Falcone - Roman

Falcone - Roman

von: Roberto Saviano

Carl Hanser Verlag München, 2024

ISBN: 9783446282308

Sprache: Deutsch

544 Seiten, Download: 2802 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Falcone - Roman



1.

FEUER


Corleone, 1943

Ein Donnern erschüttert den Boden. Dann nur Steine. Steine, Fetzen und gebrochene Knochen.

Es schien inzwischen Vergangenheit zu sein, der Teufel schien seine gewaltige Trommel abgelegt, das Pfeifen, das Krachen und die Zerstörungen des Krieges die Straße des Himmels verlassen zu haben. Wenigstens regnete es kein Eisen mehr von oben. Mit dem Sommer hatten auch die Bombardierungen aufgehört. Was war das dann? Warum hängen die Kruzifixe jetzt schief an ihren Nägeln in der Wand?

In der Via Rua del Piano ist die Hölle ausgebrochen. Das Haus von Giovanni und seiner Familie gibt es nicht mehr. Einer steht fassungslos vor den Trümmern und Flammen und blickt über die graue Staubwolke hinweg.

Zwischen den Trümmern nur der junge Salvatore, er lebt noch. Auch Gaetano, sein Bruder, lebt. Er krümmt sich am Boden, blutüberströmt. Die anderen männlichen Mitglieder der Familie sind tot.

Die Hölle schien bis jetzt weit weg von Corleone. Hier wird gearbeitet, man betet und gründet eine Familie.

Der Schlaf dieser ländlichen Gegenden ist so friedlich, dass die Fremden, wenn sie aus irgendeinem Grund hierher geraten, vorsichtig über den Boden gehen, aus Angst, er könnte urplötzlich erwachen, die Erdschollen könnten sich bewegen und in der warmen, blöden Luft über den Feldern könnte ein spöttisches Gelächter aus den Abgründen über ihren Köpfen ertönen: Habt ihr armen Dummköpfe wirklich geglaubt, dass dieser Boden schläft?

Hier erwacht der Boden lange vor der Sonne. Er beginnt zu atmen, wenn es noch dunkel ist. Er dehnt sich, reckt seine Glieder. Er scheint sogar zu gähnen, sein warmer Atem scheint träge über den Obstgärten aufzusteigen.

Mit dem Boden erwachen auch die Menschen.

Heute Morgen hat Giovanni seine drei Söhne auf den Karren geladen, als die Luft noch lauwarm war. Das Maultier setzte sich lustlos auf der Via Rua del Piano in Bewegung, und das Klock, Klock, Klock seiner Hufe ließ die drei Jungen immer wieder einnicken, während Giovanni schon den Tag vor Augen hatte und geradeaus blickte, die Zügel fest in der Hand. Nach und nach ließ der Karren die niedrigen, grauen Häuser hinter sich, und das Land öffnete sich zu beiden Seiten, jenseits der unsichtbaren Barriere, die Corleone umschließt, die der Kirchen: San Michele Arcangelo, San Bernardo, San Nicolò, dann San Leoluca, Madonna delle Grazie, Santa Maria Maddalena, Maria Santissima Annunziata, San Giovanni Evangelista und wieder San Michele Arcangelo. Wollte man sie miteinander verbinden, würden sie eine Umfriedungsmauer ergeben. Von denen im Ortsinneren ganz zu schweigen. Für die Christenmenschen gibt es manchmal keinen Platz in den Betten dieser alten Häuschen, die oft eine ganze Familie beherbergen, dazu die Hunde, die Schweine, die Hühner, aber für die Heiligen gibt es immer genug. Sie hängen an den Bettenden, klammern sich an die Wände, sie spiegeln sich in den Schränken und in den Glasscheiben der Anrichten.

Giovanni besitzt drei Hektar Boden zwischen den Bezirken Marabino, Frattina, San Cristoforo und Mazzadiana. Das ist nicht viel, aber er kommt damit zurecht. Der gesamte Grund in dieser Gegend gehörte einst gewissen schlecht geratenen Baronen, die überall erzählten, sie könnten bis nach Palermo gelangen, ohne ihre Ländereien zu verlassen. Und das stimmte. Kein Wunder, wenn heute, in einer Landschaft aus Schafen, Johannisbrotbäumen, Oliven und ein paar Weinbergen — all das im Besitz eines einzigen Gutsherrn oder eines anderen vor ihm, und so immer weiter zurück in die Vergangenheit — wenn in einem Dorf aus elenden Tagelöhnern und Pächtern, den gabelotti, aus Feldhütern und Hunden, die andere Hunde fressen, um nicht zu verhungern, drei Hektar Landbesitz und eine Mahlzeit am Tag auf dem Tisch als ein Vermögen gelten.

Auf seine Weise ist Giovanni ein vom Glück begünstigter Mann. Zwischen den Falten seines sonnenverbrannten, sechsundvierzig Jahre lang von der Hitze gerösteten Gesichts verstecken sich ein paar Krümel Dankbarkeit. Etwas hat er erreicht, nach einem Leben auf dem Acker, mit gebeugtem Rücken und schmerzenden Armen jeden Abend. Seit er zurückdenken kann, gab es keinen Tag, an dem er sich nicht krummgeschuftet hat, und wenn nicht er selbst buckelte, dann sorgten andere dafür, die Königlichen Carabinieri von Corleone haben ihn in die Verbrecherkartei eingetragen, als »Subjekt, das für Personen und fremden Besitz von Schaden sein kann«.

Was Giovanni und seine drei Söhne Salvatore, Gaetano und Francesco an diesem Morgen zwischen dem Laub suchen gingen, war kein fremder Besitz. Es waren sozusagen Geschenke, vom Himmel gefallen. Amerikanische Bomben. Eisen, Schießpulver, Metall, das man benutzen, verkaufen oder eintauschen konnte. Schwärme von Jagdbombern haben am Himmel Siziliens gebrummt, um eine Brut aus Dracheneiern zwischen den Erdschollen abzulegen. Für den, der sie sehen kann, glitzern sie jetzt halb unter der Erde versteckt im Sonnenlicht. 

Nachdem sie die Felder um Corleone kreuz und quer durchforstet hatten, haben sie es gefunden: einen Sprengkörper made in USA und ein Kanonengeschoss.

Salvatore, genannt Totò, ist zwölf Jahre alt. Er ist der Älteste und Stärkste, obwohl er nur einen Meter sechzig groß ist. Seine Kraft wird gebraucht, um die Bombe und das Projektil auf den Karren zu laden.

»Langsam! Laaangsam! Sonst kracht’s hier.«

»Los!«, ruft Totò Gaetano zu, der auf der Pritsche des Karrens kniet. »Zieh …«

Gaetano und Francesco wickeln einen Leinensack um die Bombe und das Projektil, während Giovanni sie beobachtet und an den Fingernägeln kaut.

»Wir fliegen alle in die Luft, pass doch auf … Mit Krachern und Feuer gehen wir hoch …« Das Geschoss ist aus dem Sack gerutscht und rollt bis ans Ende der Pritsche.

»Oh, nein!« Giovanni beißt sich in die Faust. »Nichtsnutz!« Die Jungen sehen ihn ängstlich an. Nicht so sehr wegen des Risikos, in die Luft zu fliegen, als wegen seiner schwieligen, starken Hand, die jederzeit zuschlagen kann.

»Kam hier schon durch, ’s Feuerwerk vom Santo Luca, sehen wir zu, dass wir heil nach Haus kommen, amunì, auf jetzt!«

Und so machten sich, als die Ladung verstaut, das Geschoss und die Bombe auf einen Haufen Stroh gebettet war, damit sie während der Fahrt nicht gerüttelt wurden, alle Männer der Familie am späten Nachmittag auf den Weg nach Hause. Eine Stunde sollte es dauern, wenn das Maultier mitmachte, bevor sie den Klumpen kleiner Bauerhäuser wiedersahen, alle grau, mit brüchigen Ziegeln bedeckt und vollgestopft mit Heiligen, Kruzifixen und nie erhörten Gebeten.

Gaetano betrachtete die Straße und sprach mit seinem Vater über Furchen, die am nächsten Morgen in den Boden bei Mazzadina gezogen werden mussten. Francesco war der einzige, der, mit den beiden Sprengkörpern zwischen den Füßen, auf dem Rückweg schlafen konnte. Totò sprach kein Wort. Er blickte zum Himmel und kaute an den Fingernägeln. Als sie in Corleone ankamen, verpasste er dem Kleinsten eine Ohrfeige.

An der Ecke der Via Rua del Piano und Via Ravenna sprangen sie vom Karren. Giovanni breitete ein Tuch am Boden aus, nahm die Bombe und legte sie darauf. Er wollte sie dort entschärfen, auf der Straße, vor der Tür zu seinem Haus.

Er bückte sich über die Bombe. Zwei alte Frauen, die durch die Via Ravenna gingen, sahen seinen Rücken über eine Art Torpedo gebeugt. Er werkelte, wie so oft, wenn er die Achsen des Karrens richtete, die Schafe melkte, die Bohnen erntete. Jetzt aber spielte er mit siebzig Kilo Sprengstoff vor den Fenstern eines knappen Tausends Christenmenschen, die schon viel Unglück gesehen hatten. Die beiden alten Frauen warfen einen Blick auf die drei armen Kleinen, die auf dem Mäuerchen hockten und zusahen, wie der Vater sich abmühte. Totò antwortete mit einem Grinsen, er war stolz auf seinen Vater, der den Tod verspottete und ihn fachmännisch melkte, ihm ein Stück nach dem anderen abnahm und es zu Geld machte.

Giovanni brauchte nicht lang, um die Bombe zu entschärfen. Vielleicht würde er sie verkaufen. Wem, das war unwichtig. Hauptsache, der kam mit der passenden Summe an, danach war es seine eigene Angelegenheit. Metall, Eisenstücke, Schießpulver — diese Bomben der...

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