Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert

Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert

von: Andreas Wirsching

C.H.Beck, 2001

ISBN: 9783406447655

Sprache: Deutsch

129 Seiten, Download: 530 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert



IV. Zwischen Nachkriegszeit und Kaltem Krieg: Zwei deutsche Staatsgründungen (1945-1955) (S. 86-88)

1. Die Bundesrepublik und die Westintegration

Betrachtet man die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert unter dem Aspekt von Kontinuität und Diskontinuität, so kann man im Jahr 1945 mit guten Gründen die tiefste Zäsur erkennen. Schon in staatlicher wie in territorialer Hinsicht führte keine direkte Kontinuitätslinie über das Kriegsende hinweg. Als Staaten hatten nicht nur das Deutsche Reich, sondern auch die Länder aufgehört zu existieren; überall übten die alliierten Militärregierungen die staatliche Hoheitsgewalt aus. Die Ostgebiete, jahrhundertealtes deutsches Siedlungsgebiet, gerieten im Zuge der Vertreibung der deutschen Bevölkerung zur territorialen Manövriermasse. Als Preis für die von Stalin geforderte und von den Westmächten auf den Konferenzen von Jalta und Potsdam gebilligte Westverschiebung Polens wurden sie unter polnische bzw. - im Falle des nördlichen Ostpreußen - sowjetische "Verwaltung" gestellt.

Das westlich der Oder-Neiße-Linie gelegene Deutschland und hier besonders die westlichen Besatzungszonen wurden hingegen zum Ziel einer riesigen Fluchtbewegung. Mehr als 12 Millionen Flüchtlinge stellten die größte gewaltsame Bevölkerungsverschiebung in Europa und den größten demographischen Umbruch in Deutschland in der neueren Geschichte dar. Hinzu kamen die Millionen "Entwurzelten" und "Displaced Persons", d.h. die Evakuierten und Ausländer, vor allem ehemalige Fremdarbeiter. Trotz der Kriegsverluste stieg daher auf dem Gebiet der späteren Bundesrepublik die Bevölkerung um fast 25% an, was die ohnehin dramatischen sozialökonomischen Kriegsfolgen nachhaltig verschärfte. Denn was die Menschen in dieser "Zusammenbruchgesellschaft" (Christoph Kleßmann) besonders bewegte, waren zunächst die Probleme des täglichen Überlebens: Wohnungsnot, Kohlemangel, Hunger und andere Entbehrungen gehörten zu den ebenso elementaren wie prägenden Erfahrungen, die ein Großteil der Deutschen über mindestens drei Jahre hinweg machte. Solche millionenfach geteilte Sorge um die nackte physische Existenz bestimmte den Alltag der Nachkriegszeit in sehr viel dumpferer, prosaischerer Weise, als es manche nostalgischen Bilder von Trümmerfrauen und Schwarzmarkt suggerieren mögen. Der wirtschaftliche Wiederaufbau scheiterte vorerst an mangelnden Transportkapazitäten, der willkürlichen Zerschneidung gewachsener Wirtschaftsräume durch die Viermächteverwaltung und an den Industriedemontagen der Alliierten. Erst mit der amerikanischen Wirtschaftshilfe im Rahmen des 1947 verkündeten Marshallplans und der am 20. Juni 1948 durchgeführten Währungsreform besserten sich die Verhältnisse.

Den ersten deutlichen Anzeichen ökonomischer Erholung, die sich seit 1948 einstellten, war der politische Neuanfang vorangegangen. Unter dem wachsamen Auge der Siegermächte vollzog er sich von unten nach oben, zunächst auf kommunaler, seit 1946 auch auf der Länderebene. Zugleich wurde die Wieder- und Neugründung demokratischer Parteien zugelassen und vorangetrieben. Ein weiteres Mal offenbarte sich hier die historische Zäsur, die das Ende des Zweiten Weltkriegs für die deutsche Geschichte bedeutete. Die politischen Eliten wurden mehr oder minder vollständig ausgewechselt und dies in doppelter Hinsicht: Die ehemaligen nationalsozialistischen Amtsträger und Parteigrößen hatten keine Chance zu einem politischen Comeback; und während in den Nürnberger Prozessen die NS-Prominenz demonstrativ abgeurteilt wurde, schlossen die alliierten Militärbehörden die kleineren und mittleren nationalsozialistischen Funktionsträger konsequent vom politischen Wiederaufbau aus. Nationalsozialistische Bürgermeister, Landräte etc. wurden abgesetzt, wie die Parteifunktionäre interniert und durch politisch unbelastete Personen ersetzt. Aber auch die traditionellen, konservativaristokratischen Eliten spielten keine Rolle mehr. Darin unterschied sich der politische Neuanfang nach 1945 entscheidend von der ersten deutschen Demokratie. Nach 1945 waren es fast durchweg die überzeugten Demokraten der Weimarer Republik, die nun in den Westzonen - nach einer Zeit der politischen Opposition, der Verfolgung oder des Exils - die Politik der ersten Stunde bestimmten. Ehemalige Angehörige der Weimarer Koalitionsparteien wie Konrad Adenauer, Theodor Heuss oder Kurt Schumacher prägten den demokratischen Neuaufbau nach 1945.

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