Orte der Moderne - Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts

Orte der Moderne - Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts

von: Alexa Geisthövel, Habbo Knoch (Hrsg.)

Campus Verlag, 2005

ISBN: 9783593377360

Sprache: Deutsch

375 Seiten, Download: 5519 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Orte der Moderne - Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts



Das Stadion von Per Leo I. (S. 151-152)

Zwei Massenereignisse: Deutsches Stadion, Berlin, 1922 Für Carl Diem muss es ein erhebender Anblick gewesen sein. Angeführt von Studenten der Deutschen Hochschule für Leibesübungen waren Zug um Zug die besten Athleten der deutschen Sport- und Turnverbände in das Stadion einmarschiert. Unter Militärmusik und dem gemessenen Applaus des Publikums, der mit jedem neuen Zug in regelmäßigen Abständen an- und abgeschwollen war, hatten sich die Sportler nach einer präzise abgestimmten Orchestrierung im weiten Innenraum formiert. Kurz bevor Staatssekretär Dr. Lewald seine Eröffnungsansprache begann, herrschte einen Moment lang Stille. Über 10.000 Sportler und Turner aus allen Teilen Deutschlands vereinten sich mit den über 30.000 Zuschauern zu einem ruhenden Menschenensemble; nur das an die Tribünen angeschmiegte Oval der Radrennbahn trennte die beiden Gruppen voneinander.

Den oberen Rand des Stadions, das zehn Meter tief in die Erde gesenkt lag, umkränzte ein dichter Ring aus Föhren. Und wie auf einem glatten See spiegelte sich die Sonne im Wasser der Schwimmbahn, deren Quader die Ränge gegenüber der Kaiserloge aus dem Zuschauerrund hinausschob. In ihrer Mitte grüßte, von einer hohen Säule am Tribünenrand, eine Viktoria-Statue den leeren Platz des Monarchen, auf beiden Seiten flankiert von Reihen antikisierter Athletenplastiken, deren Abschluss zwei Pferdestatuen an den Kopfenden des Bassins bildeten (Bensemann/ Frommel 1922, 40ff.). An diesem Tag, dem 25. Juni 1922, konnte das 1913 erbaute Deutsche Stadion in Berlin-Grunewald endlich seiner eigentlichen Bestimmung übergeben werden: In »Deutschlands Olympia« wurden die ersten »Deutschen Kampfspiele« feierlich eröffnet. Der Gesamteindruck der Feier mochte der weihevollen Vision recht nahe gekommen sein, die der Cheforganisator der Spiele Carl Diem mit dem griechischen Wort stadion verband (Diem 1913, 5).

Die im Rahmen der Kampfspiele ausgetragenen Wettkämpfe hatten bereits am Sonntag zuvor mit dem Endspiel um die deutsche Fußballmeisterschaft zwischen dem Hamburger SV und dem 1. FC Nürnberg begonnen – einer nach Diems Begriffen alles andere als festlichen Veranstaltung. Unter den fast 40.000 Zuschauern befanden sich große Gruppen von Anhängern beider Mannschaften, die in Sonderzügen angereist waren. Lautstark brachten sie ihre Parteilichkeit mit Anfeuerungsrufen, Pfiffen und Beschimpfungen zum Ausdruck. Als es nach über drei Stunden Spielzeit immer noch 2:2 stand, brach der Schiedsrichter das Spiel bei Einbruch der Dunkelheit ab. Auf den voll besetzten Rängen kam es zu tumultartigen Szenen. Besonders den Hamburger Anhängern warfen Beobachter später rowdyhaftes Benehmen vor (Eggers 2001, 48).

Doch die »unschönen Ereignisse« im Deutschen Stadion waren nur ein Vorgeschmack auf das Wiederholungsspiel in Leipzig einige Wochen später. Tausende Fußballanhänger verschafften sich ohne Karten Zutritt zum Stadion und drückten johlend viele Stehplatzinhaber über die Absperrungen in den Innenraum, wo sie von der Polizei nicht zu kontrollieren waren. Steine und Flaschen wurden geworfen. »Es gab Verletzte in Massen, und als das Spiel begann, war die Stimmung auf den Siedepunkt angestiegen« (Leipziger Volkszeitung 1922). Als sich nach 120 Minuten eines äußerst hart geführten Spiels mit zahlreichen Verletzungen und Platzverweisen nur noch sieben Nürnberger Spieler auf dem Feld befanden, brach der Schiedsrichter beim Stand von 1:1 erneut ab. Ihren Heimweg bahnten sich viele der aufgewühlten Zuschauer querfeldein durch eine Kleingartenanlage. Ein drittes Spiel wurde nicht in Erwägung gezogen, die Saison 1921/22 blieb ohne Meister.

Die Ereignisse zeigen das Stadion als modernen Ort, an dem die massenhafte Kopräsenz von Körpern arrangierbar, erfahrbar und beobachtbar wird. Zugleich markieren sie die extremen Pole des Arrangements von Körpern im Stadion: hier die organisierte Menschenformation, lebendige Verdoppelung der Geometrie des Stadions und sichtbare Repräsentantin einer gedachten Ordnung – dort die eigensinnige Masse als eine vom Stadion angezogene, aber kaum gebändigte Flut, in ihrem Lärmen von unausweichlicher Präsenz.

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