Zitronen - Roman | Ein sprachgewaltiges Buch über das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom

Zitronen - Roman | Ein sprachgewaltiges Buch über das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom

von: Valerie Fritsch

Suhrkamp, 2024

ISBN: 9783518778630

Sprache: Deutsch

186 Seiten, Download: 1608 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Zitronen - Roman | Ein sprachgewaltiges Buch über das Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom



I


Es war eine kühle, grüne Gegend. Immer roch es nach Regen, auch wenn er selten fiel. Kam in den Tälern der Frühling, wurde die ausgezehrte, magere Welt des Winters wieder groß und bewohnbar, aber wer hinauf zu den Bergspitzen sah, konnte noch im Sommer frieren. Die Katzen jagten auf den Wiesen, saßen im wachsenden Gras und warteten auf die Mäuse wie ein schöner Tod im Sonnenschein. Das Dorf war so klein, dass man sich, wenn man sich umschaute, nie sicher war, ob jeder jeden kannte oder niemand niemanden, nicht einmal den unter seinem eigenen Dach. Den Kindern erzählten die Alten, auf der Straße müsse man alle Männer grüßen, weil man nie wissen könne, wer der Vater sei. Überall gab es Geschichten, hinter denen man rasch die Tür zuzog. Hinter der einen Tür wartete eine Familie seit Jahren auf ein Mädchen, das verschwunden war, und zuckte Mal um Mal zusammen, wenn auf der Straße ein fremdes Kind im blauen Kleid vorüberging, hinter der anderen lebte ein Mann im Werkzeugkeller, nachdem seine Frau einen Liebhaber ins Haus geholt hatte. Es gab Häuser mit immer geschlossenen Fenstern, die man nur öffnete, wenn jemand starb, damit die Seele entweichen konnte, und so reichte den Bewohnern des Dorfes ein Blick von der Straße, um zu wissen, wann der Tod Ein- und Auszug in diesen Zimmern hielt. Das aufgerissene Fenster war sein letztes Zeichen, bei dem die Frauen schon nach Salz und Zucker griffen und zu backen begannen, um bald einen warmen Kuchen als Zeugnis ihres Beileids auf den Treppenabsatz zu stellen.

Die Drachs lebten am Rande des Ortes, gerade so abgelegen, dass man keinen Menschen sah, aber ging man nur um die richtige Ecke, schon mit einem Bein im Vorraum eines Nachbarn stand. Das Haus, das Lilly Drach nach dem frühen Tod ihrer Eltern geerbt hatte, war auf eigenwillige Art und Weise schön, aber unfertig und schmutzig. Zu Reparaturen und Neuerungen fehlten die Mittel, das Geld war so knapp, dass man darüber gar nicht erst sprach, aber gleich losschrie, konnte man eine Unterhaltung darüber nicht vermeiden. Sah man genau hin, war es schief, verzogen vom Wind, als hätte es sich in einem großen Sturm baumgleich ein paar Zentimeter gebeugt und nie wieder in seinen aufrechten Stand zurückgefunden. Wie ein Puppenhaus schien es mit seiner hölzernen Veranda und dem filigranen Treppenaufgang, die Formen zu feingliedrig für die raue Gegend und das Dorf. Ein großer Sonnenschirm blühte im Sommer neben dem Eingang und schlief im Winter dünn um sich selbst gewickelt wie ein Wächter an den Stufen.

Kaum trat man durch die Tür, roch es nach altem Stoff, Parfum und Staub. Der Schiffsplankenboden knarrte nur unter manchen Schritten, und es war wie ein Lauf über ein rätselhaftes Klavier, dessen Bretter wie hölzerne Tasten mal anschlugen und mal schwiegen, wenn August mit bloßen Füßen durch die Räume rannte, so wild, dass hin und wieder Speile in seinen Sohlen zurückblieben, die die Mutter mit einer Nähnadel und einer Brille auf der Nase herausoperierte. Das Haus war eine billige Wunderkammer voll Ramsch, aber ohne Schätze, mit dem der Vater mehr schlecht als recht handelte. Wochenends fuhr er auf Flohmärkte, lud den Kastenwagen voll und kam mit fast ebenso vielen Dingen wieder, mitunter waren es mehr, wenn er etwas entdeckt hatte, von dem er glaubte, es woanders teurer verkaufen zu können.

So vollgestopft war das Haus, dass seine Bewohner kaum Platz hatten in ihm, bis in die letzte Ecke ausgefüllt mit Flohmarktware, Kuriositäten, die man gefunden, und Erbstücken, denen man nicht geschafft hatte zu entkommen. Manche Möbel waren wie Gespenster, die einen Blick in die vergangene Welt freigaben: der dicke Polsterstuhl, auf dessen abgeriebenen Lehnen man unwillkürlich die schweren Unterarme der Vorbesitzerin sah, die geblümte Plastiktischdecke am Küchentisch, durch deren Brandloch man den kleinen Finger steckte und meinte noch die Glut der Zigarette zu fühlen. Um den langen Tisch standen sieben unterschiedliche Stühle, als brauchte jeder Mensch einen eigenen, nur ihm angemessenen Platz, und Schallplattencover in Neonfarben hingen auf feinen Nägeln an den Wänden. In einem Käfig am Fenster saßen Kanarienvögel bunt wie Bonbons und sahen sich in ihren kleinen, hängenden Spiegeln mit geneigtem Kopf an, und auch die Mutter prüfte ihren Lippenstift in der winzigen Reflexion, wenn sie die Tiere fütterte. Die mächtigen Fensterkreuze dahinter erinnerten August an die ausladende Geste des Priesters bei der Sonntagspredigt, das Kreuzzeichen im Namen des Vaters, von oben nach unten und von links nach rechts, eine ewige Segnung der Landschaft. Sie teilten die Aussicht, den Himmel, den Apfelgarten in Rechtecke, auf denen sich das Drinnen und das Draußen überlagerten, und wer hinaussah, sah die Wiese durch die Fingerabdrücke auf den Glasscheiben.

Überall gab es kleine Besonderheiten zu entdecken, über denen man große Augen bekam, in jeder Ecke verbarg sich etwas, das man in anderen Häusern nicht fand. Gerne studierte August die Bilder, die an der Küchenwand hingen. Da gab es steife Familienporträts mit der Größe nach geordneten Kindern, in denen durchsichtige Frauen mit in den Hintergrund verdämmernden Gesichtern von der Decke schwebten. Ein Büblein, das auf einem Tisch stand wie ein Kerzenleuchter, umringt von seinen schemenhaften Brüdern und Schwestern aus dem Totenreich. Eine Uniform, die hinter einem ernsten Ehepaar aus dem Jenseits erschien. Es waren Geisterphotographien aus dem letzten Jahrhundert, Flohmarktfunde, die mit den Jahrzehnten über den Atlantik gereist waren, auf dem einen Kontinent verschwunden und auf dem anderen in Wühlkisten und vollgestopften Emailletöpfen wieder aufgetaucht waren. Sie stammten aus einer Zeit, in der man glaubte, dass Photoapparate auch jene Dinge aufnehmen konnten, die dem menschlichen Auge verborgen blieben. Zwar galt die Gespensterphotographie als unsichere Wissenschaft, und selbst die spiritistische Fachpresse war sich nicht einig, ob sich Geister ablichten ließen, die Entdeckung der Röntgenstrahlung aber, die den Menschen bis auf die Knochen entblößte, verstärkte die Idee, dass die neueste Technik unsichtbare Welten sichtbar machen könne. So entstand eine eigenartige Bilderindustrie für gutgläubige Menschen, auf deren sündhaft teuren Studioporträts fortan schwebende Figuren, bewegte Bettlaken, unscharfe Schneiderpuppen und flüchtige Gesichter neben dem eigenen Antlitz erschienen, mit einer Verlässlichkeit, die man Gespenstern kaum zutraute. Es waren kleine Auferstehungen, graphische Totenbeschwörungen, die die Verstorbenen noch einmal zurück in den Kreis der Familie holten, dirigiert von Photographen, die sie als Medium in die Wirklichkeit führten. Die große Trauer des Krieges, in dem jeder um jemanden zu weinen hatte, befeuerte das Geschäft, denn die Angehörigen der gefallenen Soldaten wollten nur allzu oft ein letztes Mal mit ihnen in Kontakt treten, einen Abschied haben und ein Bild, dem sie eine schwarze Binde anlegen konnten. Die Gespensterphotographen erfüllten ihnen den Wunsch mit Doppelbelichtungen und mit Gesichtern, die sie bereits zuvor auf Glasplatten gebannt hatten, manches Mal lief auch ein Assistent kurz in den Bildraum hinein, während sich die Porträtierten mit angehaltenem Atem nicht bewegen durften, und blieb als rätselhafter Schatten einer anderen Welt auf dem fertigen Produkt zurück. Nicht wenigen der Professionisten, die mit der Sehnsucht nach dem Verlorenen Geschäfte machten, wurde später der Prozess wegen Betrugs gemacht, und doch wohnte der Gespensterinszenierung, dem Handwerk mit dem Unsichtbaren etwas Zartes inne.

Lange dachte August Drach, bei den Bildern in der Küche handele es sich um eine Ahnengalerie, und nahm wie selbstverständlich an, sie wären mit all den Gespenstern verwandt. Als Lilly Drach ihm erklärte, dass die Gestalten auf den Photographien keine an den Fäden der Familie hängenden Vorfahren, aber Generationen fremder Geister waren, fühlte er sich betrogen, denn er hatte sie liebgewonnen, sich Geschichten für sie ausgedacht und sich selbst als Folge dieser Geschichten betrachtet. Für ihn gehörten sie zur Familie. Umso mehr hing er an ihnen, da es keine lebenden Verwandten gab, die er kannte, und bloß der Bruder...

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