Die Elenden / Les Misérables - Roman

Die Elenden / Les Misérables - Roman

von: Victor Hugo

Aufbau Verlag, 2012

ISBN: 9783841205513

Sprache: Deutsch

608 Seiten, Download: 1084 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Elenden / Les Misérables - Roman



Erstes Buch
Ein Gerechter


Myriel


Im Jahre 1815 war Charles-François-Bienvenu Myriel Bischof von Digne. Er zählte damals etwa fünfundsiebzig Jahre und hatte sein Amt seit 1806 inne.

Obwohl dieser Umstand nicht eigentlich zu unserer Erzählung gehört, ist es vielleicht nicht überflüssig, und wäre es auch nur um der Genauigkeit willen, hier gewisse Bemerkungen und Gerüchte zu erwähnen, die im Umlauf waren, als er in seiner Diözese eintraf. Was von Menschen gesagt wird, gilt ja in ihrem Leben, mag es wahr oder falsch sein, ebensoviel wie ihre Handlungen. Nun, Myriel war der Sohn eines Rates beim Parlamentsgericht zu Aix, entstammte also dem Beamtenadel. Man erzählte, sein Vater habe ihm sein Amt vererben wollen und habe ihn darum schon mit achtzehn oder zwanzig Jahren verheiratet, wie dies wohl bei den Beamtenfamilien der Brauch ist. Trotz dieser Heirat hatte Charles Myriel, wie behauptet wurde, viel von sich reden gemacht. Er war von gefälligem Äußern, wenn auch von kleiner Statur, elegant, geschmeidig, geistvoll; der erste Teil seines Lebens war zur Gänze weltlichen Dingen und galanten Abenteuern gewidmet.

Da brach die Revolution aus, die Ereignisse überstürzten sich, die Beamtenfamilien wurden blutig verfolgt, verjagt, außer Landes getrieben. Charles Myriel wanderte schon zu Beginn der Revolution nach Italien aus. Seine Frau erlag dort einem Lungenleiden, an dem sie schon seit Jahren krankte. Kinder hatten sie nicht.

Was ging damals in Myriel vor? War es der Zusammenbruch der alten französischen Gesellschaft, der Sturz seiner eigenen Familie, waren es die tragischen Ereignisse des Jahres 93, die den Ausgewanderten in der Fremde noch schrecklicher und ungeheuerlicher erscheinen mußten, war es dies, was ihn der Welt entfremdete und zur Einsamkeit trieb? Oder hatte ihn inmitten seiner Zerstreuungen und Vergnügungen, die sein Leben ausfüllten, plötzlich einer jener geheimnisvollen Schicksalsschläge getroffen, die zuweilen selbst den Mann ins Herz treffen, den allgemeine Katastrophen nicht zu erschüttern vermochten – wenn sie auch sein Glück und seine Existenz vernichteten? Niemand hätte diese Frage zu beantworten gewußt; bekannt war nur, daß er, aus Italien zurückkehrend, Priester war.

1804 war er Pfarrer von Brignolles. Er war bereits alt und führte ein sehr zurückgezogenes Leben.

Zur Zeit der Kaiserkrönung führte ihn ein unbedeutendes Amtsgeschäft seiner Pfarrei – es ist darüber nichts Näheres bekannt – nach Paris. Unter anderen einflußreichen Persönlichkeiten mußte er auch den Kardinal Fesch aufsuchen. Eines Tages also, als der Kaiser seinen Onkel besuchte, wartete der würdige Pfarrherr zufällig gerade im Vorzimmer, und so traf es sich, daß er unvermittelt Seiner Majestät gegenüberstand. Napoléon sah, daß der Alte ihn mit einer gewissen Neugierde anstarrte, wandte sich um und fragte brüsk:

»Wer ist der gute Mann, der mich so ansieht?«

»Sire«, erwiderte Myriel, »Sie sehen einen guten Mann und ich einen großen. So kommen wir beide auf unsere Rechnung.«

Am selben Abend fragte der Kaiser den Kardinal nach dem Namen dieses Pfarrers, und einige Zeit später war Myriel nicht wenig verwundert, zu hören, daß er zum Bischof von Digne ernannt worden sei.

Was an allen diesen Geschichten strenge Wahrheit war, konnte niemand angeben, denn nur wenige Familien hatten vor der Revolution mit den Myriels in Verbindung gestanden.

So mußte Myriel das Schicksal aller teilen, die in einer Kleinstadt neu angekommen sind, wo viel gesprochen und wenig gedacht wird. Er mußte es über sich ergehen lassen, obwohl er Bischof war, ja gerade weil er Bischof war. Aber schließlich war alles Gerede, das sich mit ihm beschäftigte, eben nur auf vage Vermutungen gestützt – Geschwätz, leere Worte; Palaver, wie man in der energischen Sprache des Südens sagt.

Wie dem auch sei, nach neun Jahren, die er in Digne zugebracht hatte, war all das Geschwätz, das in kleinen Städten zuerst die kleinen Leute beschäftigt, verstummt, und niemand wagte es mehr aufzurühren.

Myriel war in Begleitung eines alten Fräuleins, Mademoiselle Baptistine, seiner Schwester, die zehn Jahre jünger war als er, nach Digne gekommen. Seine ganze Dienerschaft bestand aus einer Magd, desselben Alters wie Fräulein Baptistine, Frau Magloire, die seinerzeit Wirtschafterin des Pfarrers Myriel gewesen war und jetzt das Doppelamt der Kammerfrau Fräulein Baptistines und der Haushälterin von Monsignore versah.

Mademoiselle Baptistine war eine hochgewachsene, blasse, hagere, sanfte Person; sie war die Verkörperung alles dessen, was man ehrbar nennen möchte; denn um auf Ehrfurcht Anspruch zu haben, muß eine Frau Mutter sein. Hübsch war sie nie gewesen; aber ihr Leben, das nur aus einer langen Reihe wohltätiger Werke bestand, hatte ihr schließlich eine gewisse Reinheit und Klarheit des Wesens verliehen, die man die Schönheit der Güte nennen möchte. Wenn sie in ihrer Jugend mager gewesen war, so konnte man jetzt, in ihrem reiferen Alter, fast von Durchsichtigkeit sprechen. Sie war eher eine Seele als ein jungfräulicher Körper; gerade noch genug Leib, daß man ihr ein Geschlecht beilegen konnte – ein Minimum an Materie, das in Glanz gehüllt schien. Ihre großen Augen hatte sie immer zu Boden gerichtet, als suche ihre Seele einen Vorwand, noch auf Erden zu verweilen.

Frau Magloire war eine kleine Alte, blaß, beleibt, stets geschäftig, immer außer Atem, und das, einmal weil sie zu jeglicher Zeit beschäftigt war, dann aber auch infolge ihres Asthmas.

Als Herr Myriel eintraf, wurde er im bischöflichen Palais mit allen Ehren untergebracht, die von den kaiserlichen Dekreten festgesetzt waren; denn die Staatsweisheit wies den Bischöfen den Rang gleich nach den Marschällen zu. Der Bürgermeister und der Präsident machten ihm sofort ihre Aufwartung, er aber, seinerseits, besuchte zuerst den General und den Präfekten.

Myriel wird Bischof Bienvenu


Das bischöfliche Palais in Digne lag neben dem Hospital. Es war ein geräumiges, schönes Gebäude, das zu Beginn des vorigen Jahrhunderts von Henri Puget, Doktor der Theologie an der Universität Paris, Abbé von Simore, seit 1712 Bischof von Digne, erbaut worden war. Es machte durchaus den Eindruck eines richtigen Herrensitzes. Alles darin war groß angelegt, die Gemächer des Bischofs, die Zimmer, der Festsaal mit den Wandelgängen, die ihn, zu altflorentinischen Arkaden ausgestaltet, umliefen, und die mit herrlichen Bäumen bepflanzten Gärten. In dem Speisesaal, einem prächtigen Raum, der im Erdgeschoß lag und zu den Gärten hinausführte, hatte Monsignore Puget am 29. Juli 1714 die hochwürdigen Herren Charles Brûlard de Genlis, den Erzbischof Prinz d’Embrun, Antoine de Mesgrigny, Bischof von Grasse, Philippe de Vendôme, Großprior von Frankreich, Abbé von Saint-Honoré de Lérins, François de Berton de Grillon, Bischof von Vence, César de Sabran de Forcalquier, Bischof von Glancève, Jean Soanen, Hofprediger und Bischof von Senez, bewirtet. Die Bildnisse dieser sieben hochwürdigen Herren schmückten den Saal, und das denkwürdige Datum, der 29. Juli 1714, war mit goldenen Buchstaben auf einer Marmortafel eingegraben.

Das Hospital war ein enges, niedriges Gebäude, einstöckig, mit einem kleinen Gärtchen.

Drei Tage nach seiner Ankunft besichtigte der Bischof das Hospital. Dann ließ er den Direktor zu sich bitten.

»Herr Direktor«, sagte er, »mit wieviel Kranken ist Ihr Spital augenblicklich belegt?«

»Wir haben sechsundzwanzig Patienten, Monsignore.«

»Soviel habe ich auch gezählt.«

»Wir haben die Betten recht eng aneinanderrücken müssen«, meinte der Direktor.

»Ich habe es bemerkt.«

»Die Krankensäle sind nur kleine Zimmer und schwer zu lüften.«

»Das scheint mir auch so.«

»Selten fällt ein Sonnenstrahl in den Garten, und dann ist zu wenig Platz da, die Kranken darin unterzubringen.«

»Das habe ich mir auch gesagt.«

»Wenn Epidemien ausbrechen – wir hatten heuer den Typhus und vor zwei Jahren das Fieber –, zählen wir manchmal bis zu hundert Kranke und wissen nicht, wo wir sie unterbringen sollen.«

»Dieser Gedanke ist mir auch gekommen.«

»Was wollen Sie, Monsignore? Man muß sich darein schicken.«

Dieses Gespräch fand in dem Speisesaal im Erdgeschoß statt.

Der Bischof schwieg einen Augenblick, dann wandte er sich unvermittelt an den Direktor.

»Wieviel Betten könnte man wohl in diesem Saal unterbringen?«

»Im Speisesaal des bischöflichen Palais?« fragte der Direktor verblüfft.

Der Bischof überschaute den Saal und schien die Maße zu überschlagen.

»Man könnte hier ganz gut zwanzig Betten unterstellen«, sagte er leise, als ob er mit sich selbst spräche; dann wieder laut:

»Ich will Ihnen etwas sagen, Herr Direktor. Hier liegt offenbar ein Irrtum vor. Sie sind sechsundzwanzig Leute in fünf oder sechs kleinen Zimmern, wir sind unser drei und haben Platz für sechzig; das kann nur ein Irrtum sein, finde ich. Also: Sie haben mein Haus und ich das Ihre, so wird es sein. Geben Sie mir mein Haus zurück, dieses hier gehört Ihnen.«

Am nächsten Tag wurden die sechsundzwanzig armen Kranken im bischöflichen Palais untergebracht, und der Bischof bezog das Hospital.

Da die Revolution seine Familie ruiniert hatte, besaß Myriel kein Vermögen. Seine Schwester bezog eine Rente von fünfhundert Franken, die, solange sie bei ihrem Bruder wohnte, für ihre persönlichen Ausgaben ausreichten. Myriel...

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