Wenn Geschwister streiten

Wenn Geschwister streiten

von: Christine Kaniak-Urban, Andrea Lex-Kachel

Kösel-Verlag, 2005

ISBN: 9783466306954

Sprache: Deutsch

190 Seiten, Download: 8982 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

geeignet für: Apple iPad, Android Tablet PC's Online-Lesen PC, MAC, Laptop


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Wenn Geschwister streiten



Botschaften aus meiner Herkunftsfamilie erinnern (S. 61-63)

Frau Meißner meldet ihre neunjährige Tochter Tanja beim schulpsychologischen Dienst an, weil Tanja so schüchtern sei und ihre Sozialkompetenz gefördert werden müsse.

Tanja hat eine kleine Schwester, die lebhaft und gesellig ist und den Kindergarten besucht. Tanja kümmere sich sehr um ihre kleine Schwester. Frau Meißner zieht ihre Kinder allein auf und arbeitet als Heilpädagogin in einer öffentlichen Einrichtung.

In den spieltherapeutischen Stunden beschäftigt Tanja sich hingebungsvoll mit Rollenspielen. Sie räumt das Puppenhaus ein und lässt die Familienmitglieder in allen möglichen Szenen auftreten. Außerdem malt sie immer wieder ihr Familiensystem: Vater und Mutter, Großeltern, Tanten und Onkel, Cousins und Cousinen. Beim Spiel, beim Malen und im Gespräch zeigt Tanja ein weites Repertoire sozialer Fähigkeiten. Ich stehe vor einem Rätsel.

Ein Gespräch mit der Lehrerin ergibt, dass Tanja in der Schule sich als ein phantasievolles, stilles Mädchen zeigt, das sich gern allein beschäftigt, in der Klasse jedoch eine anerkannte Position innehat. Da entschließe ich mich zu Gesprächen mit Frau Meißner. Die Mutter berichtet unter Tränen, wie sie als Kind immer im sozialen Abseits stand, wie ihre Mutter ihr vermittelt hatte, dass sie für andere völlig unattraktiv sei und dass sie solche Erlebnisse ihrer Tochter in jedem Fall ersparen wolle. Die alten Botschaften aus ihrer Ursprungsfamilie haben verhindert, dass Frau Meißner ihre Tochter mit allen ihren Fähigkeiten wirklich sehen konnte.

Begleitend zu den Stunden mit Tanja haben Frau Meißner und ich in mehreren Sitzungen die alten Glaubenssätze sortiert und schließlich in konstruktive und destruktive eingeteilt. Diese erste Arbeit ist notwendig, um darüber nachzudenken, welche dieser Wegweiser sie behalten und welche sie ablegen möchte.


Kinder sind darauf angewiesen, von ihren Eltern gesehen und gehört zu werden. Die Säuglingsforschung hat eindrücklich bewiesen, dass Kinder ihr Selbst nur im Spiegel ihrer Bezugspersonen finden können. Was Eltern ihrem Kind an Rückmeldung geben, zeigt ihm, dass und wie es in der Welt ist. Jedes Kind wendet seinen Blick zuerst einmal »nach oben« zu Mama und Papa und will für diese das wichtigste Kind sein. Dabei richten Kinder aufmerksam und sensibel ihre Antennen auf die Eltern und versuchen, deren Phantasien und Wünsche einzufangen.

Wenn Eltern ihr Kind aus welchen Motiven auch immer ermahnen: Sei doch nicht so schüchtern! Ruf doch deine Freundin an!, dann wird dieses Kind schließlich eine Botschaft in sein Selbstbild übernehmen, die da lautet: Ich bin schüchtern! Eine Botschaft mit äußerst entwicklungseinschränkenden Folgen.

Es gibt aber auch Glaubenssätze, die Ansporn sind zu neuen Erfahrungen. Erhält ein Kind häufig die Rückmeldung: Du bist aber mutig!, dann wird es den Glaubenssatz Ich bin mutig! seinem Selbst einverleiben, und seine Entwicklung wird voranschreiten. Tanja als Erstgeborene hat als introvertiertes Kind Mutters Ängste geweckt, aber dadurch auch viel Fürsorge erfahren. Außerdem war sie inzwischen selbst der Meinung, sie sei einfach schüchtern und könne nicht wirklich Kontakt zu anderen Kindern aufnehmen. Sie hat Mutters aus Angst geborene Botschaft verinnerlicht, internalisiert, wie die Psychologie sagt, und handelt nun immer mehr danach. In jedem Fall: Mutters mit Sorge erfüllte Aufmerksamkeit ist ihr dadurch gewiss.

Wir alle tragen solche einengenden oder das Handlungsfeld weitende Botschaften aus unserer Herkunftsfamilie in unserem Herzen. Sie bestimmen mit, durch welche Brille wir unsere Kinder wahrnehmen. Mit manchen dieser alten Botschaften fühlen wir uns wohl, sie gehören zu uns, bei anderen fühlen wir uns heute noch wie an unsichtbaren Fäden in die Vergangenheit gezogen. Zu den Gummibandsituationen, die uns zuweilen blitzschnell in die eigene Kindheit katapultieren, gehört auch das Auftauchen der schwarzen Schafe im Familiensystem, die als abschreckendes Beispiel bedrohlich im Hintergrund lauern. Das erinnert mich an Mark, den zehnjährigen vermeintlichen Schulversager. Er wurde von seinem sehr erregten Vater an der Beratungsstelle angemeldet. Kaum hatte Mark nämlich seine verpatzte Rechenprobe beschämt auf den Esstisch gelegt, da tauchte vor dem inneren Auge von Herrn Klausen dessen Bruder auf, der aufgrund einer Lernbehinderung eine Sonderschule besuchte, in der Arbeitswelt nie wirklich Fuß gefasst hatte und schließlich Alkoholiker geworden war. Angst und Verwirrung trübten den Blick des Vaters auf seinen ehrgeizigen und intelligenten Sohn.

Kategorien

Service

Info/Kontakt