Nullzeit

Nullzeit

von: Juli Zeh

Schöffling & Co., 2012

ISBN: 9783895619939

Sprache: Deutsch

256 Seiten, Download: 1785 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Nullzeit



1

Wir sprachen über Windrichtung und Wellengang und spekulierten, wie der November verlaufen würde. Auch auf der Insel gab es Jahreszeiten, man musste nur genauer hinschauen. Tagsüber sank die Temperatur selten unter zwanzig Grad. Danach kam die wirtschaftliche Situation an die Reihe. Bernie, der Schotte, plädierte für eine geregelte Insolvenz der Griechen. Laura kam aus der Schweiz und fand, dass man kleine Länder unterstützen sollte. Ich interessierte mich nicht für Politik. Um den ganzen Tag Nachrichten im Internet zu lesen, hätte ich nicht auswandern müssen. Laura und Bernie einigten sich darauf, dass Deutschland die neue Wirtschaftspolizei Europas sei – stark, aber unbeliebt. Erwartungsvoll blickten sie mich an. Im Ausland ist jeder Deutsche Angela Merkels Pressesprecher.

Ich sagte: »Für uns ist die Krise doch längst vorbei.«

Die Deutschen und Briten fuhren wieder in Urlaub. Es ging uns besser, manchen sogar gut.

Unsere Pappschilder trugen wir unter den Arm geklemmt. Auf dem Schild von Bernie stand EVANS FAMILY und NORRIS FAMILY. Bei Laura stand ANNETTE, FRANK, BASTI und SUSANNE. Ich hatte an diesem Tag nur zwei Namen dabei: THEODOR HAST und JOLANTHE AUGUSTA SOPHIE VON DER PAHLEN. Die vielen Namensbestandteile hatten kaum auf das Schild gepasst. Die Schilder mussten so klein sein, dass wir sie jederzeit unter den Jacken verschwinden lassen konnten. Ein Inselgesetz zum Schutz der Taxifahrer verbot uns die Abholung von Kunden am Flughafen. Erwischte man uns dabei, zahlten wir dreihundert Euro Strafe. Vor den Glastüren der Ankunftshalle standen die Taxifahrer und behielten uns im Auge. Ihretwegen pflegten wir unsere verdutzten Kunden wie alte Freunde in die Arme zu schließen. Die Anzeigetafel über unseren Köpfen sprang um. 20 minutes delayed. Bernie hob fragend die Augenbrauen. Wir nickten.

»With much milk«, sagte ich.

»Lots of«, sagte Laura.

Seit Jahren versuchte Laura, mir Englisch beizubringen, dabei hatte ich nicht einmal richtig Spanisch gelernt. Bernie war mein schlechtes Englisch egal, solange er mich verstand. Er schob die Hände in die Taschen seiner Shorts und schlenderte zum Kaffeestand. Mit Fünf-Tage-Bart und Wiegeschritt sah er immer aus, als befände er sich an Deck eines Schiffs.

Wir hatten den Kaffee ausgetrunken, als die ersten Passagiere durch die Absperrung kamen. Bernie wurde von einer Familie umringt. Fünf Personen. Das lohnte sich. Ich hielt Ausschau nach einer eleganten älteren Dame in Begleitung eines weißhaarigen Mannes, der einen Gepäckwagen mit einem Berg farblich aufeinander abgestimmter Koffer schieben würde. Anders konnte ich mir einen Theodor und eine Jolante nicht vorstellen. Wir hatten Exklusivbetreuung vereinbart und uns auf eine Summe geeinigt, die nur zahlen konnte, wer einen großen Teil des Lebens bereits hinter sich hatte.

Es war immer spannend, neue Kunden am Flughafen abzuholen. Man wusste nie, wer auf die Idee kam, das Tauchen auszuprobieren. Weil Antje die Büroarbeit erledigte, hatte ich mit den meisten im Vorfeld nicht einmal telefoniert. Wie würden sie aussehen, wie alt, welche Vorlieben, Berufe, Lebensgeschichten? Am Meer war es so ähnlich wie im Zug: Man lernte sich in kürzester Zeit verblüffend gut kennen. Weil ich mir angewöhnt hatte, keine Urteile zu fällen, kam ich mit allen gut zurecht.

Unter die Air-Berlin-Passagiere mischten sich Insassen einer Maschine aus Madrid. Sie waren kleiner, weniger warm angezogen und nicht so blass. Ich hatte Übung im Erraten von Staatsangehörigkeiten. Deutsche erkannte ich mit einer Trefferquote von fast hundert Prozent. Ein Paar kam auf mich zu. Vater und Tochter, dachte ich kurz und sah auf der Suche nach Theodor und Jolante durch sie hindurch, bis sie vor mir stehen blieben. Erst als die Frau auf das Schild in meiner Hand zeigte, begriff ich, dass meine neuen Kunden mich gefunden hatten.

»Jolante aber ohne H«, sagte die Frau.

»Sind Sie Herr Fiedler?«, fragte der Mann.

Ein Taxifahrer beobachtete uns von der Drehtür aus. Ich breitete die Arme aus und zog Theodor Hast an mich.

»Ich bin Sven«, sagte ich. »Willkommen auf der Insel.«

Theodor verkrampfte sich, während ich die Luft links und rechts von seinem Gesicht küsste. Ein leichter Geruch nach Lavendel und Rotwein. Dann drückte ich die Frau. Sie war schmiegsam wie ein Stofftier. Für einen Augenblick glaubte ich, sie würde zu Boden fallen, sobald ich sie losließe.

»Hoppla«, sagte Theodor. »Was für eine Begrüßung.«

Das Willkommenstheater würde ich ihnen im Auto erklären.

»Mein Wagen steht draußen«, sagte ich.

Bernie hatte seine zweite Familie um sich versammelt, Laura stand inmitten einer Gruppe junger Deutscher. Alle schwiegen und blickten zu uns herüber. Ich schaute zurück und hob fragend die Achseln. Antje hätte mich ausgelacht und wieder einmal behauptet, ich sei »schwer von Kapee«. Theodor und Jolante hatten ihre Rollkoffer gegriffen und schlenderten Richtung Ausgang. Er im Maßanzug ohne Hemd und Krawatte, das Sakko offen über einem hellen T-Shirt. Sie in Militärstiefeln zu einem grauen Leinenkleid, ärmellos, der Rock bis zum Knie. Das schwarze Haar auf ihrem Rücken glänzte wie Krähengefieder. Sie stießen einander mit der Schulter an, lachten über etwas. Blieben stehen und drehten sich nach mir um. Jetzt sah ich es auch: Sie wirkten nicht wie Urlauber. Eher wie Models für eine Ferienreklame. Irgendwie kamen sie mir bekannt vor. Die halbe Ankunftshalle starrte sie an. Das Wort »Prachtexemplare« kam mir in den Sinn.

»Dann mal viel Spaß«, sagte Laura mit Blick auf die Beine der Frau von der Pahlen.

»Canalla«, sagte Bernie grinsend und schlug mir auf die Schulter, als ich an ihm vorüberging: Du Mistkerl. Seine Familien waren rothaarig. Das bedeutete Sonnenbrand und nervöse Kinder.

Draußen auf dem Parkplatz öffnete ich meinen Kunden die Seitentür des VW-Busses, aber sie fanden es lustiger, mit mir vorne zu sitzen. Der Bus verfügte über eine Fahrerbank mit drei Plätzen; Theodor quetschte sich in die Mitte. Mein nacktes Bein in Shorts schien unpassend neben seiner Anzughose. Als ich den Gang einlegte, streifte meine Hand seinen linken Oberschenkel. Für den Rest der Fahrt presste er die Knie zusammen.

»Wir duzen uns hier. Wenn’s euch recht ist.«

»Theo.«

»Jola.«

Wir reichten uns die Hände. Theos Finger lagen warm, aber schlaff in den meinen. Jola hatte den festen Händedruck eines Mannes, fühlte sich aber erstaunlich kalt an. Sie kurbelte das Fenster ein Stück herunter und hielt die Nase in den Wind. Ihre Sonnenbrille gab ihr das Aussehen eines Insekts. Eines niedlichen Insekts, das musste ich zugeben.

Arrecife war eine Konzentration von Unannehmlichkeiten. Behörden, Gerichte, Polizei, Hotelanlagen, Krankenhäuser. Man fährt nur hin, wenn es ein Problem gibt, pflegte Antje zu sagen. An diesem Tag wusste ich noch nicht, dass ich eins hatte. Ich genoss es, die Stadt zu verlassen, drückte aufs Gas, erreichte die Ausfallstraße und Fluchtgeschwindigkeit. Die Landschaft öffnete sich. Ein paar bärtige Palmen am Straßenrand, dahinter alles schwarz bis zum Horizont. Eine Schönheit im klassischen Sinn war die Insel nicht. Vom Flugzeug aus betrachtet, glich sie einem riesigen Kieswerk. Braungraue Hügel, in deren Senken Schneereste zu liegen schienen. Im Landeanflug erkannte man, dass es sich bei den hellen Flecken um Ortschaften handelte, aus weißen Häusern zusammengesetzt. Eine Landschaft ohne nennenswerte Vegetation hatte es ebenso schwer wie eine Frau, die nichts Passendes zum Anziehen besitzt. Gerade für ihre fehlende Eitelkeit hatte ich die Insel von Anfang an geliebt.

Wie war euer Flug, wie ist das Wetter in Deutschland?

Wie groß ist die Insel, wie viele Menschen leben hier?

Ich wählte die Route durchs Weingebiet. Unzählige trichterförmige Mulden, an deren Grund jeweils eine Rebe Schutz und fruchtbaren Boden fand. Dass es Menschen gab, die für jede einzelne Pflanze ein metergroßes Loch in die Lapillischicht gruben, den Rand mit einer kleinen Steinmauer befestigten und auf diese Weise fünftausend Hektar wie einen Schweizer Käse durchlöcherten, faszinierte mich immer wieder aufs Neue. In der Ferne leuchteten die Krater des Timanfaya rötlich, gelb, violett und grünlich von den Flechten, die das Vulkangestein überzogen. Die einzige Pflanze, die in dieser Umgebung wuchs, war ein Pilz. Ich wartete, wer als Erstes »wie auf dem Mond« sagen würde.

»Wie auf dem Mond«, sagte Jola.

»Erhaben«, sagte Theo.

Als Antje und ich vor vierzehn Jahren angekommen waren, ausgestattet mit zwei Rucksäcken und dem Plan, einen möglichst großen Teil unserer Zukunft auf der Insel zu verbringen, wenn auch nicht unbedingt gemeinsam, da war sie es, die beim Anblick des Timanfaya »wie auf dem Mond« gesagt hatte. Ich hatte etwas wie »erhaben« gedacht und nicht das richtige Wort dafür gefunden.

»Wenn man Geröll mag«, sagte Jola.

»Du hast keinen Sinn für die Ästhetik des Kargen«, erwiderte Theo.

»Und du bist einfach nur froh, dich auf festem Boden zu befinden.«

Jola zog Stiefel und Strümpfe aus und warf mir einen fragenden Blick zu, bevor sie die nackten Füße gegen die Windschutzscheibe stützte. Ich nickte zustimmend. Es freute mich, wenn sich meine Kunden möglichst rasch entspannten. Sie sollten sich nicht wie zu Hause fühlen.

»Fliegst du auch so ungern?«, fragte ich Theo.

Sein Blick war vernichtend.

»Er stellt...

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