Frau Sorgedahls schöne weiße Arme - Roman

Frau Sorgedahls schöne weiße Arme - Roman

von: Lars Gustafsson

Carl Hanser Verlag München, 2012

ISBN: 9783446242579

Sprache: Deutsch

240 Seiten, Download: 3663 KB

 
Format:  EPUB

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Frau Sorgedahls schöne weiße Arme - Roman



   6   

Der erste Schneesturm


Nein. Es war kein Frühlingsabend. Das habe ich erfunden. Es war mitten im Winter. Bestimmt. Daran erinnere ich mich jetzt.

Der erste Schneesturm kam in diesem Jahr sehr früh.

Schnee habe ich nie gemocht. Wenn er kam, war es meist eine Katastrophe, nasser Schnee blieb an den Reifen pappen und hinderte den Dynamo daran, sich zu drehen, das Fahrrad wurde glatt und rutschig und schwer zu lenken. Und wenn er endlich verschwand, dann als schmutziger Matsch.

Schnee, reiner und unschuldiger Schnee, leer wie ein unbeschriebenes Blatt, existiert, glaube ich, nur in der Literatur. Diesen reinen, unschuldigen Schnee gab es jedoch an bestimmten Sonntagen im Februar, wenn man in frisch gebahnten Spuren hinausgehen konnte. Wenn man aus dem Schatten der großen schweren Bäume auf dem Rocklundaåsen hinaus ins Svartådalen kam, konnte einem ein Licht begegnen, von dem es heißt, dass es zur Schneeblindheit führt. Dieses Schneelicht drang nicht nur in die Augen; es schien den dunklen Raum des ganzen Gehirns auszuleuchten.

Wovon man leer und geblendet wurde, vollständig leer. Nur das spezielle, ein bisschen raschelnde, rieselnde, sausende Geräusch von Skiern in perfekter Bewegung. An solchen Vormittagen – die leider nicht ewig währten – konnte die Welt für einen Augenblick heil werden. Heil und leer. Keine tristen Klassenzimmer, in denen verbitterte alte Oberstudienräte, denen die Niederlage, die endgültige, unwiderrufliche Niederlage in die faltigen Gesichter geschrieben stand, einem die Finessen in einem Gedicht von Catull herunterleierten, als sei Catull eine Art Revisor der Küsse gewesen. Verschwunden der Geruch nach Pubertät und feuchten Wollsachen in diesen Klassenzimmern mit den hohen Decken und den weißen, ausdruckslosen Kugellampen. Verschwunden diese Zeit, diese Uhrzeiger, die sich beharrlich weigerten, sich zu bewegen. Eine Ahnung von einer Welt, in der die Zeit sich weder bewegt noch stillsteht, ein ekstatischer Glanz über den Dingen weit jenseits aller Grammatiken und Rechtschreibfehler und vertrackter unregelmäßiger Verben.

Es war also der Schnee, von seiner ekstatischen Seite her betrachtet.

Es begann, als sie sich von dem Stuhl, auf dem sie gesessen hatte, zusammen mit uns der Ersten Symphonie Mahlers lauschend, auf den freien Platz neben mir auf dem Sofa umsetzte, wo ich gerade saß, und mir die Katze, diese feine siamesische Katze, auf den Schoß legte. Und mit langsamen, musikalischen, sanften Bewegungen strich sie ihr mit ihren schmalen weißen Händen über den Rücken. Frau Sorgedahl konnte sehr still sein. Und sehr entschlossen. Mit der Zeit sollte ich mehr darüber erfahren.

Ich war es, den sie streichelte. Und ich konnte es nicht glauben.

Gewöhnlich kamen diese Stürme an Neujahr. Dieser hielt sich nicht an die Regeln. Er kam vor Weihnachten. Und schon am Nachmittag begann er, diese trockenen Schwaden quer über die Straßen zu ziehen, eine Art von Schwaden, die das Fahrrad in der ersten Stunde bewältigen kann, aber nicht viel länger. Ein alter Richtpunkt, den ich schon seit der Realschule hatte, war, dass man, wenn der treibende Schnee die Uhr des Doms unsichtbar machte, wusste, es bahnte sich etwas Großes an.

So ein richtiger Schneesturm bestand nicht nur aus unzähligen kleinen bösen trockenen Kristallen, die in die Falten des Wollschals krochen und von dort in den Kragen hinein, es war auch das Geräusch. Das anschwellende und abschwellende Geräusch, das manchmal eine solche Stärke erreichte, dass man nicht einmal hören konnte, wenn eine der uralten Linden auf dem Björlingska-Friedhof – nach Jahrhunderten tapferen Widerstands – nachgab und umfiel.

Die blauen Stadtbusse hielten gewöhnlich länger aus als der sparsame »Individualverkehr«, der fast ausschließlich aus diesen Volvos 444 bestand, deren Winker in Gestalt eines idiotischen »Dachkuckucks« auf dem Dach platziert waren, so dass man sie nie sah, bevor es zu spät war, wenn man sich auf dem Fahrradsattel befand. Vespas und ähnlich Leichtgewichtiges sah man ohnehin nicht bei solchem Wetter. Die Busse mühten sich tapfer, mussten aber schließlich ebenfalls aufgeben. Einer stand da, die Front heftig in die Friedhofsmauer gerammt, und blies Dampf aus dem gesprungenen Kühler, als wäre er ein Drache aus einer Sage. Ein anderer hatte die Versuche, den damals noch steilen Oxbacken zu bezwingen, aufgegeben und sich melancholisch auf der Mitte des Hangs quer gestellt.

Und das war mitten in der Stadt. Man konnte sich die tiefen Basslaute da draußen in den Kiefernwäldern vorstellen und das dumpfe Krachen, wenn ein Windbruch entstand, ganz zu schweigen von den Wäldern der Mälarinseln, wo der Wind in einer solchen Nacht wie eine Sense wütete und eine verheerende Spur von Windbrüchen und herabgefallenen Eulennestern hinterließ, und wo kurzfristig geweckte Dachse mit wässrigen Augen sich immer tiefer in die Dunkelheit der Gänge zurückzogen. Während neue Windbrüche den Pulverschnee immer tiefer in ihre Festungswerke hineintrieben.

Die Züge standen still, einer nach dem anderen, und verfrorene Passagiere saßen in schlecht beleuchteten Wartesälen und fluchten. Wenn sie nicht auf rasch erkaltenden Zugsitzen hocken blieben, damit beschäftigt, weinende kleine Kinder zu trösten und ihr unfreundliches Schicksal zu beklagen. Das alles war sehr schwedisch, und die eine oder andere diskret aus Taschen und Aktenmappen herausgefischte Branntweinflasche machte im Abteil die Runde.

Der Schaffner, sonst ein brüllender Löwe beim geringsten Verdacht, dass in seinem Zug Alkohol konsumiert werden könnte, eilte jetzt nur im Gang vorbei, mit einem ausweichenden Lächeln auf den Lippen, das besser zu einer allzu eifrig hofierten Schönheit bei einer Tanzveranstaltung gepasst hätte.

Alle wollten, dass die Zeit verging. Der Mensch hat so wenig Zeit, und das meiste von der Zeit, die er hat, verbringt er damit, sie schneller vergehen zu lassen.

Es war der schlimmste, scheußlichste, überraschendste und brutalste Schneesturm dieses Winters, ja, vielleicht des ganzen Jahrzehnts, und wenn ich mich recht erinnere, stoppte er sogar die Ampeln an der Ecke der Köpmannagata. Sie hörten ganz einfach auf zu funktionieren. Das machte ja nicht so viel aus, da sich sowieso kein normaler Mensch in einer solchen Nacht hinauswagte.

Der eine und andere Neubau verlor sein Dach. Der Verkehr kam zum Erliegen. Man konnte nicht von Frau Sorgedahl aus nach Hause radeln. Das Fahrrad musste geschoben werden, was nicht das Schwierigste war. Das Schwierige war die verdammte Brille, die andauernd von diesem scharfen, rasch treibenden Schnee zugeweht wurde.

Und wenn man die Brille abnahm, sah man noch schlechter.

Als das Ganze nach ein paar Tagen vorbei war, zeigte es sich, dass es ein ungewöhnlicher Schneesturm gewesen war. Ein paar Linden, die es besser hätten gewusst haben sollen, waren umgefallen und wurden zersägt, nicht mit Motorsägen, denn die waren damals in unserem Land noch nicht richtig in Gebrauch gekommen, sondern von altmodischen Herren in grauen Wolljacken und mit Bogensägen in den verschwitzten, starken Händen.

Die Ampeln am Oxbacken waren ganz neu. So aufregend und großstadtmäßig. Galten die Ampeln auch für Fahrradfahrer? Der Skultunaväg führte unter großen, freundlichen Linden entlang und war noch befahren. Ein grüner Kiosk verkaufte Abendzeitungen, die vor allem vom Koreakrieg handelten. Und die Zigarettenmarken Bill und Boy, die man auch lose kaufen konnte. Aber nicht weniger als zwei. Die in eine Tüte gelegt und diskret in den engen Gassen von Kyrkbacken geraucht wurden. Wo die Hausmeister uns wegen der Brandgefahr von einer Haustür zur anderen jagten.

Wir müssen schrecklich nach Tabakrauch gestunken haben! So viel später kommt mir der Gedanke, dass Frau Sorgedahl in dem Moment, in dem sie sich vorbeugte und die Katze auf meinem Schoß streichelte, diesen Geruch hat überwinden müssen.

In dieser Erzählung ist es, wie ihr hört, ein alter Mann, der spricht. Das bereitet mir fünfzig Jahre danach ein wenig Unbehagen. Sicher kann das Gegenwärtige das Vergangene verursachen und verändern! Nur die, welche nicht verstanden haben, dass das ganze Universum im Grunde genommen auf einmal gegenwärtig ist, glauben, dass Ursachen nur in die eine Richtung gehen. Wie oft habe ich nicht gesehen, dass Ereignisse, beispielsweise am Ende der achtziger Jahre, Dinge zutiefst beeinflusst haben, die mir in den fünfziger Jahren zugestoßen sind.

Es war eine Zeit, in der man Thomas Manns Doktor Faustus las und darauf wartete, dass unerwartete Mikroben das Gehirn zum Kochen bringen würden wie bei Adrian Leverkühn, es vom Lauen bis zum allzu Heißen aufwallen lassen und ganz neue, edle Substanzen hervorbringen würde. Es war die Zeit, in der noch neue Gedichtsammlungen von Gunnar Ekelöf und Bertil Malmberg erschienen, und hatte nicht Ekelöf selbst geschrieben:

 

Ich suche ein wertloses Gold
Ein Gold, das das Gold wertlos
macht, alles Gold!

Jaa. Das ist leicht gesagt. Verdammt leicht gesagt.

Es war mit anderen Worten einer der richtig schweren Schneestürme. Vestmanlands Läns Tidning, eine damals vielleicht etwas provinzielle, aber noch durch und durch anständige Zeitung, handelte am folgenden Tag von kaum etwas anderem als dem Schneesturm. Sogar die Weihnachtsdekorationen an der Stora gata, diese gelb blickenden Adventssterne, die in ihren grünen Girlanden hin und her schwangen und die nicht selten einen ganz rührenden Ausdruck annehmen konnten (als wären sie der letzte Versuch...

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