Reisende auf einem Bein

Reisende auf einem Bein

von: Herta Müller

Carl Hanser Verlag München, 2010

ISBN: 9783446236264

Sprache: Deutsch

176 Seiten, Download: 1003 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Reisende auf einem Bein



1

ZWISCHEN den kleinen Dörfern unter Radarschirmen, die sich in den Himmel drehten, standen Soldaten. Hier war die Grenze des anderen Landes gewesen. Die steile Küste, die halb in den Himmel reichte, das Gestrüpp, der Strandflieder waren für Irene das Ende des anderen Landes geworden.
Am deutlichsten sah Irene dieses Ende am Wasser, das zuschlug und wegfloß. Das kurz zuschlug und lange wegfloß, weit hinter die schwimmenden Köpfe, bis es den Himmel bedeckte.
In diesem losgelösten Sommer spürte Irene zum ersten Mal das Wegfließen des Wassers weit draußen näher als den Sand unter den Füßen.An den Treppen der Steilküste, wo Erde bröckelte, sah Irene wie in all den anderen Sommern die Warntafeln stehen: »Erdrutschgefahr.«
Die Warnung hatte in diesem losgelösten Sommer zum ersten Mal wenig mit der Küste und viel mit Irene zu tun. Die Steilküste war wie gebaut aus Erdbrocken und Sand, wie gebaut von Soldaten, damit der Sog nicht ins Land, nicht ins Innere kam, von irgendwo her.
Am Abend waren die Soldaten betrunken. Sie gingen wieder auf und ab. Die Flaschen klirrten im Gestrüpp. Weitab von den Kegelbahnen, von den tanzenden Sommerkleidern in den Kneipen standen sie, die Soldaten, unter den Trichtern der Radarschirme. Die fingen nur Licht ein und den Wechsel der Farben im Wasser. Sie gehörten der Grenze des anderen Landes, wie die Soldaten der Grenze des anderen Landes gehörten.
Himmel und Wasser waren gleich in der Nacht.Der Himmel glimmte vor sich hin, unruhig mit verstreuten Sternen, getrieben von Ebbe und Flut. Er blieb schwarz und still. Und das Wasser tobte.
Wenn das Wasser längst dunkel war, die Wellen hoch, war der Himmel noch grau, bis die Nacht kam, von unten.Zwei Stunden, bis die Musik der Rockband aus der kleinen Kneipe neben dem Dorf zu hören gewesen war, war Irene die Küste entlanggegangen. Jeden Abend zwei Stunden.
Es sollten Spaziergänge sein.Am ersten Abend hatte Irene auf den Himmel hinaus und aufs Wasser geschaut. Dann hatte sich ein Strauch anders als die anderen Sträucher bewegt. Nicht vom Wind.Hinter dem Strauch stand ein Mann. Lauter, als das Wasser schlug, und doch mit einer Stimme, als würde er flüstern, sagte der Mann:Schau mich an. Lauf nicht weg. Ich tu dir nichts. Ich will nichts von dir. Ich will dich nur sehen.
Irene war stehengeblieben.
Der Mann rieb sein Glied. Keuchte. Das Meer nahm seine Stimme nicht mit.
Dann tropften seine Fingernägel. Dann war sein Mund zerbrochen und sein Gesicht weich und alt. Das Wasser schlug. Der Mann schloß die Augen.

Kategorien

Service

Info/Kontakt