Die Brandmauer - Roman

Die Brandmauer - Roman

von: Henning Mankell

Paul Zsolnay Verlag, 2012

ISBN: 9783552056114

Sprache: Deutsch

576 Seiten, Download: 682 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Brandmauer - Roman



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Als Kurt Wallander sich in der Mariagata in Ystad in seinen Wagen setzte, war ihm beklommen zumute. Es war kurz nach acht am Morgen des 6. Oktober 1997. Während er aus der Stadt hinausfuhr, fragte er sich, warum er nicht abgelehnt hatte. Er hegte einen tiefen und intensiven Widerwillen gegen Beerdigungen. Dennoch war er jetzt zu einer solchen unterwegs. Weil er noch viel Zeit hatte, beschloß er, nicht den direkten Weg nach Malmö zu nehmen. Er bog statt dessen auf die Küstenstraße in Richtung Svarte und Trelleborg ab. Zu seiner Linken lag das Meer. Eine Fähre lief gerade ein.

Er dachte, daß dies die vierte Beerdigung in sieben Jahren war. Zuerst war sein Kollege Rydberg an Krebs gestorben. Es war eine langwierige und quälende Krankheitszeit gewesen. Wallander hatte ihn oft im Krankenhaus besucht, in dem er dahinsiechte. Rydbergs Tod war für Wallander ein schwerer Schlag. Es war Rydberg gewesen, der einen Polizisten aus ihm gemacht hatte. Er hatte Wallander gelehrt, die richtigen Fragen zu stellen. Mit Rydbergs Hilfe hatte Wallander sich die schwere Kunst angeeignet, einen Tatort zu interpretieren. Bevor Wallander mit Rydberg zusammenzuarbeiten begann, war er ein äußerst durchschnittlicher Polizist gewesen. Erst viel später, als Rydberg schon lange tot war, hatte Wallander erkannt, daß er selbst nicht nur Beharrlichkeit und Energie besaß, sondern auch gewisse Fähigkeiten. Doch noch immer führte er im stillen Gespräche mit Rydberg, wenn eine komplizierte Ermittlung ihm zu schaffen machte und er nicht wußte, in welche Richtung er sich wenden sollte. Noch immer wurde ihm fast täglich bewußt, wie sehr er Rydberg vermißte.

Dann war plötzlich sein Vater gestorben. Er war in seinem Atelier in Löderup einem Schlaganfall erlegen. Es war jetzt drei Jahre her. Nach wie vor erschien es Wallander unbegreiflich, daß sein Vater nicht mehr dasein sollte, von seinen Gemälden und dem ewigen Geruch nach Terpentin und Ölfarben umgeben. Das Haus in Löderup war nach dem Tod seines Vaters verkauft worden. Wallander war zuweilen vorbeigefahren und hatte gesehen, daß jetzt andere Menschen dort wohnten. Aber er hatte nie angehalten. Dann und wann besuchte er das Grab, fast jedesmal mit einem diffusen Gefühl von schlechtem Gewissen. Er stellte fest, daß die Abstände zwischen den Besuchen von Mal zu Mal größer wurden. Und er merkte, daß es ihm immer schwerer fiel, sich das Gesicht seines Vaters in Erinnerung zu rufen.

Ein Mensch, der tot war, wurde am Ende zu einem Menschen, der nicht existiert hatte.

Dann Svedberg. Sein Kollege, der im Jahr zuvor in seiner eigenen Wohnung brutal ermordet worden war. Damals hatte Wallander darüber nachgedacht, wie wenig er im Grunde von den Menschen wußte, mit denen er zusammenarbeitete. Svedbergs Tod hatte Dinge ans Licht gebracht, von denen er nicht einmal ansatzweise etwas geahnt hatte.

Und jetzt war er auf dem Weg zu seiner vierten Beerdigung, der einzigen, zu der er eigentlich nicht hätte fahren müssen.

Sie hatte am Mittwoch angerufen. Wallander hatte gerade sein Büro verlassen wollen. Es war spät am Nachmittag. Er hatte Kopfschmerzen, nachdem er über einem trostlosen Ermittlungsmaterial gebeugt gesessen hatte, in dem es um die Beschlagnahme von Schmuggelzigaretten aus einem Lastzug ging, der mit einer Fähre gekommen war. Die Spuren hatten ins nördliche Griechenland geführt und sich da verloren. Er hatte mit der griechischen und der deutschen Polizei Informationen ausgetauscht. Aber den Hintermännern waren sie trotzdem nicht nähergekommen. Jetzt wurde ihm klar, daß man den Fahrer, der wahrscheinlich nichts von dem Schmuggelgut in seiner Ladung gewußt hatte, zu ein paar Monaten Gefängnis verurteilen würde. Dramatischer würde es nicht werden. Wallander war sicher, daß täglich Schmuggelzigaretten nach Ystad kamen, und er bezweifelte, daß es ihnen jemals gelingen würde, den Verkehr zu stoppen.

Außerdem war sein Tag dadurch verdorben worden, daß er heftig mit dem Staatsanwalt aneinandergeraten war, der Per Åkeson vertrat. Åkeson war vor einigen Jahren in den Sudan gegangen und schien nicht an eine Rückkehr zu denken. Bei Åkesons Aufbruch und wenn Wallander jetzt die Briefe las, die er regelmäßig bekam, verspürte er ein nagendes Gefühl von Neid. Åkeson hatte etwas gewagt, von dem Wallander nur geträumt hatte. Jetzt wurde er bald fünfzig. Er wußte, auch wenn er es sich selbst nicht richtig eingestehen wollte, daß die großen, wichtigen Entscheidungen in seinem Leben wahrscheinlich hinter ihm lagen. Etwas anderes als Polizist würde er nicht mehr werden. Er konnte bis zu seiner Pensionierung versuchen, ein besserer Ermittler zu werden. Und vielleicht etwas von seinem Können an seine jüngeren Kollegen weiterzugeben. Doch darüber hinaus gab es nichts, was er als Wendepunkt seines Lebens vor sich sehen konnte. Es gab keinen Sudan, der auf ihn wartete.

Er hatte mit der Jacke in der Hand dagestanden, als sie anrief.

Zuerst hatte er nicht gewußt, wer sie war. Dann hatte er erkannt, daß es Stefan Fredmans Mutter war. Gedanken und Erinnerungsbilder rasten ihm durch den Kopf. In wenigen Sekunden hatte er sich die Ereignisse wieder vergegenwärtigt, die jetzt drei Jahre zurücklagen.

Der Junge, der sich als Indianer maskiert und versucht hatte, Rache zu nehmen an den Männern, die seine Schwester in den Wahnsinn getrieben und seinem kleinen Bruder Todesangst eingejagt hatten. Einer der von ihm Getöteten war der eigene Vater gewesen. Wallander hatte sich an das entsetzliche Schlußbild erinnert, als der Junge neben dem Körper seiner toten Schwester kniete und weinte. Von dem, was nachher passiert war, wußte Wallander nicht viel. Außer daß der Junge natürlich nicht im Gefängnis gelandet war, sondern in der geschlossenen Abteilung einer psychiatrischen Anstalt.

Jetzt rief Anette Fredman an, um ihm zu sagen, daß Stefan tot war. Er hatte sich das Leben genommen, indem er sich von dem Gebäude hinabgestürzt hatte, in dem er eingeschlossen gehalten worden war. Wallander hatte ihr sein Beileid ausgesprochen und irgendwo in seinem Inneren eine ganz eigene Trauer verspürt. Vielleicht war es auch nur ein Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Aber er hatte nicht verstanden, warum sie ihn eigentlich angerufen hatte. Er hatte mit dem Telefonhörer in der Hand dagestanden und versucht, sich ihr Aussehen in Erinnerung zu rufen. Er war ihr zwei- oder dreimal begegnet, in einem Vorort von Malmö, als sie nach Stefan fahndeten und sich an den Gedanken zu gewöhnen versuchten, daß ein Vierzehnjähriger diese brutalen Gewaltverbrechen begangen haben könnte. Wallander erinnerte sich daran, wie scheu sie gewirkt hatte und unter welch starkem Druck sie gestanden haben mußte. Sie hatte etwas Gehetztes an sich gehabt, als fürchtete sie die ganze Zeit, daß das Schlimmste geschehen würde. Was dann ja auch der Fall gewesen war. Wallander erinnerte sich vage, daß er sich gefragt hatte, ob sie süchtig war. Vielleicht trank sie zuviel, oder sie betäubte ihre Ängste mit Tabletten. Außerdem fiel es ihm schwer, sich ihr Gesicht vorzustellen. Die Stimme, die ihm aus dem Hörer entgegenkam, war ihm fremd.

Dann hatte sie ihr Anliegen vorgebracht.

Sie bat ihn, zur Beerdigung zu kommen. Weil fast niemand sonst dabei wäre. Nur sie und Stefans kleiner Bruder Jens waren noch übrig. Wallander war trotz allem ein freundlicher Mann, der es gut mit ihnen gemeint hatte. Er versprach zu kommen. Und bereute es sogleich. Aber da war es schon zu spät. Hinterher hatte er versucht herauszufinden, was mit dem Jungen eigentlich passiert war, nachdem sie ihn gefaßt hatten. Er sprach mit einem Arzt in der psychiatrischen Anstalt, in der Stefan untergebracht worden war. In den Jahren nach der Einweisung war Stefan fast ganz verstummt und hatte alle seine inneren Türen geschlossen. Aber Wallander erfuhr, daß der Junge, der tot auf dem Asphalt gelegen hatte, Kriegsbemalung getragen hatte. Farben und Blut hatten sich zu einer schreckenerregenden Maske vermischt, die vielleicht mehr über die Gesellschaft erzählte, in der Stefan gelebt hatte, als über seine gespaltene Persönlichkeit.

Wallander fuhr langsam. Als er am Morgen den dunklen Anzug angezogen hatte, war er erstaunt, daß die Hose paßte. Er hatte also abgenommen. Seit er vor zwei Jahren erfahren hatte, daß er zuckerkrank war, hatte er seine Eßgewohnheiten geändert, Sport getrieben und auf sein Gewicht geachtet. Anfangs war er im Übereifer mehrmals am Tag auf die Waage gestiegen, bis er sie schließlich wütend fortgeworfen hatte. Wenn er es nicht schaffte, auch ohne ständige Kontrolle abzunehmen, konnte er es ebensogut bleibenlassen.

Doch der Arzt, den er regelmäßig besuchte, hatte nicht nachgegeben, sondern Wallander eindringlich ermahnt, seine nachlässige Lebensweise mit unregelmäßigen und ungesunden Mahlzeiten und ohne die geringste Dosis Bewegung aufzugeben. Schließlich hatte es gewirkt. Wallander hatte sich einen Trainingsanzug und ein Paar Turnschuhe gekauft und angefangen, regelmäßige Spaziergänge zu machen. Als Martinsson vorschlug, gemeinsam joggen zu gehen, hatte Wallander sich jedoch brüsk geweigert. Es gab eine Grenze, und für ihn hörte der Spaß beim Joggen auf. Jetzt hatte er sich eine Runde von einer Stunde zurechtgelegt, die von der Mariagata durch Sandskogen und zurück führte. Mindestens viermal die Woche zwang er sich dazu, sie zu gehen. Seine Besuche bei verschiedenen Fast-Food-Lokalen hatte er auch eingeschränkt. Und sein Arzt hatte einen Fortschritt erkannt. Der Blutzuckerspiegel war gesunken, und Wallander hatte abgenommen. Eines Morgens beim Rasieren hatte er außerdem festgestellt, daß...

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