Aushäusige - Roman

Aushäusige - Roman

von: Sabine Gruber

Haymon, 2013

ISBN: 9783709974636

Sprache: Deutsch

128 Seiten, Download: 770 KB

 
Format:  EPUB

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Aushäusige - Roman



Zweites Kapitel


1

Jeden Morgen, denkt Rita, wache ich gegen vier Uhr auf. Jeden Morgen schau ich in den Dämmerhimmel, starre auf die Äste, ob sie sich wiegen oder nicht, suche nach hellen Stellen am Himmel. Die Angst vor dem Nichtschlafenkönnen macht mir den Abend zur Hölle. Ich werde immer nervöser. Noch bevor ich auch nur daran denke, mich hinzulegen, verkrampfe ich mich. Ich lehne alles ab, was anregt, trinke stattdessen Milch oder Melissentee, versuche gleichmäßig zu atmen. Anton schüttelt darüber den Kopf. Onaniere, sagt er. Ein Orgasmus sei der sicherste Eintritt in den Schlaf.

Schon am Nachmittag habe ich gewußt, daß ich heute nacht keinen Schlaf finden werde; ich habe alle prophylaktischen Maßnahmen ergriffen: ich bin zu Fuß zum Markt gelaufen, um dort eine einzige Zwiebel zu kaufen; ich bin die vier Stockwerke dreimal auf und ab gegangen, habe den Müll hinuntergetragen, das Weißglas und das Altpapier. Ich habe geputzt, gelüftet und gegessen, bis mir übel wurde, aber auch der angefüllte Bauch schaffte kein Trägheitsgefühl.

Schlaflosigkeit ist vorhersehbar, sie kündigt sich an: der Kopf macht sich selbständig, hat eigene Reserven, einen Geheimmotor, der anspringt, ohne daß der restliche Körper etwas dagegen unternehmen könnte. Deshalb nützt es auch nichts, sich müde zu machen; nur ganz selten zieht die körperliche Erschöpfung die ersehnte Kopfmüdigkeit nach sich.

Rita spürt einen Druck an den Schläfen, so als würde sich etwas von innen dagegenstemmen, als wäre er brechend voll. Im Haus gegenüber geht das Licht an; es ist dasselbe Haus, dessen Fensterfront nachts zuvor hell erleuchtet war. Kein einziges Mal ist es Rita gelungen, einen Blick in die Räume dieser Wohnung zu werfen; die Vorhänge sind Tag und Nacht zugezogen. Rauch steigt aus dem Kamin, das Tragseil des dahinterstehenden Krans baumelt hin und her. Sie steht auf, geht auf Zehenspitzen in die Küche. Auf dem Tisch steht ein Teller mit Wurst und Käse. Was sie findet, stopft sie in sich hinein: eine Scheibe Schinken, den restlichen Gorgonzola, zwei Scheiben Brot. Dann nimmt sie die Milch aus dem Kühlschrank, schüttet sie in ein Glas und geht damit ins Zimmer. Am Himmel blinkt ein Flugzeug. Rita sinkt schwer und schläfrig auf das Bett. Sie klopft das Kissen zurecht, zieht sich die Decke über. Als sie sich wieder zum Fenster hindreht, ist das Flugzeug hinter einer Wolkenwand verschwunden. Sie zählt die Stunden bis zum Aufstehen, massiert mit den Fingerspitzen die Schläfen. Einen Moment lang glaubt sie, in den Schlaf hinüberzurutschen, da vernimmt sie Schritte, hört, wie Anton sein Zimmer verläßt; sofort ist sie wieder wach, wälzt sich von einer Seite zur anderen.

Ich hörte sie alle nach Hause kommen, Vater, Johanna und Anton. Johanna hat immer die Schuhe ausgezogen, ist im Dunkeln auf ihr Zimmer geschlichen, trotzdem wußten sie, zu welcher Uhrzeit sie nach Hause gekommen war, haben ihr beim Frühstück Vorhaltungen gemacht. Was sollen die Leute denken. Das ist keine Zeit für eine Ledige.

Ich habe keine Nacht durchgeschlafen, dazu waren meine Licht- und Geräuschnächte viel zu interessant. Lange nach Mitternacht bin ich losgezogen. Ich wußte blind, wo welcher Schalter zu drücken war: erst die Leselampe am Bett, dann das große Licht im Zimmer, die Lampe über dem Spiegel am Gang, die Deckenbeleuchtung des Stiegenhauses und zuletzt die Neonröhre hinter dem Dunstabzug in der Küche – es war ein ständiges Horchen und Ausschauhalten, bis ich am Ende auf den kalten Kacheln der Küche gestanden bin und etwas Eßbares in der Hand gehalten habe. Oft ist Mutter im Türrahmen erschienen: Ist etwas? Komm, geh schlafen.

Auch sie muß unter Schlaflosigkeit gelitten haben; jedenfalls hat sie mit unserer Nachbarin darüber gesprochen. Schuld waren immer der Wind oder der zu spät am Abend getrunkene Kaffee, nur selten hat sie über Schmerzen geklagt.

Wer mit Gewalt zu schlafen versucht, schläft nicht. Ich habe die Lichtzungen gezählt, die durch die Ritzen der Läden eingefallen sind oder ich bin mit geschlossenen Augen dagelegen und konnte nicht aufhören, Mutter hinterherzulauschen. In den Jahren ihrer Krankheit hatte sie die Angewohnheit, mitten in der Nacht das Haus zu verlassen. Anton hat sie mehrmals auf der Heimfahrt am Dorfausgang aufgelesen; es war nicht leicht, sie zum Einsteigen zu bewegen. Sie müsse frische Luft schöpfen, und: Die Dunkelheit bringe sie nicht in Verlegenheit. Sie hat unter dem Mantel ihr Nachthemd getragen.

Während des Tages hat sie den versäumten Schlaf nachgeholt; wo sie sich auch hingesetzt hat, überall ist sie eingeschlafen: auf dem Stuhl in der Küche, im Ohrensessel in der Stube, auf der Bank vorm Haus; immer habe ich sie schlafend angetroffen, konnte zusehen, wie sie je nach Stuhl oder Sessel langsam nach vorne kippte und gleich wieder hochschnellte; Zugreisende pflegen in diesem Moment die Augen aufzureißen, schuldbewußt in die Runde zu schauen, sie hat die Augen zugelassen, hat weitergeschlafen, als wäre nichts passiert. Nur wenn Vater in ihre Nähe gekommen ist, war sie sofort munter, sprungbereit: Brauchst du etwas? Willst du essen? Sie hat sich ihm angeboten, sich ihm aufgedrängt, obwohl sie ihn andererseits wieder loswerden wollte; kaum hörte sie ihn die Tür öffnen, ist sie zu ihm hingelaufen, hat ihm Mantel und Jacke abgenommen, um sie ins Freie zu hängen. Ohne daß es ihm bewußt war, hinderte sie ihn daran, sich auszubreiten. Manchmal schien es mir, als würde sie ihn abspeisen, als müsse sie ihn wegräumen; nur nachts konnte sie ihm nichts vorsetzen; nachts hat er sich seinen Platz zurückerobert, war das Zimmer von ihm erfüllt, von seinem lauten Atem, vom Geruch seines Schlafes. Vielleicht hat sie ihm auch den Tod gewünscht, hat sich vorgestellt, wie die Kälte langsam an ihm hochsteigt, ihn lähmt und vernichtet.

Rita hört Geräusche von Wasser, dazwischen Schritte, eine Tür, die geöffnet und geschlossen wird, ein Klappern aus der Ferne. Es ist fünf Uhr früh, der Himmel klart auf, im Hinterhof gurren die ersten Tauben. Sie geht ins Badezimmer, wäscht sich das Gesicht, untersucht es. Sie kann jede Pore sehen, jeden Fleck. Je näher sie an den Spiegel herantritt, desto älter empfindet sie sich. Jetzt erst bemerkt sie den Schaum auf der unteren Hälfte des Spiegels, das Rasiermesser auf der Ablage neben dem Waschbecken.

Sie löscht das Licht, geht zur Garderobe; neben Antons Lederjacke hängt ein Frauensakko. Rita bleibt eine Weile im Dunkeln stehen; sie vernimmt ein Kichern, erschrocken und erregt kehrt sie in ihr Zimmer zurück, läßt die Tür einen Spalt breit offen, damit sie es nicht versäumt, mit der Neuen zu frühstücken.

Eine Weile steht sie unschlüssig in der Mitte des Zimmers; sie betrachtet die Photos über Pauls Schreibtisch, seinen fünfjährigen Neffen mit herausgestreckter Zunge, ein Schwarz-Weiß-Bild, auf dem ein Markt abgebildet ist: zwischen Obst- und Gemüseständen verkauft eine Frau Gladiolen. Es will ihr nicht einfallen, woher sie diesen Markt kennt.

Wenn ich mich jetzt nicht hinlege, bin ich tagsüber wie tot. Sie öffnet das Fenster, wirft das Kissen auf den Boden, streckt sich aus. Der Himmel ist bereits hell, schwerfällig schieben sich Wolken ins Fensterquadrat. Bevor sie einschläft, hört sie das Knarren des Fahrstuhls. Sie stellt sich vor, wie der rötliche Holzkäfig im schmiedeisernen Gehäuse in die Tiefe sinkt, dann verliert sie ihre Gedanken.

2

Mit diesen Löchern im Kopf muß ich zur Heftkritik, muß unserem Haussozi zuhören: Hat mir gefallen. Hat mir weniger gefallen. Hat mir nicht gefallen. So etwas nennt sich detaillierte Artikelanalyse. Die Sprache wird nicht angetastet, Maresch darf weiter in seinen außenpolitischen Berichten mit Klischees Atmosphäre einfangen.

Die Ressort-Konferenz geht sich nicht mehr aus. Ich habe gestern zuviel Wodka getrunken. Pucher wird mich diese Woche in die schlechteste Premiere setzen oder er wird mich beauftragen, etwas zu Grace Kellys zehntem Todestag zu schreiben. Ich könnte mir einen kleinen Krimi einfallen lassen, spektakuläre Vermutungen zu ihrem Unfall in der Haarnadelkurve, präparierte Bremsen oder den Unbekannten am Steuer. Weidner laß ich mit der Maus spielen; ein Klick und aus Wahrheit wird Spannung: ein per Computer einmontierter Liebhaber, Grace Kelly neu arrangiert.

Rita hat alles aufgegessen. Ich konnte Maria nicht einmal einen Kaffee anbieten, weil von dem einen Liter Milch, den ich gestern besorgt hatte, nichts mehr da war.

Es ist ganz so, wie ich es mir vorgestellt habe: Sie trinkt keinen Kaffee ohne Milch und Zucker, hat Kopfschmerzen, will keine unklaren Verhältnisse. Und ich hab’ keine Lust auf Kicher- und Küchennächte, auf ungemütliche Zigaretten, weil sie es nicht erträgt, daß ich im Bett rauche.

Es wäre vielleicht nicht schlecht, wenn ich ihnen meinen alten Artikel über „Il Sole 24 Ore“ anböte; Pucher wird natürlich glauben, die „Financial Times“ sei die größte europäische Wirtschaftszeitung. Wer spricht hier schon Italienisch: Opernfreunde, Grenzlandprofiteure, gewiß keine Finanzmagnaten.

Rita? Da war doch was.

Ich hab’ ihnen schon einmal den Vorschlag gemacht, bedeutende italienische Zeitungen zu porträtieren, das interessiert sie nicht; sie halten es nicht aus, daß ein ganzes Land ohne Boulevardpresse auskommt, daß ein rigoros wirtschaftlich ausgerichtetes Blatt, das so gut wie ausschließlich auf einen Binnenmarkt angewiesen ist, erfolgreich ist. Die Italiener lesen Zeitungen eben nicht zur Unterhaltung. Sogar beim Platz-Wirt liegen die lachsfarbenen Seiten, unter dem Kirchenblatt, und keiner traut sich etwas gegen...

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