Ich hab sie nicht gezählt - Eine unartige Biografie

Ich hab sie nicht gezählt - Eine unartige Biografie

von: Dolores Schmidinger

Verlag Kremayr & Scheriau, 2012

ISBN: 9783218008594

Sprache: Deutsch

240 Seiten, Download: 474 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Ich hab sie nicht gezählt - Eine unartige Biografie



1. Kapitel


Jetzt bin ich in der ersten Klasse. Es ist kalt und von der Decke hängt eine schwache Glühbirne ohne Schirm. Wir tauchen den Federhalter in die Tinte und schreiben kleine A’s und B’s und C’s in unser Heft. Volksschule. Unsere Klassenvorsteherin, die Schwester Carissima, fragt mich, was nach dem C kommt. Das weiß ich. „Das D“, antworte ich, und die Schwester Carissima sagt: „Du musst lauter sprechen, Dolores, sei doch nicht so schüchtern!“

Sie nennt mich Dolores, obwohl die Mutti ihr ausdrücklich ans Herz gelegt hat, dass man mich „Doris“ nennen soll. Eigentlich heiße ich Maria Dolores, aber die Mutti mag diesen Namen nicht. Der Vati wollte, dass ich so heiße. Er hat vor dem Krieg in Argentinien in einer Missionsstation gearbeitet und war von Heimweh geplagt. Darum hat er der heiligen Mutter Maria gelobt, wenn er einmal eine Tochter hat, soll sie ihren Namen tragen. „Maria Schmerzen“. Maria Dolores. Ja, eigentlich heiße ich „Mutter Schmerzen“. Der Vati ist furchtbar katholisch. Trotzdem glaubt die Mutti nicht an die Version vom Gelöbnis an die Mutter Gottes. Sie vermutet eher, dass er dort unten mit einer gewissen Dolores „ein Pantscherl“ gehabt hat. Drum nennt sie mich jetzt „Doris“.

Die Schwester Carissima ist sehr sanft, aber die Mitschülerinnen sind so fremd und ich fühle mich einsam in der Klasse. Ich habe auch ein bisschen Angst, denn in Religion lernen wir, dass alle Heiden in die Hölle kommen und die ungetauften Kinder in die Vorhölle.

Wir malen einen brennenden Heiden in unser Religionsheft. Der Heide hat schwarze Haut und ein Baströckchen, denn wir haben gelernt, dass die Heiden meistens Neger sind. Die ungetauften Kinder in der Vorhölle brauchen wir nicht zu malen, weil es dort stockdunkel ist, sagt die Schwester Carissima. Die ungetauften Kinder müssen nämlich nicht die ganze Zeit brennen, aber sie können den lieben Gott nicht sehen.

„Und warum können sie ihn nicht sehen, sie haben ja nichts getan?“

Die Schwester wird ungeduldig: „Weil sie die Gnade des Glaubens nicht haben!“

Die Mutti geht am nächsten Tag zur Schwester Carissima und beschwert sich: „Sowas darf man Kindern nicht beibringen, die ungetauften Kinder kommen ganz bestimmt nicht in die Vorhölle, das sind ja Ansichten wie im Mittelalter!“

Und sie erzählt immer wieder davon, dass sie aufgeklärte, moderne Ansichten hat, darauf ist sie nämlich sehr stolz.

Zu Mittag, wenn die Schule aus ist, kommt die Mutti mich abholen. Wir gehen durch den siebenten Bezirk mit seinen baumlosen Straßen nach Hause. Eine Viertelstunde brauchen wir von der Schule der „Schwestern zum Göttlichen Heiland“ in der Kenyongasse bis zu uns in die Kaiserstraße. Die Häuser sind hoch und schauen unfreundlich aus. Drinnen ist es dunkel. Wir wohnen im vierten Stock ohne Aufzug. Und der vierte Stock ist nicht wirklich der vierte Stock, da gibt es noch ein Zwischengeschoss, den Mezzanin. Die Mutti jammert immer wegen der Stiegen. Aber der Vati sagt, sie soll doch ein bisschen mehr Bewegung machen in der freien Natur. Die Mutti hat nichts übrig für die freie Natur, und wenn wir sonntags wandern gehen, sagt sie immer: „Das ist doch viel zu weit für die arme Doris, die hat ja schon Blasen an den Füßen!“

Obwohl ich gar keine Blasen habe. Schließlich geht der Vati alleine wandern.

Unsere Bedienerin heißt Frau Spagolla. Sie ist eine große Frau mit schwarzen Haaren und einer tiefen Stimme. Sie kommt dreimal die Woche bedienen, denn die Mutti putzt sehr ungern. Ich mag die Frau Spagolla, sonst hätte ich sie wohl nicht gefragt, ob sie mir den Popo verhauen will.

Da war ich gerade vier Jahre alt. Ich hab zu ihr gesagt: „Frau Spagolla, du musst mit mir ins Wohnzimmer gehen, die Rollos herunterziehen und mich übers Knie legen. Und dann musst du mir meinen nackerten Popo verhauen.“ Ich glaube, sie hat sich gewundert und war ganz verlegen, aber ich habe ihr so lang keine Ruhe gelassen, bis sie nachgegeben hat. Sie hat mit mir diese Szene gespielt. Nachher war ich enttäuscht, weil sie einen Spaß daraus gemacht hat, es sollte doch ernst sein.

Natürlich hat sie alles der Mutti erzählt, und die hat mich so komisch angeschaut und gefragt: „Ja Doris, wie kommst du denn auf solche Sachen?“

Aber ich habe nichts gesagt.

Es war nämlich so, dass mir der Vati den Popo verhauen hatte. Zum ersten Mal. Bei mir hat es nicht viel zu verhauen gegeben, denn ich war ein braves Kind. Aber an diesem Tag ist er mit mir ins Wohnzimmer gegangen, hat die Türe zugemacht, die Rollos heruntergezogen und hat mich übers Knie gelegt. Dann hat er mit der Hand meinen nackten Popo verhaut. Ich habe geweint und nachher war er ganz lieb zu mir und hat mich gestreichelt.

Am nächsten Tag ist die Mutti mit mir einkaufen gegangen zum Greißler in der Burggasse. Und sie hat der Greißlerin von der Sache erzählt: „Na, gestern hat es die Doris aber von ihrem Vati gekriegt! Aber ihm hat’s ja mehr weh getan als ihr.“

Und ich habe mich geschämt und das Schämen war irgendwie angenehm. Es hat an der Stelle gekitzelt, zu der die Mutti immer „Popschilein“ sagt, obwohl das Popschilein eigentlich weiter hinten ist, und das Gacki aus dem Popschilein kommt. Aber wenn man meiner Mutti glauben darf, gehört auch der vordere Teil, dort, wo das Lulu herauskommt, zum Popschilein.

Und da war auch noch der Vorfall im Badezimmer. Der Vati ist nackt, er nimmt ein Bad, ich stehe am Badewannenrand, neben mir die Mutti.

„Das Kind“, sagt er, „das Kind soll mich ruhig da unten angreifen, damit es lernt, wie ein Mann gebaut ist!“

Und ich greife ihn da unten an.

„Weißt du“, sagt die Mutti, „der Vati meint es nur gut, er hat moderne Ansichten, er ist ja beim Theater.“ Der Vati ist nämlich an der Wiener Volksoper als Tenor engagiert. Ein Tenor ist was ganz Besonderes, er muss ständig Gesangsübungen machen.

Ich habe den Vati sehr lieb. Ich rieche so gerne an seinem Rosshaarpolster. Im Schlafzimmer stehen die zwei altdeutschen Ehebetten, und auf der Seite vom Vati liegt auf dem normalen Polster noch ein kleiner Polster, der mit Rosshaar gefüllt ist. Das ist wegen dem gesunden Schlaf. Und das Rosshaar riecht nach ihm, nach seinen Haaren, nach seiner Haut. Die Mutti riecht süßlich und nach Zwiebel, wenn sie schwitzt, aber der Vati riecht so angenehm scharf.

Mein Bett steht im Schlafzimmer von den Eltern. Der Vati kommt mit mir spielen, wenn ich im Bett liege. Er kitzelt mich, bis ich nicht mehr lache, und er zieht mir die Decke über den Kopf. Ich hab’ Angst, keine Luft mehr zu kriegen, aber ich sage nichts, damit er weiter mit mir spielt.

Im Sommer sind wir im Mühlviertel auf Sommerfrische. Der Hof liegt ganz einsam in die Landschaft eingebettet, da muss man vom Bahnhof eine Stunde zu Fuß gehen, die Koffer auf dem Leiterwagerl transportieren, das von den blonden kleinen Bauernsöhnen gezogen wird.

Wochentags gibt es Sauerkraut und Knödel und alle essen aus einer Schüssel. Am Sonntag gibt es Geselchtes, der Bauer kriegt das größte Stück.

Sonntag ist auch der Tag des Gerichts für die blonden Bauernkinder. Alle sind in der Scheune versammelt. Die Scheune ist groß wie eine Kirche, und vorne ist ein Trog mit Heu. Das ist der Altar. Da müssen die Straftäter Aufstellung nehmen. Die Zuschauer sitzen am Boden und die meisten lachen schadenfroh, bis sie selbst drankommen. Es riecht nach Holz und getrocknetem Gras und Sonnenstrahlen fallen durch ein Fenster. Dann vollstreckt der Bauer die Buße. Er zieht den Buben die Hose herunter und bearbeitet sie mit der Weidenrute. Einen nach dem anderen. Das Ganze ist feierlich wie eine heilige Messe. Und ich habe wieder das Kribbeln im vorderen Popschilein.

Im Herbst wird mein Bett ins Wohnzimmer umquartiert. Es gibt noch einen Raum in der Wohnung, aber das ist das „Herrenzimmer“, und das ist für den Vati. Er ist der Herr im Haus. Da steht der Flügel, wo er jeden Morgen die Stimme trainiert. „Ahahahaha“ und „Mimimimimi“. Er hätte eine große Karriere machen können, aber er ist halt einen Kopf zu klein und zehn Jahre zu alt, sagt die Mutti.

Jetzt bin ich sechs Jahre alt, mein Gesicht ist rund und ich habe eine kleine Speckfalte über dem Rock. Der Vati interessiert sich immer weniger für mich. Ich bin jetzt die ganze Zeit mit der Mutti zusammen, ich bin ihr Ein und Alles. Wenn ich mit dem Roller fahre, sagt sie immer wieder, ich soll aufpassen und mir nicht weh tun. Und dann falle ich hin und tu mir weh. Die Mutti hat es vorausgesagt. Und beim Schwimmen soll ich vorsichtig sein, damit ich nicht ertrinke.

Einmal bin ich mit dem Vati im Gänsehäufel und ich darf ins ganz große Becken. Plötzlich wird das Wellenbad eingeschaltet und das ganze Wasser bewegt sich und die Wellen sind plötzlich über meinem Kopf. Ich schreie wie am Spieß und der Vati glaubt ich schreie vor Vergnügen. Er steht am Beckenrand und lacht. Von da an lässt mich die Mutti nie wieder mit dem Vati schwimmen gehen. Aber ihm ist das sowieso egal, weil ich jetzt mit der Speckfalte überm Rock nicht mehr seine „Zirpe“ bin, sondern „die Tochter“.

Und mit acht habe ich noch mehr Speck angesetzt und da verliere ich endgültig seine Liebe. Ekelhaft, ein molliges Kind. Die Mutti ist ihm auch zu mollig. „Das Weib“, nennt er sie.

„Warum hab ich einen kleinen Mann geheiratet?“, klagt die Mutti immer wieder. „Er mag es gar nicht, dass ich größer bin als er, ich kann überhaupt keine Stöckelschuhe mehr anziehen.“

Und ihr Busen ist auch zu groß. Und er ist birnenförmig. Dabei sollte er apfelförmig sein.

Wir stehen im Schlafzimmer, das Ehepaar...

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