachtzug nach Lissabon - Roman

Nachtzug nach Lissabon - Roman

von: Pascal Mercier

Carl Hanser Verlag München, 2012

ISBN: 9783446241169

Sprache: Deutsch

496 Seiten, Download: 1467 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Nachtzug nach Lissabon - Roman



1


Der Tag, nach dem im Leben von Raimund Gregorius nichts mehr sein sollte wie zuvor, begann wie zahllose andere Tage. Er kam um Viertel vor acht von der Bundesterrasse und betrat die Kirchenfeldbrücke, die vom Stadtkern hinüber zum Gymnasium führt. Das tat er an jedem Werktag der Schulzeit, und es war immer Viertel vor acht. Als die Brücke einmal gesperrt war, machte er nachher im Griechischunterricht einen Fehler. Das war vorher nie vorgekommen, und es kam auch nachher nie mehr vor. Die ganze Schule sprach tagelang nur von diesem Fehler. Je länger die Diskussion darüber dauerte, desto zahlreicher wurden diejenigen, die ihn für einen Hörfehler hielten. Schließlich gewann diese Überzeugung auch bei den Schülern, die dabeigewesen waren, die Oberhand. Es war einfach nicht denkbar, daß Mundus, wie alle ihn nannten, im Griechischen, Lateinischen oder Hebräischen einen Fehler machte.

Gregorius blickte nach vorn zu den spitzen Türmen des Historischen Museums der Stadt Bern, hinauf zum Gurten und hinunter zur Aare mit ihrem gletschergrünen Wasser. Ein böiger Wind trieb tiefliegende Wolken über ihn hinweg, drehte seinen Schirm um und peitschte ihm den Regen ins Gesicht. Jetzt bemerkte er die Frau mitten auf der Brücke. Sie hatte die Ellbogen auf das Geländer gestützt und las im strömenden Regen, was wie ein Brief aussah. Sie mußte das Blatt mit beiden Händen festhalten. Als Gregorius näher kam, zerknüllte sie das Papier plötzlich, knetete es zu einer Kugel und warf die Kugel mit einer heftigen Bewegung in den Raum hinaus. Unwillkürlich war Gregorius schneller gegangen und war jetzt nur noch wenige Schritte von ihr entfernt. Er sah die Wut in ihrem bleichen, regennassen Gesicht. Es war keine Wut, die sich in lauten Worten würde entladen können, um dann zu verrauchen. Es war eine verbissene, nach innen gewandte Wut, die schon lange in ihr glimmen mußte. Jetzt stützte sich die Frau mit gestreckten Armen auf das Geländer, und ihre Fersen glitten aus den Schuhen. Gleich springt sie. Gregorius überließ den Schirm einem Windstoß, der ihn übers Brückengeländer hinaustrieb, warf seine Tasche voller Schulhefte zu Boden und stieß eine Reihe von lauten Flüchen aus, die nicht zu seinem gewohnten Wortschatz gehörten. Die Tasche ging auf, und die Hefte glitten auf den nassen Asphalt. Die Frau drehte sich um. Für einige Augenblicke sah sie reglos zu, wie die Hefte vom Wasser dunkler wurden. Dann zog sie einen Filzstift aus der Manteltasche, machte zwei Schritte, bückte sich zu Gregorius hinunter und schrieb ihm eine Folge von Zahlen auf die Stirn.

»Entschuldigen Sie«, sagte sie auf französisch, atemlos und mit fremdländischem Akzent, »aber ich darf diese Telefonnummer nicht vergessen und habe kein Papier bei mir.«

Jetzt blickte sie auf ihre Hände, als sähe sie sie zum erstenmal.

»Ich hätte natürlich auch…«, und nun schrieb sie, zwischen Gregorius’ Stirn und der Hand hin und her blickend, die Nummer auf den Handrücken. »Ich… ich wollte sie nicht behalten, ich wollte alles vergessen, aber als ich den Brief dann fallen sah… ich mußte sie festhalten.«

Der Regen auf den dicken Brillengläsern trübte Gregorius die Sicht, und er tastete ungeschickt nach den nassen Heften. Wiederum, so schien ihm, glitt die Spitze des Filzstifts über seine Stirn. Doch dann merkte er, daß es jetzt der Finger der Frau war, die mit einem Taschentuch die Zahlen wegzuwischen versuchte.

»Es ist eine Zumutung, ich weiß…«, und nun begann sie, Gregorius beim Aufsammeln der Hefte zu helfen. Er berührte ihre Hand und streifte ihr Knie, und als sie sich beide nach dem letzten Heft streckten, stießen sie mit dem Kopf zusammen.

»Vielen Dank«, sagte er, als sie sich gegenüberstanden. Er deutete auf ihren Kopf. »Tut es sehr weh?«

Abwesend, mit gesenktem Blick, schüttelte sie den Kopf. Der Regen prasselte auf ihr Haar und lief ihr übers Gesicht.

»Kann ich ein paar Schritte mit Ihnen gehen?«

»Äh… ja, sicher«, stotterte Gregorius.

Schweigend gingen sie zusammen bis zum Ende der Brücke und weiter in Richtung Schule. Das Zeitgefühl sagte Gregorius, daß es nach acht war und die erste Stunde bereits begonnen hatte. Wie weit war »ein paar Schritte«? Die Frau hatte sich seinem Gang angepaßt und trottete neben ihm her, als ginge es den ganzen Tag so weiter. Sie hatte den breiten Kragen des Mantels so weit aufgestellt, daß Gregorius von der Seite nur ihre Stirn sah.

»Ich muß dort hinein, ins Gymnasium«, sagte er und blieb stehen. »Ich bin Lehrer.«

»Kann ich mitkommen?« fragte sie leise.

Gregorius zögerte und fuhr sich mit dem Ärmel über die nasse Brille. »Jedenfalls ist es dort trocken«, sagte er schließlich.

Sie gingen die Stufen hoch, Gregorius hielt ihr die Tür auf, und dann standen sie in der Halle, die besonders leer und still erschien, wenn die Stunden begonnen hatten. Ihre Mäntel tropften.

»Warten Sie hier«, sagte Gregorius und ging zur Toilette, um ein Handtuch zu holen.

Vor dem Spiegel trocknete er die Brille und wischte sich das Gesicht ab. Die Zahlen auf der Stirn waren noch immer zu erkennen. Er hielt einen Zipfel des Handtuchs unter das warme Wasser und wollte gerade zu reiben beginnen, als er mitten in der Bewegung innehielt. Das war der Augenblick, der alles entschied, dachte er, als er sich das Geschehen Stunden später in Erinnerung rief. Mit einemmal nämlich war ihm klar, daß er die Spur seiner Begegnung mit der rätselhaften Frau gar nicht auswischen wollte.

Er stellte sich vor, wie er nachher mit einer Telefonnummer im Gesicht vor die Klasse treten würde, er, Mundus, der verläßlichste und berechenbarste Mensch in diesem Gebäude und vermutlich in der gesamten Geschichte der Schule, seit mehr als dreißig Jahren hier tätig, ohne Fehl und Tadel in seinem Beruf, eine Säule der Institution, ein bißchen langweilig vielleicht, aber geachtet und sogar drüben an der Hochschule gefürchtet wegen seines stupenden Wissens in den alten Sprachen, liebevoll verspottet von seinen Schülern, die ihn in jedem Jahrgang von neuem auf die Probe stellten, indem sie ihn mitten in der Nacht anriefen und nach der Konjektur für eine entlegene Stelle in einem alten Text fragten, nur um jedesmal aus dem Kopf eine ebenso trockene wie erschöpfende Auskunft zu bekommen, die einen kritischen Kommentar zu anderen möglichen Meinungen mit einschloß, alles aus einem Guß und mit einer Ruhe vorgetragen, die nicht die Spur von Ärger über die Störung erkennen ließ – Mundus eben, ein Mann mit einem unmöglich altmodischen, geradezu altertümlichen Vornamen, den man einfach abkürzen mußte und nicht anders als so abkürzen konnte, eine Abkürzung, die überdies das Wesen dieses Mannes ans Licht hob, wie kein anderes Wort es gekonnt hätte, denn was er als Philologe in sich herumtrug, war in der Tat nichts weniger als eine ganze Welt, oder vielmehr mehrere ganze Welten, da er neben jeder lateinischen und griechischen Textstelle auch jede hebräische im Kopf hatte, womit er schon manchen Lehrstuhlinhaber für das Alte Testament in Erstaunen versetzt hatte. Wenn ihr einen wahren Gelehrten sehen wollt, pflegte der Rektor zu sagen, wenn er ihn einer neuen Klasse vorstellte: Hier ist er.

Und dieser Gelehrte, dachte Gregorius jetzt, dieser trockene Mann, der einigen nur aus toten Wörtern zu bestehen schien und der von Kollegen, die ihm seine Beliebtheit neideten, gehässig der Papyrus genannt wurde – dieser Gelehrte würde mit einer Telefonnummer den Raum betreten, die ihm eine verzweifelte, offenbar zwischen Wut und Liebe hin- und hergerissene Frau auf die Stirn gemalt hatte, eine Frau in einem roten Ledermantel und mit einem märchenhaft weichen, südländischen Tonfall, der wie ein endlos in die Länge gezogenes Flüstern klang, das einen schon durch das bloße Anhören zum Komplizen machte.

Als Gregorius ihr das Handtuch gebracht hatte, klemmte die Frau einen Kamm zwischen die Zähne und frottierte mit dem Tuch das lange schwarze Haar, das in dem Mantelkragen lag wie in einer Schale. Der Hausmeister betrat die Halle und warf, als er Gregorius sah, einen verwunderten Blick auf die Uhr über dem Ausgang und dann auf seine Armbanduhr. Gregorius nickte ihm zu, wie er es immer tat. Eine Schülerin hastete an ihnen vorbei, drehte sich im Lauf zweimal um und lief weiter.

»Ich unterrichte dort oben«, sagte Gregorius zu der Frau und zeigte durchs Fenster hinauf zu einem anderen Gebäudeteil. Sekunden verrannen. Er spürte seinen Herzschlag. »Wollen Sie mitkommen?«

Gregorius konnte später nicht glauben, daß er das wirklich gesagt hatte; aber es mußte wohl so gewesen sein, denn auf einmal gingen sie nebeneinander auf das Klassenzimmer zu, er hörte das Quietschen seiner Gummisohlen auf dem Linoleum und das Klacken der Stiefeletten, wenn die Frau den Fuß aufsetzte.

»Was ist Ihre Muttersprache?« hatte er sie vorhin gefragt.

»Português«, hatte sie geantwortet.

Das o, das sie überraschend wie ein u aussprach, die ansteigende, seltsam gepreßte Helligkeit des ê und das weiche sch am Ende fügten sich für ihn zu einer Melodie, die viel länger klang, als sie wirklich war, und die er am liebsten den ganzen Tag lang gehört hätte.

»Warten Sie«, sagte er jetzt, holte sein Notizbuch aus der Jacke und riß ein Blatt heraus: »Für die Nummer.«

Er hatte schon die Hand auf der Klinke, da bat er sie, das Wort von vorhin noch einmal zu sagen. Sie wiederholte es, und da sah er sie zum erstenmal lächeln.

Das Schwatzen brach schlagartig ab, als sie das Klassenzimmer betraten. Eine Stille, die ein einziges...

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