Die Abenteuer des Joel Spazierer - Roman

Die Abenteuer des Joel Spazierer - Roman

von: Michael Köhlmeier

Carl Hanser Verlag München, 2013

ISBN: 9783446242869

Sprache: Deutsch

656 Seiten, Download: 1466 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Abenteuer des Joel Spazierer - Roman



ZWEITES KAPITEL


1


 

Die Soldaten fuhren – uns zuliebe! – auf der Ringstraße einmal um die Innere Stadt herum und setzten uns schließlich, als wären wir ein Staatsbesuch, vor dem Hotel Imperial ab. Der Leutnant, dieser kurze, wuchtige Mann mit den weit auseinander stehenden Zähnen und dem Strahlenkranz von Lachfalten – ich könnte sein Gesicht heute noch auf Papier nachzeichnen – drückte jedem von uns zum Abschied die Hand, legte die zweite darüber und sagte, er wünsche sich, dass in diesem Hotel, das weltweit Adolf Hitlers Lieblingshotel gewesen sei, in realistischer Zukunft eine Suite für uns bereitstehe; und verriet uns, er selbst habe ungarische Vorfahren; die Österreicher seien im Grunde patente Menschen, sie würden nach einer Eingewöhnungszeit bestimmt sehr freundlich zu uns sein. – Falls nicht? Bei welcher Macht würden wir uns beschweren können? Seine Adresse gab er uns nicht. Wir haben auch nicht danach gefragt. Das aber sei ein Fehler gewesen, sagte meine Mutter, als die Militärkolonne davonfuhr.

Da entgegnete ihr Moma, feierlich wie bei einer Geburtstagsrede: »Wir brauchen ihn nicht. Wir haben unseren Herrn Dr. Martin.«

Die Stadt war mir vom ersten Spaziergang an vertraut; als hätten wir lediglich eine Runde um Budapest herum gedreht und wären auf der anderen Seite wieder eingezogen – nun minus Kommunismus. Wir schlenderten unter den Bäumen über die Ringstraße, unsere Bündel auf dem Rücken, die Rucksäcke und die Decken, die Koffer in der Hand, Papa zudem Opas Koffer, vorbei an der schwarzen Oper, vorbei am Goethedenkmal mit den Grünspantränen – wie mir das gefiel! Schmutzig waren wir, Opa und Papa unrasiert, Moma und Mama ungeschminkt; unsere Schuhe waren verdreckt, die Kleider voller Grasflecken und zerknittert von der vorangegangenen Nacht auf dem Feld, wo wir so formidabel geschlafen und in unseren Träumen weitergesungen hatten (ich habe Mama und Moma summen hören). Nicht einmal die Zähne hatten wir uns geputzt – wie denn, wo denn? Wir setzten Opa auf eine Bank in dem Park zwischen den spiegelverkehrten Zwillingen des Kunsthistorischen und Naturhistorischen Museums, gleich neben die Kaiserin Maria Theresia auf ihrem hohen Sockel aus grauem poliertem Stein. Mein Vater wollte ihm Gesellschaft leisten, während sich Moma gemeinsam mit mir und Mama um unsere Zukunft kümmerte – wenigstens um unsere nähere Zukunft; für die weitere, sagte sie, würden die Freiheit des Westens und das Schweizer Bankwesen Sorge tragen. Opa und Papa unterhielten sich gern über medizinische Dinge, das heißt, der eine dozierte, der andere hörte zu; aber weil Papa dabei so aufmerksam zuhörte, sagte mein Großvater hinterher immer, sie hätten sich prächtig unterhalten, obwohl mein Vater wahrscheinlich nicht ein Wort beigetragen hatte. Moma gab ihm ein Büschel von den Forint, die sie über ihrem Magen trug; er solle versuchen, sie bei einer Bank in Schilling umzutauschen (der Wechselkurs für den Forint sei »zum Sich-am-Fensterkreuz-Aufhängen« – wörtlich Moma), und Coca-Cola und Wurstsemmeln davon kaufen, so viel wie möglich.

Wir anderen ließen unser Gepäck zurück und gingen weiter – vorbei am Justizpalast, am Parlament, am Rathaus, das mir wie ein riesiger Vogel mit spitzem Kopf und ausgebreiteten Flügeln vorkam, vorbei an der Universität und der Votivkirche (Moma kannte sich prima aus!), hinein in den 9. Bezirk zur Frankgasse Nummer 1, nämlich zum Ägyptologischen Institut, wo sich Moma bei der Sekretärin erkundigte, ob Herr Dr. Hans Martin im Haus sei, und wenn nicht, wie man ihn erreichen könne.

Nachdem uns die Sekretärin allein gelassen hatte, fragte meine Mutter, warum sich Moma nicht vorgestellt habe; sie habe geglaubt, Frau Professor Dr. Helena Fülöp-Ortmann sei eine Berühmtheit in ihrem Fach; wo sonst, wenn nicht hier, könne aus dieser Art von Berühmtheit Kapital geschlagen werden … – Wir waren erschöpft und von der Junisonne überhitzt und hatten erst wenig von der Freiheit des Westens mitgekriegt; die Freundlichkeit des ungarnstämmigen Bundesheersoldaten war aufgebraucht; Moma und Mama waren gereizt; und alle drei hätten wir gern etwas Deftiges im Magen gehabt – dennoch überraschte mich der streitsüchtige Ton in Mamas Stimme. Und ihr bitterer Mund. Ich rechnete damit, dass Moma mit einer gepfefferten Zurechtweisung reagieren würde, wie sie es schon bei geringeren Anlässen getan hatte, oft in böse herabsetzender Weise. Zum ersten Mal sah ich sie unsicher, ängstlich, verzagt, ertappt, entwaffnet – das soll keine Aufzählung des Gleichen sein, sondern beschreibt die Stufen hinab zur Kapitulation. Wenn ich darüber nachdenke, wann Momas Macht über meine Mutter eingeknickt war, fällt mir diese Szene ein: Mama in ihrem dünnen, grünlich hellen Mantel, den sie sich mit einem Gürtel eng um die Taille gebunden hatte, der hohe, blonde Rossschwanz, die Lippen trompetenhaft geschürzt, die Hände in den Manteltaschen zu Fäusten geballt (was sie von ihrem Mann abgeschaut hatte). Sie führte einen Feldzug.

Ich sagte schnell: »Moma will halt nicht angeben.« Und hatte damit Partei ergriffen – was mir meine Mutter mit einem Naserümpfen quittierte.

»Ich an ihrer Stelle würde angeben«, stichelte sie weiter. »Wenn es etwas anzugeben gibt, warum bitte soll man dann nicht angeben? Vor allem, wenn es sich auszahlt, und zwar für uns alle.«

»Angeben tut, wer nichts zum Angeben hat«, hielt ich dagegen. Meine Neunmalklugheit war bei meiner Mutter nie gut angekommen; sie war ihr unerklärlich, weil sie sich nie ernsthaft um meine Erziehung gekümmert hatte und sich naturgegebene Intelligenz nicht vorstellen konnte und folglich Einflüsse vermutete, die ihrer Aufmerksamkeit entgangen waren und ihr unheimlich und unappetitlich erschienen.

»Willst du Rechtsanwalt werden?«, fuhr sie mich an. Eine treffende Antwort wäre gewesen: Nein, Richter. Moma mischte sich nicht ein. Das nahm mir den Mut. In einem Handstreich hatte meine Mutter uns beide besiegt. Sie sagte, was sie gesagt hatte, als sie und ich in dem Laster an der Ecke Báthory utca/Bajcsy Zsilinszky út gewartet und meinem Vater zugesehen hatten, wie er Opa hochhob und mit ihm Kreise über die Straße zog: »Wäre das nicht anders gegangen!«

 

Die Sekretärin kam in Begleitung eines hochgewachsenen Mannes mit langen dunklen Stirnhaaren, die er sich aus dem Gesicht strich, ehe er seine Hand ausstreckte; eigentlich zwischen uns hineinstreckte, gleichsam zur allgemeinen Verwendung, so dass es uns überlassen blieb, wer sie als erster ergriff. Seinen Namen nannte er, mit Titel – Dr. Hans Martin –, und fragte, was er für uns tun könne. Ich nahm seine Hand – ich tat es, um Moma abermals aus ihrer Verlegenheit zu retten. Denn so viel wusste ich: Das Handausstrecken wäre ihr Privileg gewesen.

»Ich bin Helena Fülöp-Ortmann«, sagte sie, zeigte, ohne eine Pause zu lassen, auf mich und meine Mutter. »Er ist mein Enkel, sie meine Tochter. Mein Mann und mein Schwiegersohn warten im Park zwischen den Museen. Wir sind hungrig und müde.« Sie sprach langsam und wie von der Bühne herab und beunruhigend monoton. »Wir sind gestern aus Ungarn geflohen. Wir haben die Nacht im Freien verbracht. Wir hoffen, dass Sie, Herr Dr. Martin, uns helfen werden. Aus Ihrem Brief vom 15. April schließe ich, dass Sie bereit sind, es zu tun.«

Hätte mich einer gefragt, ich hätte geantwortet: Nein, er wird uns nicht helfen. Weshalb nicht? Erstens: Weil wir aussahen, wie wir aussahen. Es würde ihm niemand etwas vorwerfen können. Zigeuner. Zigeuner müssen nicht aussehen wie Zigeuner, sie müssen nur welche sein. Zugleich aber war mir bewusst, dass ich ihm unsere Abgerissenheit als nachvollziehbaren, allgemein verständlichen Grund für eine Ablehnung unterschob – eigentlich vorschlug. Möglicherweise schlug er sich im Hader mit sich selbst das Gleiche vor. Suchte gegen seine erste Stimme nach einem Argument, um uns zum Teufel zu jagen: Sicher hatte er keinen Platz bei sich zu Hause – was Wunder, wir waren zu fünft, darunter ein Kind und ein versehrter Mann (was er noch nicht wusste); und kannte auch niemanden, der genügend Platz hatte – das war sehr wahrscheinlich. Aber er hatte gar nicht richtig zugehört. Er wird uns nicht helfen, dachte ich, weil – zweitens – er eine wirre Angst hat. Aber wovor?

Gut – Frau Professor Helena Fülöp-Ortmann stand vor ihm, die Hochverehrte, deren Buch über den Pharao Echnaton er »in einem Maße bewundere, das an Götzendienst grenzt«, die er sich auf einem Lehrstuhl in Wien wünschte, der er seine Dissertation über Echnatons Frau Nofretete gewidmet hatte – aber all dies reichte nicht aus für seine Verlegenheit, und für seine Angst schon gar nicht. Ich unterschätzte Momas wissenschaftlichen Ruf gewiss nicht; nur: zwischen Bewunderung und dem, was ich in Dr. Martins Gesicht sah, vermochte ich zu unterscheiden – auch wenn ich nicht in Worte hätte fassen können, was es war. Moma schminkte sich gern und parfümierte sich gern, zog gern hohe Schuhe an und Kleider in klaren Farben, die ihre Figur betonten, zeigte sich bei entsprechenden Temperaturen gern in ihrem silbernen Pelzmantel, der sie unnahbar und mondän erscheinen ließ – nun sah sie jünger aus, jugendlicher, aggressiver und verletzlicher. Ihr zerwühltes Haar, ihr von Schweiß glänzendes Gesicht, die verwischten Wimpern, ihre schmutzigen Hände, sogar der feine Schweißgeruch, den sie ausdünstete, all das machte sie aber nur noch anziehender. Die Niederlage verlieh ihr einen Zauber, der mir ans Herz griff – und nicht nur mir. Ich wäre gern ihr Ritter gewesen. Von Sexualität wusste ich nichts, aber bei Geheimnissen kannte ich mich aus. Die meisten Menschen erkennen zwar, wo ein...

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