Psychoanalyse - Geschichte und Methoden

Psychoanalyse - Geschichte und Methoden

von: Wolfgang Mertens

C.H.Beck, 2004

ISBN: 9783406418617

Sprache: Deutsch

129 Seiten, Download: 586 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Psychoanalyse - Geschichte und Methoden



4. Das Unbewußte – aktueller als je zuvor (S. 62-63)

Freuds Entdeckung eines „dynamischen Unbewußten", das dem Bewußtsein nicht, auch nicht durch noch so große Aufmerksamkeitsanstrengung und den forcierten Versuch, sich zu erinnern, zugänglich wird – dieses wäre in Freudscher Terminologie das sog. deskriptiv Unbewußte oder Vorbewußte – markiert den Beginn einer Psychologie, die eine enorme Ausweitung jenseits der Grenzen des Bewußtseins vornimmt und fortan als Tiefenpsychologie firmiert. Sie weist zugleich auch auf das Ende der Illusion hin, Menschen könnten alle Wahrnehmungen, Denkvorgänge und Erinnerungen bewußt kontrollieren. Es gibt vielmehr eine ganze Menge an Erfahrenem und Erlebtem, an Gewußtem und Gedachtem, das der bewußten Kontrolle nicht untersteht, quasi ein Eigenleben hinter unserer Rationalität führt, was Freud dazu veranlaßte, von einer schwerwiegenden narzißtischen Kränkung zu sprechen, vergleichbar nur mit der Entdeckung, daß der Mensch von den Tieren abstammt und daß die Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist.

Das Unbewußte ist psychisch, nicht physiologisch oder körperlich

Als Freud die Entdeckung machte, daß neurotische Symptome die Folge von verdrängten traumatischen Erinnerungen sind, hätte es gemäß der cartesianischen Doktrin nahegelegen, sie als subpersonale Phänomene zu bezeichnen, denen keine Denkvorgänge zukommen und die somit in den Bereich der physiologischen oder biologischen Betrachtung fallen – getreu dem cartesianischen Motto: Wenn etwas nicht bewußt ist, kann es nur körperlich sein.

Freud weicht jedoch in einem ganz wesentlichen Punkt vom cartesianischen Dualismus ab: Die unbewußten Vorstellungen sind keineswegs jenseits des Psychischen angesiedelt; sie weisen durchaus eine psychische Logik und eine bestimmte Art von Denkvorgängen auf. Mit seinem Konzept unbewußter Denkprozesse und Vorstellungen erweitert Freud somit das Psychische um das Unbewußte. Er kann deshalb als der erste systematische Denker gelten, der die Gleichsetzung von Bewußtsein und Psychischem überwindet, die über 250 Jahre lang in der Philosophie der Moderne tonangebend war. Das Geistige oder Psychische ist viel umfassender als das Bewußtsein. Diese Auffassung eröffnet nicht nur einen viel weiteren Untersuchungsbereich und stellt andere Erklärungsmöglichkeiten für das Unverständliche psychischer Erscheinungen bereit, sie schafft auch ungeahnte Erweiterungen des bewußten Wahrnehmens, Fühlens und Denkens. Jedermann, der einen psychoanalytischen Prozeß an sich selbst erfahren hat, weiß, wie sehr sich das Selbstverständnis verändert, wie man andere Menschen, sich selbst, alltagspsychologische Gegebenheiten und die einen umgebenden Erwartungen und Ideologien in einem neuen und umfassenderen Verständnis wahrnehmen kann.

„Das Psychische der Philosophen", schreibt Freud in Die Widerstände gegen die Psychoanalyse, „war nicht das der Psychoanalyse. Die Philosophen heißen ja in ihrer überwiegenden Mehrzahl psychisch nur das, was ein Bewußtseinsphänomen ist. Die Welt des Bewußten deckt sich ihnen mit dem Umfang des Psychischen. Was sonst noch in der schwer zu erfassenden ,Seele‘ vorgehen mag, das schlagen sie zu den organischen Vorbedingungen oder Parallelvorgängen des Psychischen. Oder strenger ausgedrückt, die Seele hat keinen anderen Inhalt als die Bewußtseinsphänomene, die Wissenschaft von der Seele, die Psychologie, also auch kein anderes Objekt. Auch der Laie denkt nicht anders." (1925 e, S. 103).

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