Ein Endsommernachtsalbtraum - Mehr als ein Kriminalroman

Ein Endsommernachtsalbtraum - Mehr als ein Kriminalroman

von: Egyd Gstättner

Picus, 2012

ISBN: 9783711751089

Sprache: Deutsch

191 Seiten, Download: 636 KB

 
Format:  EPUB

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Ein Endsommernachtsalbtraum - Mehr als ein Kriminalroman



ERSTER TEIL


1.
SICHALICH UND DIE FRAU MIT
DEM GESPALTENEN KOPF


So ein Nebel! Unglaublich! Man sieht die Hand vor Augen nicht. Und das zu dieser Jahreszeit! Kalendarisch ist es doch erst seit ein paar Tagen Herbst. Allerdings: Zu dieser Tageszeit, in den frühen Morgenstunden, in der bekannten Beckenlage in der Nähe eines großen Gewässers, da kommt so dichter Nebel schon vor. Und der Nebel hat sein Geheimnis. Noch immer nichts zu sehen. Alles so verschwommen! So verworren! So unklar! So dunkel! Doch, da! Eine Gestalt taucht aus dem Nebel: eine furchterregende Gestalt. Es ist ein Mann. Wie alt er ist, lässt sich in der Finsternis schwer bestimmen. Aber den Konturen nach zu schließen muss es ein Bär von einem Mann sein, ein Kleiderschrank. Wer ist der Mann? Was macht er? Was führt er im Schilde? Was hat er im Kleiderschrank versteckt? Einen Stresemann? Einen Nadelstreifenanzug? Einen Arbeitsmantel? Sportgewand, Bergsteigerausrüstung? Ritterausrüstung? Einen Liebhaber? Öffnen wir die knarrende Tür des Kleiderschranks. Schauen wir einmal nach! Da schau her: Eine Hundeleine! Na so etwas! Zu einer Hundeleine gehört ein Hund. Der trottet in Respektabstand zu dem Mann durch die Wiese, schnuppert hier, schnuppert da, hebt eines seiner Hinterbeine, schlägt an diesem oder jenem Baumstamm sein Wasser ab, beschnüffelt mit der Schnauze eine bestimmte Stelle im Gras, geht in die Hocke und macht einen Haufen, der dampft. Ein Riesenhaufen! Ein Riesenhund! »Brav, Baskerville!«, ruft der Bär. »Brav!«

Die Gestalt mit dem hochgeschlagenen Kragen blickt nach links, blickt nach rechts, entnimmt dem Kleiderschrank eine Kehrichtschaufel und einen Besen, bückt sich ächzend und schaufelt den Hundehaufen gewissenhaft in die Einkaufstüte. Die Stelle, an der Baskerville jetzt schnuppert, wurde bereits von einer Hündin namens Nora markiert, die nur ein paar Häuserblocks weiter wohnt, und da kommt Nora auch schon auf Baskerville zugeschossen. Es entsteht ein Schwanzgewedel, anschließend folgt auch Nora dem Ruf der Natur. Obwohl diese Nora ihr keineswegs zugerechnet werden kann, zückt die geheimnisvolle Gestalt abermals Kehrichtschaufel, Kehrichtbesen und Einkaufstüte, und an dieser Stelle des Berichts sollte man das Verhalten dieses Mannes, der bei seinem Auftauchen so furchterregend schien, als sozial vorbildlich loben. Viele Hundehalter könnten sich an ihm ein Beispiel nehmen! Diese Szene lehrt aber auch, dass der erste Eindruck manchmal durchaus trügen kann. Am Ende des Spaziergangs kommt Baskerville sehr erleichtert, sein Herr dagegen schwer beladen, keuchend und stöhnend, eine prall gefüllte Plastiktüte in der linken, eine ebenso prall gefüllte in der rechten Hand, nach Hause.

*

Kurz nach zehn Uhr am Vormittag klingelte es an der Tür der Wachstube, und Streifenpolizist und Sicherheitspartner Valentin Wuscher drückte den Knopf der elektrischen Hochsicherheitsgegensprechanlage. Wuscher war an seinem Schreibtisch gerade dabei gewesen, im Polizeimagazin des Landespolizeikommandos das Polizeikreuzworträtsel zu lösen (Fluss durch Innsbruck mit drei Buchstaben …), als der Masseur Josef Bloch, der früher ein nicht gar so bekannter Fußballtormann gewesen war, den Dienstraum der Polizeiinspektion, ohne gegrüßt zu haben, im Zustand höchster Aufregung mit den bedeutungsschweren Worten betrat: »Ich glaube, ich habe meine Lebensgefährtin umgebracht.«

Valentin Wuscher schaute den Mann groß an, sagte nichts und fühlte sich überfordert. Das war ihm noch nie passiert. Wuscher mochte keine Leute, die meinen, nicht grüßen zu müssen, wenn sie einen offiziellen Raum der Republik betreten, bloß weil dort zufällig kein Gruppeninspektor saß, kein Bezirksinspektor und kein Kontrollinspektor, kein Obst. und kein Obstl., die offiziellen Kürzel für Oberst und Oberstleutnant, sondern ein Streifenpolizist. Im Lauf der Jahre würde auch er, Wuscher, sich zu einer Respektsperson entwickeln, mit Titel, Dekoration und allem Drum und Dran. Glauben heißt nicht wissen, dachte Wuscher. Unbarmherzig bewegte sich der Sekundenzeiger der großen Wanduhr weiter. Ticktack. Ticktack. Ticktack.

»Was heißt: Sie glauben?«

»Ich bin mir ziemlich sicher.«

»Wie sicher?«

»Ziemlich sehr sicher. Hören Sie: Ich bin verzweifelt! Ich wollte das doch nicht! Ich habe sie geliebt! Verstehen Sie? GELIIIIEEEBT! Die Schuld lastet wie ein Zementsack auf mir. Ich weiß nicht, wie ich damit leben soll! Deswegen bin ich ja hier!«

Valentin Wuscher stoßseufzte, wusste nun aber erst recht nicht weiter. Mit Zementsäcken kannte er sich gar nicht aus. Also rief er vom Haustelefon aus das Büro der »Gruppe Gewalt« an. Jasmin Haberer, die Sekretärin, die er erreicht hatte, stand von ihrem Schreibtisch auf, richtete ihren enden wollenden Rock mit größter Vorsicht, denn ihre purpurnen Fingernägel befanden sich noch in der Trocknungsphase, stöckelte zur Verbindungstür, klopfte rhetorisch, das heißt: ohne eine Antwort abzuwarten, und betrat das Büro von Johann Sichalich. Natürlich hätte Frau Haberer auch anrufen können, um ihrem Chef die Neuigkeit zu übermitteln, aber sie nützte jede Gelegenheit, mit ihm für ein paar Augenblicke allein zu sein. Einmal vor Jahren hatte Sichalich Jasmin – nicht mehr ganz nüchtern – am Polizeiball am Gang in einem dunklen Winkel geküsst. Seither konnte er sich ihrer Zutraulichkeiten und Zudringlichkeiten kaum mehr erwehren.

Bei ihren Annäherungsversuchen ließ sie sich weder durch die Geschichte mit Emma noch durch die Vielleicht-vielleicht-auchnicht-Affäre Sichalichs mit Dr. Zoe Zaradnitschek (der Staatsanwältin mit den unfassbar langen Beinen!) irritieren. Es war ein persönlicher Triumph für Jasmin Haberer, als Zoe Zaradnitschek gleich nach dem letzten Jahreswechsel ihren Dienst quittierte und mit ihren unfassbar langen Beinen nach dem plötzlichen Tod der alten Innenministerin in der Silvesternacht nach Wien ging, um dort – wie ein offenes Geheimnis sagte – Gespielin des neuen Innenministers zu werden. Das war ein Mann! Mit allen Wassern gewaschen! Ehe sie sich’s versah, zappelte Zoe im Netz des Netzwerkpflegers. Das Leben an der Seite des Innenministers, der ja auch Lobbyist war und von Brüssel nach London und von einer europäischen Metropole zur anderen jettete, war sicher prickelnder und aufregender als das juristische Dahinvegetieren hier am Rand der Zivilisation. Gern ging Zoe frühmorgens mit auf eine Jagd in Gottes schöne Natur, die eigens für die Spitzen der Gesellschaft des Staates veranstaltet wurde, und manchmal ließ man sie sogar das Jagdhorn blasen.

Sichalich saß hinter seinem Schreibtisch und träumte von der Frühpension. Wie oft hatte er bereits versucht, diese Frühpension zu erwirken, die im Polizeimagazin des Landespolizeikommandos so halbironisch und viertellustig »Un-Ruhestand« genannt wurde! Damit wollte man den baldigen Exkollegen das Gefühl geben, noch nicht ausrangiert zu sein. Sichalich aber fühlte sich jetzt schon ausrangiert, wo er noch gar nicht ausrangiert war, und er hätte sich gerne ausrangieren lassen. Aber nie, nie, nie war ihm der Unruhestand gelungen – trotz seiner Depressionen, trotz Burn-out und Bore-out, trotz Schwerhörigkeit, Blasenschwäche, Sehschwäche, hirnorganischem Abbausyndrom, miserablen Blutwerten und Übergewicht. Wie lange noch?, fragte sich Sichalich mit seinen achtundvierzig Jahren jeden Tag aufs Neue. Doch niemand konnte ihm eine Antwort geben. Vielleicht hielt man ihn dank seiner Erfahrung an oberster Stelle trotz all seiner körperlichen Handicaps und psychischen Problemchen für den idealen Mann, die »Gruppe Gewalt« zu leiten. Vielleicht dachte Landespolizeikommandogeneralmajor Dr. Emmerich Ziervogel auch: Für die Leitung der »Gruppe Gewalt« werden wir nicht unsere besten Leute opfern! Bei dem begrenzten Aufgabenfeld reicht unser Sichalich samt seinen schlechten Blutwerten und Kreuzschmerzen genauso. Verfolgungsjagden finden hier nicht statt. Vielleicht hielt ihn der Chefarzt auch einfach für einen Simulanten. Amtsärzte teilen die Bevölkerung seit jeher in Simulanten und Alkoholiker ein, und ganz unrecht haben sie da nicht. An Krankenständen und Kurzkuren mangelte es Sichalich nicht. Zum Glück im Unglück waren es keine Bettlägrigkeitskrankenstände, sondern hauptsächlich Ausflugskrankenstände an die istrische Küste und die Obere Adria. Da konnte man am besten in aller Ruhe über das elende Los der Menschheit im Allgemeinen und über sein eigenes elendes Los im Speziellen nachdenken. Und wenn einmal partout keine Kur herauszuschinden war, dann begründete Sichalich so einen Meeresaufenthalt Ziervogel gegenüber mit der Notwendigkeit des »internationalen Erfahrungsaustauschs«. In einem zusammenwachsenden Europa sei so ein »internationaler Erfahrungsaustausch« dringlicher denn je! Mit Slowenen, Kroaten und Italienern Englisch zu sprechen, war eigentlich sehr lustig. In England hätte dieses Englisch niemand verstanden, und man hätte einen Consulting Detective als English-Englisch-Dolmetscher engagieren müssen. Hier aber verstand man sich bei Scampi, Branzino, Mangold und Malvasier prächtig. Der Landespolizeikommandantgeneralmajor seufzte und nickte und ließ seinen Chefinspektor gewähren. Er kannte seinen Sichalich ja. Ein richtiger Polizist musste frei sein. Ein richtiger Polizist durfte sich nicht eingesperrt fühlen. Ein richtiger Polizist war ja kein Verbrecher. Nur die Frühpension im eigentlichen Sinn wollte einfach nicht klappen: das goldene Abstellgleis. Dabei stünde mit Bezirksinspektor Harry Wunderbaldinger seit Jahren ein wunderbarer Nachfolger parat. Wunderbaldinger wäre sicherlich sichalicher als Sichalich, jedenfalls...

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