Über die Jahre - Roman

Über die Jahre - Roman

von: Jürg Amann

Haymon, 2013

ISBN: 9783709976234

Sprache: Deutsch

256 Seiten, Download: 2216 KB

 
Format:  EPUB

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Über die Jahre - Roman



Das Buch der Tage


Wie man nicht weiß, wie es anfängt. Wie es einfach begonnen hat. Wie man plötzlich ein Paar ist. Und dann wieder nicht mehr. Und wie man nicht weiß, wie es aufhört.

Wie in ihrem Fall der Anfang am Morgen des 12. August ist. Kurz nach neun. Am gemeinsamen Arbeitsplatz. Seinem ersten. Ihrem wievielten? Nachdem er sein Studium gerade beendet hat. Und sie aus Italien zurück ist. Von einem Sprachaufenthalt in Siena. Wie es wahrscheinlich ein Montag ist.

Wie sie einander vorgestellt werden von einem Herrn R., der jetzt sein Chef ist. Der ihn durch alle Böden und Zwischenböden des Hauses führt, das jetzt sein Haus ist. Und über den Schnürboden, der die linke mit der rechten Seite des Hauses verbindet. Vor und hinter der Bühne, die jetzt die Mitte der Welt ist. Zuletzt zu ihr, dem Fräulein von der Zentrale, die in der Mitte der Mitte der Welt sitzt.

Wie sie ihm also vorgestellt wird. Oder er ihr. Weil sie ja vor ihm da ist. Weil sie ihre Stelle pünktlich, also zu Monatsbeginn, angetreten hat, wie es normal ist, er aber zwei Wochen zu spät kommt. Wie sie zwar beide neu sind, er für sie aber der Neue ist, sie für ihn eine schon Vorgefundene.

Wie sie noch unsicher sind. Er noch unsicherer als sie. Wahrscheinlich um die zehn Tage, die sie ihm auf dem neuen Parkett an Erfahrung voraus hat. Wie sie auf jeden Fall, obwohl sie die an Jahren Jüngere ist, die Unsicherheit besser überspielen kann. Wie sie überhaupt besser spielen kann, also besser an diesen Ort paßt, an dem es ums Spielen geht. Wie ihm das sofort auffällt. Und wie er sich an sie hält.

Wie er, wenn er eine Frage hat, nicht die fragt, die schon lange hier sind, sondern die, die am ähnlichsten neu ist wie er. Wie sie mitten im Unbekannten für ihn das Bekannte ist. Wie sie sich, einer beim andern, an der gemeinsamen Unsicherheit halten. Wie das die gemeinsame Stärke gegen die Starken wird. Wie es ganz einfache Sachen sind. Daß sie ihm, auf seine Frage, erklärt, wo die Bleistifte sind, daß sie ihm, auf sein Bitten, eine Telefonnummer heraussucht, daß sie ihm in seiner Hilflosigkeit hilft, wenn das Kopiergerät ohne Papier ist. Oder das Kopierte zu klein wird. Oder zu hell oder zu dunkel. Wie sie sich dabei in die Augen schauen.

Oder daß sie dann Italienisch kann und er nicht. Obwohl er einen italienischsprachigen Großvater gehabt hat. Sie aber eine Art italienische Großmutter, jedenfalls die Ziehmutter der Mutter, in Mailand, die immer noch lebt – sie hat es ihm einmal erklärt, später noch einmal, er hat es nicht ganz begriffen. Wie er das Italienische jetzt können müßte, um für das Stück, das er zu betreuen hat, ein Bild von der Schweizer Botschaft in Rom zu beschaffen, wie sie im letzten Jahrhundert gewesen ist. Wie sie es für ihn tut. Und wie er ihr dafür den obligaten Kaffee verspricht.

Wie der Kaffee aber zum Wein wird. Wie sie sich zum erstenmal gegenübersitzen, in diesem spanischen Weinlokal, das er ihr vorgeschlagen hat, weil es seit seiner Studienzeit in dieser Stadt sein liebstes geblieben ist. Anfangs, nach Arbeitsschluß, am frühen Abend, noch fast allein, später, spät in der Nacht, in einem Gedränge von Menschen, in Rauchschwaden gehüllt, in der hintersten Ecke, sie mit dem Rücken zur Wand, er mit Blick in den Spiegel, der im Breitformat hinter ihr hängt, so daß er, seitenverkehrt, den ganzen Raum überblicken kann. Aber er hat ihn ja längst aus den Augen, statt dessen sich immer tiefer mit seinen Augen in ihren Augen verloren, die auffällig groß sind und auffällig weit auseinanderstehen und scheu sind und gleichzeitig brennen, in der Hitze ihres Gefechts. Wie sie über Kafka reden und über Kafka streiten. Wie sie sich ereifert, er aber ruhig bleibt. Wie sie sich wehrt, als er von Kafkas Freundin als einer Tippmamsell spricht. Und wie er ihr bis ganz zum Schluß, zum bitteren und süßen Ende, verschweigt, daß er ein Buch über Kafka geschrieben hat. Und wie sie erschrickt, als er es endlich sagt, und wie sie böse wird und ihn fragt, warum er das nicht von Anfang an gesagt habe, wenn sie das gewußt hätte, hätte sie es doch niemals gewagt, so einfach draufloszureden, und er ihr antwortet: darum. Und wie er ihr dann, als sie auf der Straße stehen, um Mitternacht, und auf die zwei letzten Straßenbahnen warten, die sie nach Hause bringen, in verschiedene Richtungen, an der Haltestelle vor dem Theater, an dem sie tagsüber arbeiten, einen Kuß auf die Stirne drückt. Möglicherweise ist das im Regen. Und möglicherweise ist es inzwischen September.

Wie sich das wiederholt. Wie sie wieder in der Bodega sitzen. Bei Wein und Salami. Diesmal am runden Tisch. An einem wärmeren Abend. Bei offenen Fenstern, die auf die Gasse gehen. Auf diese Wand gegenüber, die angestrahlt ist, mit den Fresken aus der Manesse-Handschrift. Sie reden über die Minne. Und plötzlich bemerken sie, daß ihnen der ganze Tisch zuhört. Alles weiß sie. Alles erzählt sie ihm über die Zürcher Liedersammlung. Es ist ihre Stadt, er ist nur zugezogen. Und von da wendet sich das Gespräch zu den Märchen. Er sagt, daß das Märchen die bestehenden Zustände bestätigt. Weil es in ihm immer nur auf den Helden ankommt. Alles andere darf ihm geopfert werden. Daß es gar nicht das Verdienst des Helden ist, daß er ans Ziel kommt. Nur die Jahre des Banns oder des Fluchs sind zufällig abgelaufen. Die Dornenhecke wäre auch ohne ihn aufgegangen. Dornröschen wäre auch ohne den Kuß des Prinzen erwacht. Er ist nur zufällig zum richtigen Zeitpunkt da, und die anderen vor ihm nicht. Er erfüllt nur zufällig das im Märchen sich immer wiederholende Gesetz. Und daß er andere Märchen schreiben will, in denen es um die anderen geht, die es nicht schaffen. Um die ersten und zweiten Brüder, um die Stiefbrüder und Stiefschwestern, um die Unhelden und Antihelden, die über die Welt straucheln. Oder über sich selbst. Und plötzlich stockt das Gespräch, weil sie wieder bemerken, daß es um sie herum still geworden ist. Und dann gehen sie noch ein Stück Weges zusammen, die Rämistraße hinauf, bis zu der Tramhaltestelle, an der sich ihre zwei Linien verzweigen.

Wie sie sich über Fellini streiten, über „Amarcord“, über „Roma“, über die „Vitelloni“. Ihr ist er zu wenig politisch, ihm ist er in der Satire politisch genug. Sie hat Italien am eigenen Leib erfahren, hat dort gelebt, hat Freunde dort, liebt es, er nur am Leib der eigenen Mutter, dem er in diesen Filmen vervielfacht und vervielfältigt in tausend Verzerrungen, von denen er sich distanzieren kann, wieder begegnet. Sie findet das frauenfeindlich, er befreiend und lebensrettend. Mammaverschlungenheitüberwindend. Wie er sich kaum mehr von seinem liebsten, von „Otto e mezzo“, zu erzählen getraut. Von Gelsomina, der Dicken, die vor den Kindern am Strand für ein paar Lire die Beine öffnet. Und von seinem Traum, den er dem Traum Guidos im Film nachgebildet hat, seine Großtante mit wehenden schlohweißen Haaren an einem Seil hoch über der Erde als Drachen fliegen zu lassen. Und wie sie landet, schmal, kaum mehr ein Hauch, alles Körperliche im Flug in der Reibung der Luft zerrieben, mit flatterndem schwarzem Mantel, die nackten, gläsernen Füße gegen den Sand der Wüste gestemmt. Und wie sie ihm nach diesem läuternden Flug die liebste Frau in der ganzen Verwandtschaft der Frauen ist.

Wie sie sich überhaupt immer streiten auf diesem Fest. Bei dieser Frau B. Einige sagen auch Fräulein. Die das Leben für das Leben des Vaters geopfert hat. Den sie pflegt, seit die Mutter gestorben ist. Die Schwester ist aus dem Haus, verheiratet, sie ist zurückgeblieben. Hat auf die Liebe, die sie auch gehabt hat, in Frankreich, verzichtet. Man sieht es ihr manchmal an. Sie schreibt Gedichte, die keiner gelesen hat. Langsam ist sie alt geworden neben dem Vater und muß jetzt aufpassen, daß sie in ihrem Büro, in dem sie Dramaturgiesekretärin ist, nicht eines Tages wie ein Regenschirm, weil es nicht regnet, stehengelassen wird. Bei der sie also eingeladen sind. Das ganze Haus, mehr oder weniger. Zum Saisonbeginn. Die Proben laufen ja schon, bald ist die erste Premiere. Um sich noch einmal so richtig auf alles zu freuen, bevor wieder die Frustration beginnt, die sie noch nicht oder erst vom Hörensagen kennen. In ihrer Villa am Waldrand. Oder besser in der Villa des Vaters. Hoch über dem Zürichsee. Durch die zum erstenmal auch bei ihnen der Wunsch erwacht, so zu wohnen. Oder zumindest die Fantasie. Jedenfalls reden sie beim Weggehen, spät nachts, bevor sie zu jemand Fremdem ins Auto steigen, miteinander vom Wohnen. Sie wohnt noch bei den Eltern, er hat eine kleine Wohnung, in der er ein Zimmer an eine Studentin vermietet.

Am nächsten Morgen, im Theater, wissen schon alle, auch die, die beim Fest gar nicht gewesen sind, daß sie ein Paar sind. Nur sie wissen es nicht. Herr R. sagt, daß er es von Frau E. weiß. Wie sie lachen, als man ihnen sagt: was sich streitet, das liebt sich. Und wie er sich fragt, was das soll, als Herr H., das Faktotum, ihn, als er...

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