Geburtsarbeit - Hebammenwissen zur Unterstützung der physiologischen Geburt

Geburtsarbeit - Hebammenwissen zur Unterstützung der physiologischen Geburt

von: Hebammengemeinschaftshilfe e.V

Hippokrates, 2013

ISBN: 9783830455424

Sprache: Deutsch

336 Seiten, Download: 30823 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Geburtsarbeit - Hebammenwissen zur Unterstützung der physiologischen Geburt



1 Was ist eine normale Geburt?


Astrid Krahl

Hebammen vertreten den Standpunkt, dass Schwangerschaft, Geburt und Familienentwicklung vitale, normale, gesunde und soziale Lebensprozesse sind. In der Förderung der normalen Geburt erkennen sie ein Potenzial, das kurz- und langfristig positive Auswirkungen auf die Gesundheit von Frauen und deren Familien hat (16).

In der Münchener Erklärung bezeichnet die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zusammen mit der deutschen Politik, vertreten durch die damalige Gesundheitsministerin Andrea Fischer, Hebammen als die geeigneten Expertinnen für die Betreuung der normalen Geburt (22). In Deutschland besitzen Hebammen die rechtlichen Grundlagen für eine selbstständige und selbstverantwortete Betreuung und Begleitung von Frauen und ihren Kindern bei regelrecht verlaufender Schwangerschaft, Geburt, Neugeborenen- und Wochenbettzeit. Regelrecht meint den Normen entsprechend.

Doch was kennzeichnet die normale Geburt und wie kann sie gefördert werden? Vom beruflichen Standpunkt aus ist es für Hebammen unerlässlich, möglichst genau zu definieren, was ein normaler Schwangerschafts-, Geburts- und Wochenbettverlauf ist, um einen geeigneten Bewertungsmaßstab für ihre selbstständige Arbeit zu entwickeln und zu nutzen.

1.1 Definition der normalen Geburt


Eine allgemein anerkannte Definition einer normalen Geburt stammt von der WHO (1996):

Eine normale Geburt zeichnet sich aus durch einen „spontanen Geburtsbeginn bei niedrigem Ausgangsrisiko und gleichbleibend wenig Auffälligkeiten während des Geburtsverlaufes. Das Neugeborene wird aus Schädellage spontan mit einem Gestationsalter von 37 bis 42 vollendeten Wochen geboren. Post partum befinden sich Mutter und Kind in gutem Allgemeinzustand.“

In Großbritannien werden neben dem physiologischen Prozess auch die Nicht-Intervention, die Selbstbestimmung und Gestaltungsfreiheit von Frauen sowie eine unterstützende Geburtsumgebung als Merkmale einer normalen Geburt benannt (2).

Zum einen geht es also um eine gelungene natürliche oder physiologische Geburt, an deren Ende eine gesunde Mutter und ein gesundes Kind stehen. Zum anderen geht es aber auch um die soziale Unterstützung, die Mit- und Selbstbestimmung von Frauen und um die Förderung des Wohlbefindens von Mutter und Kind. Soo Downe (5) nennt dies eine salutogenetische Geburt, da physische, psychische, soziale und kulturelle Bedürfnisse der Frauen gleichermaßen Beachtung finden.

Diese Definitionen erfordern zusätzliche Unterdefinitionen, um im praktischen Arbeitsalltag für Hebammen handhabbar zu werden. Wann beginnt eine Geburt? Was kennzeichnet ein niedriges Ausgangsrisiko? Was genau bedeutet: „gleichbleibend wenig Auffälligkeiten während des Geburtsverlaufes“?

In der konkreten Geburtsbegleitung brauchen Hebammen weitere Unterdefinitionen, die den Geburtsverlauf differenzierter betrachten, und die ihnen eine fortlaufende und vorausblickende Einschätzung des Vorgangs erlauben. Nur dann wird es möglich, sich auf notwendige Interventionen zu beschränken und die normale Geburt zu fördern.

In der Debatte um die Medizinalisierung und Medikalisierung weiblicher Lebensphasen werden medizinische Normierungen während der Geburt kritisch hinterfragt (10). Aus diesem Grund stellt sich die Frage, welche Unterscheidungen oder Normierungen sinnvoll sind, um Hebammen und Frauen den oben genannten Zielen näher zu bringen.

1.1.1 Was ist normal?


Was Einzelne als normal erachten, ist abhängig von gesellschaftlichen und sozialen Definitionen, vom Wissens- und Forschungsstand, von dem was üblich und damit bekannt ist. Der Sinn von Normierungen liegt darin, eine Vergleichsbasis zu schaffen, die eine Einschätzung und Orientierung und sinnvolle Handlung ermöglicht. Eine Norm ist daher eher zielangemessen und zweckdienlich und nicht primär „wahr“ oder „richtig“ (18).

Normierungen richten sich nach verschiedenen Kriterien aus. Die Idealnorm folgt traditionellen oder individuellen Werten wie Schönheit oder Richtigkeit. Sie hat beispielsweise Einfluss auf das individuelle Selbst-Ideal. Die statistische Norm folgt Berechnungen von Häufigkeiten, Wahrscheinlichkeiten, Durchschnittswerten und Idizes. Funktionelle Normen betrachten Gegenstandsbereiche wie Laufen, Sprechen und Liebenkönnen, aber auch z. B. ganz allgemein das Wohlbefinden.

Abweichungen von statistischen Normwerten brauchen zur Bewertung der Aussage immer einen Bezugspunkt. Dieser erfolgt über eine Funktionsnorm, die messbar sein kann, oder, wie im folgenden Beispiel, eine subjektive Einschätzung. Beispiel: Ein Blutdruck von 95/50 mm Hg wird als niedrig und behandlungsbedürftig eingeschätzt, wenn die betreffende Person auch über Schwindel und Müdigkeit klagt. Fühlt sie sich dagegen gut und im täglichen Leben nicht eingeschränkt, erscheint die Hypotonie „funktionsbereinigt“ für diese Person als normal und nicht therapiebedürftig.

Eine Normierung muss sich immer an ihrer Nützlichkeit und Zweckmäßigkeit messen lassen. Alles davon Abweichende ist zunächst einmal wertungsfrei eine Varianz. Ab wann wird daraus eine Störung, Regelwidrigkeit, Abnormalität oder Pathologie? Das heißt, ab wann wird die Zielverwirklichung behindert?

1.2 Warum ist die Förderung der normalen Geburt wichtig?


Eine Geburt ist, wie jeder andere vitale Prozess auch, ein komplexes physiologisches Zusammenspiel von verschiedenen Prozessen, das bislang noch nicht gut verstanden wird. Die Dynamik der Prozesse und die Auswirkungen von vielfältigen physischen, psychischen, sozialen, kulturellen und ökonomischen Einflussfaktoren sind weitgehend unerforscht und rücken nur langsam in das wissenschaftliche Interesse.

Der Rhythmus der Geburt folgt einem sensiblen Zusammenspiel verschiedener Hormone. Einige Untersuchungen untermauern das Erfahrungswissen von Hebammen, dass dieser physiologische Prozess der Geburt hochsensibel auf die Geburtsumgebung, Interventionen und den zwischenmenschlichen Umgang reagiert (3, 15, 12). Das Hormon Oxytocin spielt hier eine zentrale Rolle. Es wirkt sich nicht nur körperlich direkt auf den Uterus und die Erzeugung von Wehen aus, sondern fördert als sogenanntes Liebeshormon auch die ganze Bandbreite mütterlicher Gefühle.

Ob Ultraschall, medikamentöse Geburtseinleitung und Wehenförderung, vaginale Untersuchungen, Amniotomie, Episiotomie oder cardiotocographische Untersuchungen, jede Intervention während der Geburt greift in irgendeiner Form in die physiologische Dynamik der Körperprozesse ein. Was sie dort genau bewirkt, ist in vielen Fällen bis heute nicht systematisch untersucht (19, 17).

Doch konnten beispielsweise Studien zum routinemäßigen Einsatz von Einläufen, Rasuren und Episiotomien mögliche schädigende Auswirkungen belegen und inzwischen ein Umdenken in den Kliniken bewirken (s. auch  Kap. 13).

Auch die medizinischen Definitionen von normal, suspekt, abweichend oder pathologisch sind häufig umstritten und nicht immer gut erforscht. Viele medizinische Interventionen sind nur in Bezug auf eine Behandlung pathologischer Zustände untersucht worden (17, 9).

Im Zuge der Entwicklung der evidenzbasierten Geburtshilfe in den letzten zwei Jahrzehnten entspannen sich zahlreiche Kontroversen um diese, häufig routinemäßig durchgeführten, Praktiken. Zeitgleich etablierten sich die ersten wissenschaftlich ausgebildeten Hebammen in diesem Forschungsbereich und untersuchen seither geburtshilfliche Betreuungspraktiken aus einem völlig neuen Blickwinkel. Diese Entwicklung setzt sich immer weiter fort, so dass hebammenspezifische und frauenorientierte Fragestellungen heute zumindest im anglo-amerikanischen und skandinavischen Raum einen festen Platz in der geburtshilflichen Forschungslandschaft erhalten haben. Auch wenn viele Bereiche bislang noch wenig beleuchtet sind, können Hebammen heute auf einen stattlichen Fundus von Forschungsergebnissen zurückgreifen, um Konzepte zur Förderung der normalen Geburt zu erarbeiten und zu untermauern.

1.3 Die Beurteilung des Geburtsfortschritts


Viele Interventionen ergeben sich aus der Beurteilung des Geburtsfortschritts. Zur kontinuierlichen Bewertung des Voranschreitens wird die Geburt in Phasen unterteilt, die spezifische physiologische Prozesse markieren. Diese Geburtsphasen sind international nicht einheitlich definiert und so verwundert es nicht, dass Diagnosen, wie protrahierte Eröffnungs- oder Austreibungsphase, Geburtsstillstand, sekundäre Wehenschwäche oder Zervixdystokie, sehr unterschiedlich getroffen werden.

Für alle heute im Berufsleben stehenden Hebammen ist es selbstverständlich, Geburten je nach ihrem Verlauf in normale oder protrahierte Geburten zu unterteilen und mit entsprechenden Interventionen zu reagieren. Die Feststellung der normalen oder protrahierten Geburt erfolgt über vaginale Untersuchungen. Diese sind heute selbstverständlich und nicht mehr wegzudenken.

Diskussionen ranken sich primär darum, welcher maximale Abstand notwendig ist, um eine protrahierte Geburt nicht zu verschleppen. In Deutschland übliche Partogramme gehen von einem zweistündlichen Untersuchungsrhythmus aus, der wenigstens eingehalten werden sollte. Spätestens dann sollte eine Zustandsbeurteilung...

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