Es wird Tote geben - Kriminalroman

Es wird Tote geben - Kriminalroman

von: Georg Haderer

Haymon, 2013

ISBN: 9783709976432

Sprache: Deutsch

328 Seiten, Download: 1852 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Es wird Tote geben - Kriminalroman



2.


Diese Scheibe war eine Zumutung. Ein Idiot der Architekt, der sich diese Raumtrennung ausgedacht hatte. Auf seinen Einreichungsunterlagen – falls der Umbau des Polizeipostens offiziell ausgeschrieben gewesen war – standen wohl abstrakte Dummheiten wie: Transparenz, Bürgernähe und ähnliches Gewäsch. Kopiert von der Homepage des Innenministeriums, um den Vorgaben eines modernen Polizeiapparats auch in bautechnischer Hinsicht zu entsprechen. Entstanden war ein peinlicher Kompromiss aus Vollverglasung und altmodischer Küchendurchreiche. Wobei sich die Scheibe, die Schäfers Büro von den anderen Räumen trennte, nicht einmal öffnen ließ und damit auch keine verbale Kommunikation zuließ. Ein Ärgernis für beide Seiten: für seine Mitarbeiter, die sich zeit seiner Anwesenheit in ständiger Überwachung wähnen mussten. Und für ihn erst recht, zumal er sich wie in einem Terrarium fühlte, wie ein manisch-depressives Reptil, das sich während der Besuchszeiten keinem seiner Zustände zwanglos hingeben konnte. Und die Jalousie? Warum zog Schäfer nicht einfach die Jalousie herunter? Weil es die eben nur auf seiner Seite gab und er die Verwendung dieser Einseitigkeit als herablassend ansah. Als etwas, das ein Gefälle zwischen ihm und seinen Mitarbeitern in Szene setzte. Das Teil trug wohl nicht umsonst den französischen Namen für Eifersucht. Himmel, mit welchen Problemen man sich herumschlägt, wenn sonst nichts passiert.

In den seltenen Stunden, in denen Schäfer sich allein am Posten befand, warf er den marillengroßen Gummiball, den er seit ein paar Wochen bei sich trug, wuchtig gegen die Scheibe, um sie mürbe zu machen und irgendwann zum Aufgeben und Zerbröseln zu zwingen. „Gib’s ihr!“, feuerte er den Ball an, „mach sie fertig!“ Wobei er nicht einmal wusste, wie das Wurfobjekt hieß, das er wie einen Glücksbringer bewahrte. Hüpfball? Nein, das waren diese Rieseneuter, auf die sich Kinder setzten und sich dabei an den Zitzen festhielten. Springball, Stressball, Wurfball? Keiner der Begriffe, die Schäfer gegoogelt hatte, um seinen Begleiter benennen zu können, brachte ein Ergebnis. Wusste überhaupt jemand, wie dieses Objekt hieß, das er im Zuge einer belanglosen Amtshandlung erstanden hatte?

Zeit für eine Rückblende, weil immer noch nichts passierte: An einem Samstagvormittag waren Schäfer und Inspektor Plank zu einer Siedlung ein paar Kilometer außerhalb des Ortszentrums gefahren. Zu den Einfamilienhäusern, die sich gerade noch nicht Villen nennen durften, wo sich laut einer hysterischen Anruferin ein verdächtiges Subjekt herumtrieb. Selbiges stellte sich als ein ungefähr sechzigjähriger Mann heraus – vollbärtig ergraut, bloßfüßig und etwas verwahrlost –, der aus einem Altpapiercontainer Zeitungen und Magazine holte, sie auf dem Gehsteig stapelte und dabei aus sicherem Abstand von drei Frauen und einem dickleibigen Mann mit einem Wagenheber in der Hand beobachtet wurde. Harmlos, konstatierte Schäfer nach zehn Sekunden und überließ die Befragung des Mannes seinem Kollegen, während er sich an den Wagen lehnte und die Anrainer musterte. Diesen schwitzenden Fettwanst mit dem Werkzeug, den könnte er bestimmt zu einem Widerstand gegen die Staatsgewalt provozieren, überlegte er. Um sich nicht von seinen Emotionen hinreißen zu lassen, drehte er sich um und – sah ihn: einen Kaugummiautomaten. Dunkelrot mit zahlreichen Rost­flecken, die Plexiglasscheibe gelöchert von den Feuerzeugen jugendlicher Tunichtgute, wie er mutmaßte. Dieses Fossil hing an einem heruntergekommenen Gebäude, einem kleinen Haus mit unverhältnismäßig großem Garten, das provozierend andeutete, dass sein Besitzer aus dem winzigen Fenster im ersten Stock schon seit langem auf die Häupter und Geldkoffer der anläutenden Immobilienmakler spuckte, die sich in der Gegend um Wochenend- oder Alterswohnsitze für wohlhabende und erschöpfte Städter umschauten.

Der Automat war leergeräumt. Fast leergeräumt, wie Schäfer konstatierte, als er sein Gesicht an die verschmorte Front führte, als gäbe es hier noch Spuren dieses banalen Deliktes zu sichern. Doch statt Haut- oder Stofffetzen, die die Täter am Plastik zurückgelassen hatten, als sie mit langen Fingern und verdrehten Händen ins Innere des Automaten gefasst hatten, sah Schäfer in dessen Dunkel ein schwaches Glitzern wie von ein paar winzigen müden Sternen. Er griff in seine Taschen und fand kein Kleingeld. Nachdem weder sein Kollege noch das verdächtige Subjekt mit einer Fünfzig-Cent-Münze dienen konnten, ging er auf die Anrainer zu, die sich mittlerweile um zwei mit Gartenkralle und Heckenschere bewaffnete Männer verstärkt hatten.

„Bekommen Sie zurück, wenn Sie am Posten vorbeischauen“, sagte Schäfer zum Wagenheber-Mann, der ihm leicht verunsichert die Münze übergeben hatte. Dann ging er zum Automaten, holte ein paar Einweghandschuhe aus der Innentasche seiner Uniformjacke, streifte sie für alle Beobachter gut sichtbar über, warf die Münze ein und drehte langsam den Riegel. In seinem Rücken spürte er die neugierigen Blicke der gerechten Bürger. Ponk!, rumpelte ein Gegenstand aus dem Inneren des Auto­maten.

„Beweismitteltasche!“, rief Schäfer seinem Kollegen zu, ohne sich umzudrehen. Nachdem er sie erhalten hatte, öffnete er die Klappe am Ausgabeschacht, nahm das zu sichernde Objekt heraus und ließ es mit gespreizten Fingern behutsam in das Plastiksäckchen fallen. Er ging zum Wagen zurück, forderte den alten Mann auf einzusteigen und salutierte beim Wegfahren aus dem offenen Fenster in Richtung der ratlosen Anrainer.

„Eine kleine Lektion in Sachen Lebenserleichterung“, meinte er, nachdem sie den alten Mann im Krankenhaus abgeliefert hatten und der junge Inspektor sich offensichtlich nicht traute, nach dem rätselhaften Gegenstand zu fragen. Schäfer nahm die Beweismitteltasche, fingerte den Gummiball heraus und drehte ihn bewundernd in der rechten Hand: durchsichtig, mit türkisen und azurblauen Schlieren durchzogen, dazwischen glitzernde Metall­partikel.

„Wenn Sie solche Deppen immer ernst nehmen, werden Sie irgendwann selber so … statt dass sie dem alten Spinner einen Tee kochen oder was zu essen geben … Faschistenschweine … die hält man auf Dauer nur aus, wenn man ein paar Kunststückchen parat hat.“

„Aber … wie fällt Ihnen so was ein?“, fragte Plank in einer Mischung aus ein wenig Bewunderung und viel Skepsis. Nur verständlich: ein männlicher Landbewohner Anfang dreißig, der sich wegen einer Mehlallergie vom Bäcker über eine Zwischenstation als Webdesigner zum Polizisten hatte umschulen lassen. Der musste bei einem Vorgesetzten wie Schäfer – gleichwohl hochdekorierter Major – unweigerlich an Nervenheilanstalten oder die Möglichkeit außerirdischen Lebens denken.

„Hm“, machte Schäfer, mehr fiel ihm dazu im Moment nicht ein.

Dafür hatte er einen Hüpf-, Spring-, Spiel-, Wie-auch-immer-Ball gewonnen, den er seitdem so gut wie immer bei sich trug. Mit dem er Kunststücke einübte, wenn er sich auf der Straße unbeobachtet wähnte, indem er ihn im schrägen Winkel auf den Asphalt warf, gegen eine Hauswand prallen ließ und dann wieder auffing. Den er in seinem Büro in besagten Augenblicken gegen die verhasste Scheibe aufhetzte oder auf den Boden fallen und in seine Hand zurückschnellen ließ, was ihn nach spätestens zehn Minuten in einen Zustand gelassener Entrückung versetzte. Aus der holte ihn jetzt Revierinspektor Hornig in die Wirklichkeit zurück, der auf der anderen Seite der Scheibe eine Frau zu seinem Schreibtisch führte, sie sanft in den Besuchersessel drückte und sich selbst niederließ.

Die Person, mit der Hornig nun zu reden begann: Schäfer kannte sie. Mindestens dreimal war sie ihm auf seinen Spaziergängen begegnet – und allein dadurch zu einer Besonderheit in einem bislang eher homogenen Umfeld geworden, dessen Bewohner kaum Wert darauf legten, frühmorgens oder am Abend in unwirtlichen Gegenden herumzustreunen. Ihre erste Begegnung hatte rein akustisch begonnen. Schäfer war durch den Wald geschlendert und vor einem Ahorn stehen geblieben, den er aufgrund der Dicke des Stammes auf mindestens dreihundert Jahre schätzte. „Unglaublich“, murmelte er, während er seine Finger über die grobe Borke gleiten ließ, „was du schon alles überdauert hast.“ „Sascha! Sascha!“, schreckte eine weibliche Stimme ihn auf, worauf er sich hinter den Ahorn stellte und in die Richtung lugte, aus der die Rufe kamen. Er sah eine Frau, die langsam durch den Wald schritt, das Gesicht dem Boden zugewandt, in der Hand einen Ast, mit dem sie Blätter, Äste oder Bucheckern aus dem Weg stupste. Ungefähr alle zwanzig Meter wiederholte sie den Namen Sascha – manchmal so laut, dass ein schwaches Echo aus dem Wald zurückkam, dann wieder als behutsames Flüstern, als könnte sie den Gesuchten dadurch eher aus seinem Versteck locken. Schäfer konnte sich keinen Reim darauf machen. Wenn die Frau ihren Hund vermisste, würde sie doch rufen und gleichzeitig mit den Augen die Gegend absuchen. Und wenn sie einen Schlüssel oder einen anderen Gegenstand verloren hatte, den sie mit ihrem Stock am Waldboden aufzustöbern hoffte: dann brachte es höchstens etwas, den heiligen Antonius anzurufen, so wie Schäfers Großmutter es manchmal getan hatte.

Als er ihr das zweite Mal begegnete – auf einem ver­wucherten Pfad am Rande eines Mohnfelds –, brachte er die Frau zuerst nicht mit jenem Erlebnis in Verbindung. (Aus seinem Versteck heraus hatte er ihr Gesicht nicht genau gesehen und bis auf die seltsamen Rufe auch sonst keine Eigenheit bemerkt, die ein Wiedererkennen ermöglicht hätte.) So wunderte er sich kurz,...

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