
Wechseljahre
von: Ingrid Riedel
Kreuz Verlag, 2005
ISBN: 9783783126273
Sprache: Deutsch
120 Seiten, Download: 367 KB
Format: PDF, auch als Online-Lesen
Gelebte Gestalten des Weiblichen (S. 83-84)
R Ingrid Riedel
W Hildegunde Wöller
W.: Wie lässt sich seelisch-geistige Mütterlichkeit an Beispielen umschreiben?
R.: Es gibt verschiedene Ausprägungsformen. Eine uralte Form, die aber alle Zukunft hat, ist zum Beispiel die Lehrerin. Ich staune oft in der Psychotherapie von erwachsenen Menschen, was in der Geschichte des Kindes, das Sie einmal waren, vielleicht völlig missverstanden, nie gesehen, eine Lehrerin bewirkt hat. Eine hat zum Beispiel ein Kind, das als geistig behindert oder jedenfalls als lernbehindert galt, in die Schullaufbahn hineingebracht, so dass es jetzt als eine Akademikerin vor mir saß. Und manche sind ja auch sozial so vernachlässigt gewesen, dass sie selber einfach verschüchtert und dadurch leistungsmäßig total blockiert waren. Da kann eine Lehrerin in der Grundschule viel bewirken. Das ist ein Uraltmodell, das aber auch immer aktuell bleibt und dem entsprechend unendlich viel an geistig-seelischer Mütterlichkeit gelebt wird, und zwar oft auch gerade von der unverheirateten Frau und auch von der älteren Frau, die da als ältere Lehrerin, wenn sie noch einmal die ersten Jahrgänge hat, oft viel liebevolle Mütterlichkeit einbringt. Oder ich denke an zwei Freundinnen, die Sonderschullehrerinnen sind, als die sie sozial sehr stark geschädigte oder eingeschränkte, blockierte Kinder, aus aller Herren Länder vor sich haben, und was diese beiden einbringen an wirklich geistig-seelischer Mütterlichkeit für Kinder, die das sonst überhaupt nicht kennen lernen könnten! Und das geht weiter bei der Berufsausbildung. Ich habe eine Gärtnerin kennen gelernt, die Lehrlinge heranzieht. Was sie dort gibt, wie sie diese jungen Menschen entdeckt und aufschließt, das ist erstaunlich. Das kennen wir ein bisschen auch aus dem Studium. Was hat es uns jungen Studentinnen bedeutet, wenn wir überhaupt einmal eine weibliche Professorin kennen lernen zu können! Es gibt noch gar nicht viele. Und wenn diese weibliche Professorin auch wirklich einen Blick für die jungen Menschen hätte, was sie da bewegen könnte, wäre ganz erstaunlich; sie kann wirklich zur geistigen Wegweiserin werden. Und vom Modell der Lehrerin leitet sich natürlich ab, dass man als Frau überhaupt zur geistigen Wegweiserin für jüngere Frauen werden kann, auch für Gleichaltrige. Es scheint sich ein neues Modell herauszubilden heute – darauf hat auch meine Kollegin Brigitte Dorst immer wieder hingewiesen: die Mentorin, und zwar nicht im Sinne einer professionellen Sonderrolle, sondern als eine Frau, die weder nur Lehrerin ist für die, die zu ihr kommen, noch gleich Therapeutin, sondern die aufgesucht wird mit allen möglichen Fragen nach der Lebensgestaltung, nach Lebensentscheidungen, nach Sinngebung, nach dem richtigen Beruf, nach der richtigen Partnerschaft und so weiter. Also eine Mentorin, die nicht unbedingt professionell sein muss. Ich erinnere mich auch an meine Studentenzeit, da wurde mir erzählt, es gäbe so eine Frau, die wohne im Dorf hinter dem Berg, bei Göttingen war das damals, zu ihr könne man kommen mit allen Problemen. Sie hatte keine professionelle Ausbildung, aber sie war Beraterin für eine ganze Studentengeneration.
W.: Die Sehnsucht junger Frauen, eine Ältere zu kennen, die ein bisschen was vom Leben einer Frau weiß, ist sehr groß.
R.: Gewiss. Und das sind nicht irgendwie speziell ausgebildete Frauen, sondern Frauen, die Lebenserfahrung haben und sie weiterzugeben wissen. Und die diese geistige Mütterlichkeit leben.