Vanitas oder Hofstätters Begierden

Vanitas oder Hofstätters Begierden

von: Evelyn Grill

Residenz Verlag, 2013

ISBN: 9783701743810

Sprache: Deutsch

192 Seiten, Download: 476 KB

 
Format:  EPUB

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Vanitas oder Hofstätters Begierden



8

Mario sollte heute aus der Klinik entlassen werden. Hofstätter trug gemäß Olgas Order einen aprikosenfarbenen Leinenanzug von Versace. Unter ihren prüfenden Augen war er in den neuen Anzug geschlüpft; er stellte fest, daß er wie angegossen paßte, dennoch fühlte er sich darin wie ein Affe. Den gleichen hatte sie auch für Mario gekauft und ihm bei ihrem letzten Besuch in die Klinik mitgebracht.

Vater und Sohn würden zum Abendessen im gleichen Anzug erscheinen. Olga liebte es, ihre Männer wie Zwillinge zu kleiden.

Gestern hatte Hofstätter die letzten Aufzeichnungen aus der Klinik erhalten.

Sie sind auf dem Weg der Besserung, sagte heute Professor Merkatz zu mir. Sie arbeiten wieder, so gefallen Sie mir. Ich arbeite nicht, antwortete ich, ich spiele. Der Arzt nickte nachgiebig. Er behandelt mich immer noch wie ein rohes Ei, das reizt mich. Ich hätte ihm von meinem Fräulein Adipositas erzählen können, das gestern entlassen wurde und das ich vermisse. Aber statt dessen schweige ich und blättere in meinen Radierungen. Bei welcher bin ich gestern stehen geblieben? Bei der Nr. 21? Dem Unfall, der sich in der Arena von Madrid ereignete, und dem Tod des Alkalden von Torrejón? Der dunkle, massige Körper des Stieres, mit dem aufgespießten Leib des Bürgermeisters, der ihm die Sicht nimmt und ihn orientierungslos macht, erhebt sich über den Zuschauern, die in panischem Entsetzen fliehen. Ich habe keine Zeit mehr, mich den restlichen Blättern zu widmen. Ich muß auswählen. Aber ich werde ja wiederkommen, dann erledige ich den Rest. Caida de un picador de su caballo debajo del toro. Ich nehme die Lupe. Wurde der Picador getötet? Oder überlebte er mit seinen schweren Verletzungen? Der Stier hat ihm seine Hörner in den Unterleib getrieben. Das Pferd liegt auf dem Boden. Und die Nr. 32? Zwei Gruppen von Picadores werden von einem einzigen Stier nacheinander zu Fall gebracht. Das Blatt Nr. 33 muß ich unbedingt behandeln, es geht um den tragischen Tod des berühmten Stierkämpfers José Delgado, genannt Pepe Illo, in der Arena von Madrid. Es sind ausführliche Beschreibungen des Vorfalls erhalten, darunter sogar ein Brief von Königin Maria Luisa an ihren Liebhaber Godoy. Mit dieser Radierung will ich die Serie der Tauromaquía abschließen. Nüchtern, eine Darstellung von geballter Ausdruckskraft, habe ich einst notiert, heute wirkt sie anders auf mich. Geballte Kraft? Der Stier beugt sich über den Matador, der auf dem Rücken liegt, wie der Mann über die Frau vor dem Liebesakt. Ein mörderisches Begehren, eine tödliche Vereinigung. Die Spannung zwischen Eros und Thanatos. Hat nicht der Liebesakt eine große Ähnlichkeit mit der Folter? Das Blatt erregt mich. Der Stier, diese schwarze, brünstige Bestie, der Matador in seinem weißen Lichtgewand, dem traje des luces, wie eine Braut. Die zweite Fassung des Todes des Pepe Illo zeigt den Augenblick, in dem der Stier den gestürzten Torero auf die Hörner nimmt und ihn (laut Augenzeugenberichten) länger als eine Minute in verschiedene Richtungen schwenkt. Die dritte Fassung zeigt Pepe Illos Todeskampf. Er versucht verzweifelt, sich von dem Horn in seinem Körper zu befreien.

Vor mir schichtet sich ein Stoß Blätter, sie beweisen mir, daß ich hier nicht untätig war. Ich bin erschöpft und lehne mich in die Kissen zurück. Ich will niemanden sehen, aber ich weiß, daß ich meinen Eltern nicht entgehen kann. Sie kommen immer, wenn ihnen, wahrscheinlich von Professor Merkatz persönlich, angezeigt wird, daß ich bald entlassen werde. Dann stehen sie plötzlich an meinem Bett, beugen sich über mich und küssen mich ab. Auch Alois läßt es sich nicht nehmen, mir die Lippen auf meinen Mund zu drücken, und die Mutter preßt meinen Kopf gegen ihre korsettierten Brüste, die hart sind wie die Kotflügel eines Autos. Dann nehmen die Eltern links und rechts von meinem Bett Platz und prüfen mein Aussehen und mein Verhalten. Alois bemerkt, daß ich erholt wirke und die Augen nicht mehr gerötet seien. Olga entdeckt die schöne Wölbung und das Geistreiche meiner Stirn wieder. Beide erwähnen die Kunst und den Einsatz der Ärzte. Schließlich betritt noch Professor Merkatz das Krankenzimmer, um sich ans Fußende des Bettes zu stellen, er ist flankiert von Vater und Mutter, die drei umstehen mein Bett, und ich bin an die Heilige Dreifaltigkeit erinnert. Der Arzt als der Heilige Geist beginnt über den Verlauf meiner Krankheit zu referieren, über meinen Kopf hinweg, als sei ich nicht anwesend. Ich werde wieder nichts über mich, viel aber über die Sicht meines Arztes erfahren. Ich sei bis auf weiteres wegen meiner neurotischen Verhaltensstörungen arbeitsunfähig, an eine Ausübung meines erlernten Berufs als technischer Zeichner sei leider auch wegen meines unbeherrschbaren Tremors noch nicht zu denken. Der Mediziner spricht von meinem Gehirn, das vor Überhitzung geschützt werden müsse, wie von einer Heizdecke; daß ich viel Ruhe, gleichzeitig aber auch Abwechslung benötige. Der Professor schlägt ein Sanatorium an der Ostsee oder im Schwarzwald vor. Ich aber will nach Spanien, will in den Arenen von Madrid, Sevilla und Ronda Stierkämpfe erleben und mich im Prado vor Goyas Gemälden verlieren. Das hält Professor Merkatz für ausgeschlossen. Er rät mir, mich an Bücher zu halten oder an Videos. Ich soll mir Spanien an den Schreibtisch holen. Also werde ich aus dem Kerker der Klinik wieder in das häusliche Gefängnis zurückkehren. Doch ich höre nicht auf, von meiner Flucht zu träumen. Von einem rettenden Engel, der meine Gefängniswärter überlisten könnte. Immerhin brauche ich meine Eltern, seit ich mich auf den Gesellschaften regelmäßig betrunken und sie kompromittiert habe, nicht mehr zu begleiten. Freilich habe ich deshalb nicht zu trinken aufgehört. Im Gegenteil, an dem Augenblick vor dem Abtauchen in die Bewußtlosigkeit, diesem kurzen, noch erlebbaren Taumel mit seiner bizarren Scharfsichtigkeit, bevor ich in eine schwarze Ohnmacht sinke, habe ich Geschmack gefunden.

Durch das Fenster sehe ich das tiefe Grün des Ahorns. Es könnte Frühling sein. Vom Bett aus betrachte ich das leise Wehen der Ahornblätter, diese lebendige grüne Mauer. Nach dem kräftigen Grün der Blätter zu schließen, scheint draußen die Sonne. Ich verstaue meine Aufzeichnungen. Mein nächstes Herein wird meine Eltern ins Zimmer bringen. ›Mein Sohn, was birgst du so bang dein Gesicht? … Ach wehe, meine Mutter reißt mich ein!‹ Da habe ich es wieder, das Gelesene drängt sich vor mein Denken. Wie kann ich mit eigenen Worten reden, wenn sich erst das Eingebleute abspulen muß? Wo entsorgt man seinen Bildungsmüll, an dem sogar mein Psychotherapeut nichts mehr zu recyceln findet? ›Sie reißt mich ein, indem sie kommt und schaut …‹

Sie haben mich umarmt, mich geküßt, mich betrachtet. Es turtelte an meinem Bett. Ich schloß die Augen. Sie hatten ihre Gesichter mit dem festgezurrten Lächeln wie eine Wand vor mir aufgerichtet. Ich war wieder gefangen im Gehege ihrer Blicke. Woran denkst du? forschte meine Mutter und legte mir ihre Hand auf die Stirn. Du hast dich verändert. Welche Medikamente? Professor Merkatz beruhigte. Ich war müde. Ich wünschte mir, durch meine geschlossenen Lider die Eltern betrachten zu können wie durch einen falschen Spiegel. Ich lauschte auf ihr Atmen. Sie sprachen nicht mehr, und doch mußten sie sich verständigt haben, denn plötzlich standen beide gleichzeitig auf. Ich muß lernen, ihre Lidschläge, das Zucken ihrer Mundwinkel und das Hochziehen der Augenbrauen zu hören. Wessen Lippen drückten sich auf meine Stirn? Sie verließen mein Zimmer, sie schlossen die Tür, ich öffnete die Augen.

Ein Taxi hielt vor dem Haus. Mario half seiner Mutter aus dem Auto, dann führte sie ihn im Triumph in die Wohnung. Hofstätter in Aprikosenrot stand am Fenster. Als er seinen Sohn kommen hörte, drehte er sich um, ging ihm entgegen und wollte ihn umarmen. Zwei blonde, aprikosenfarbige Männer. Eine Idee deiner Mutter, murmelte Hofstätter, womit er ihre Kostümierung meinte. Mario entzog sich seinen Armen und floh ans Fenster, wo er sich in der Nische endgültig in der Falle fand. Fest legte Alois seinen Arm um Marios Schultern. Sie sahen ein halbes Dutzend abgerissene Gestalten unter der Ulme lebhaft miteinander und gegeneinander gestikulieren. Jeder schien mit jedem zu handeln. Ob sie sprachen oder nur den Mund aufrissen, konnten die beiden hinterm Glas nicht feststellen. Um den Stamm des Baumes hatten die Figuren ihre Habe in Plastiksäcken gestapelt, und zwischen den Beuteln hockten oder sprangen Hunde, es waren sechs, für jeden einer. Mario schüttelte den Arm seines Vaters ab, der packte ihn am Ärmel und sagte: Man müßte etwas gegen diese Wegelagerer unternehmen. Mario riß sich los. Unglaublich, rief Hofstätter, die Marketenderin, da kommt sie schon wieder!

Wie lange war Mario in der Klinik gewesen? Seit wann begab sich dieses Schauspiel? Auch er sah die dicke Person in ihrem grellen Kittel herankommen – sie schleppte einen Korb, der mit einem Tuch zugedeckt war – und erkannte sie sofort. Die Männer liefen auf sie zu, die Hunde...

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