Die Alpen - Das Verschwinden einer Kulturlandschaft

Die Alpen - Das Verschwinden einer Kulturlandschaft

von: Werner Bätzing

wbg Theiss, 2018

ISBN: 9783806237979

Sprache: Deutsch

216 Seiten, Download: 62733 KB

 
Format:  EPUB

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Die Alpen - Das Verschwinden einer Kulturlandschaft



26 Dieses Bild zeigt anschaulich, wie breit die Gebirgsketten der Alpen und wie schmal die Täler zwischen ihnen sind. Das Tal in der Bildmitte ist das Montafon (Vorarlberg) mit der Gemeinde Partenen, 1051 m (ganz vorn); in der Mitte hinten das Rätikon (September 2013).

Wenn wir die Alpen angemessen verstehen wollen, dann müssen wir uns von den drei Alpenbildern lösen, die in Kapitel 1 vorgestellt wurden und die jeweils eine bestimmte Sicht auf die Alpen verabsolutieren. Die Frage nach den zentralen Eigenschaften der Alpen beantworten zuerst die Naturwissenschaften (in diesem Kapitel), und deren Ergebnisse werden dann durch die Betrachtung der Alpen als Kulturlandschaft im nächsten Kapitel ergänzt und erweitert.

In naturwissenschaftlicher Perspektive gibt es sechs zentrale Aspekte, die die Natur der Alpen prägen:

1. Die Alpen – ein junges Hochgebirge: Als Hochgebirge besitzen die Alpen ein steiles Relief und eine so große Höhe, dass sie weit über die Baumgrenze hinaus aufragen und im Gipfelbereich teilweise vergletschert sind bzw. in den Eiszeiten in weiten Teilen vergletschert waren. Deshalb sind viele Landschaftsformen der Alpen deutlich glazial geprägt. Die Alpen sind ein junges Hochgebirge, weil der Prozess der Hebung immer noch andauert und dadurch die Abtragung sehr aktiv ist. Deshalb besitzen viele Grate und Gipfel scharfe und steile Formen, und die Schwerkraft spielt bei den Bewegungen von Steinen, Eis, Schnee und Wasser eine wichtige Rolle. Als junges Hochgebirge sind die Alpen Teil des großen alpidischen Gebirgssystems, das von den Pyrenäen über den Balkan und Kleinasien bis zum Himalaya reicht.

2. Großlandschaften der Alpen: Das „Gesicht“ der Alpen wird durch die unterschiedlichen Gesteine geprägt. Stark vereinfacht gibt es vom nördlichen Alpenrand bis zum Kern der Alpen folgende Großlandschaften: Ein schmales Band mit weichen Gesteinen direkt am Alpenrand, die randlichen Kalkalpen, die Grauwackenzone und die harten Gesteine der Zentralalpen. Auf der Südseite der Alpen wiederholt sich diese Gliederung in umgekehrter Reihenfolge.

3. Wasser und Eis als Landschaftsgestalter: Während die „großen“ Landschaftsformen vom Ausgangsgestein geprägt werden, sind die Vielzahl der kleineren Formen davon bestimmt, ob Wasser oder Eis für den Abtrag des Gebirges verantwortlich ist. Während fließendes Wasser und Frostsprengung scharfe Formen hervorbringen, schleift das Eis der Gletscher alle Kanten ab und führt zu abgerundeten und flacheren Landschaftsformen. Diese Unterschiede sind heute in den Alpen gut sichtbar.

4. Die Alpen als Regenfänger und Wasserspeicher: Weil die Alpen im Bereich der feuchten Westwindzone liegen, sind sie niederschlagsreich („Regenfänger“). Der Niederschlag fließt aber meist nicht sofort ab, sondern wird durch die großen Alpenrandseen, durch die winterliche Schneedecke und durch die Gletscher kürzer oder länger zurückgehalten und dann auf eine relativ gleichmäßige Weise abgegeben („Wasserspeicher“). Deshalb versorgen die Alpenflüsse das europäische Umland auch in trockeneren Jahren relativ gleichmäßig mit Wasser.

5. Die Vegetation der Alpen im Naturzustand: Bevor sich der Mensch in den Alpen einen Lebensraum schuf, waren sie nahezu überall mit einem dichten, geschlossenen Wald bestanden, und dieser Wald reichte auch viel weiter nach oben als heute. Dadurch sahen die Alpen im Naturzustand deutlich anders aus als heute, und sie wirkten viel dunkler und finsterer, als wir uns das heute spontan vorstellen würden.

6. Sprunghafte Naturdynamik: Weil die Alpen ein junges Hochgebirge sind, für das starke Abtragungsprozesse in den oberen und Ablagerungsprozesse in den unteren Höhenstufen typisch sind, laufen viele dieser Prozesse mit großer Intensität ab und zeichnen sich durch einen plötzlichen oder sprunghaften Verlauf aus – Felssturz, Bergsturz, Lawine, Mure, Hochwasser. Es ist nicht richtig, diese Ereignisse als „Naturkatastrophen“ zu bezeichnen, weil sie für die Natur der Alpen keine Katastrophen, sondern den Normalfall bedeuten. Gerade jene Landschaftsformen der Alpen, die wir als typisch alpin bezeichnen, also steile Grate und exponierte Gipfel, verdanken ihre Entstehung dieser sprunghaften Naturdynamik.

Mit diesen Eigenschaften eines jungen Hochgebirges sind die Alpen eine einzigartige Landschaft, für die es in Europa nichts Vergleichbares gibt. Deshalb haben die Alpen in der europäischen Geschichte auch stets eine besondere Aufmerksamkeit erfahren.

27 Die Alpen als Hochgebirge mit einer typischen Wettersituation – einer Föhnmauer am Hauptkamm der Hohen Tauern (rechts in den Wolken der Gipfel des Scharecks, 3123 m, unten das Gasteiner Naßfeld in 1600 m Höhe). Diese Föhnmauer entsteht, wenn feuchte Luft von Süden her Richtung Alpen strömt. Das Gebirge zwingt die Luft aufzusteigen, wodurch sie kühler wird und Wolken bildet, die sich abregnen. Am Alpenhauptkamm fällt die inzwischen trockene Luft wieder nach unten, wobei sie sich erwärmt und sich die Wolken auflösen. Bei einer solchen Wettersituation bildet sich über dem Hauptkamm oft eine Wolkenmauer (September 2010).

Die Alpen-ein junges Hochgebirge


Die Afrikanische Kontinentalplatte drückt von Süden her auf die Europäische Platte. Im Kollisionsbereich, wo sich beide Platten ineinander verzahnen und wo sich die Afrikanische über die Europäische Platte schiebt, entstehen die Alpen als ein Gebirge aus mehreren parallelen Ketten. Da sich der Druck von Süden an den alten Gebirgen Zentralmassiv, Vogesen-Schwarzwald und Böhmisches Massiv staut, erhält dieses 1200 km lange Kettengebirge seinen bogenförmigen Verlauf. Und da der Druck im Westen wesentlich stärker als im Osten ist, sind die Westalpen deutlich schmaler (150 km) und höher (4800 m) als die Ostalpen (250 km breit, 4000 m hoch), und der östlichste Teil der Ostalpen erhält nicht einmal mehr einen Hochgebirgscharakter.

Weil die Hebung der Alpen nicht gleichmäßig abläuft, sondern in einzelnen Hebungsphasen erfolgt, entsteht der „Stockwerksbau“ der Alpen: In den Hebungsphasen werden große Flächen mit flacherem Relief gemeinsam gehoben, dann lässt der Druck nach, und die Erosion beginnt, die gehobenen Flächen abzutragen, aber bevor sie diese Flachreliefs komplett zerstören kann, setzt die nächste Hebungsphase ein. Die steilsten Gebiete der Alpen finden sich daher am Alpenrand und am Rand der großen inneralpinen Längstäler, und oft trifft man – was viele Alpenbesucher verblüfft – gerade hoch oben im Gebirge auf ausgedehnte Hochebenen. Es sind heute entweder große Almflächen oder weite vergletscherte Gebiete.

28 Die Alpen als Kettengebirge gesehen vom Gipfel des Chasseral, 1607 m, im Schweizer Jura. Der Bildausschnitt zeigt die Berner Alpen mit (von links nach rechts) Wetterhorn, 3701 m, Schreckhorn, 4078 m, Finsteraarhorn, 4274 m, Eiger, 3970 m (das schwarze Dreieck), Mönch, 4099 m, und Jungfrau, 4158 m. Im Vordergrund der Bieler See, in der Mitte links Teile der Stadt Bern (März 1990).

29 Die Alpen wirken an vielen Stellen wie eine unüberwindbare Mauer. Hier der Alpenhauptkamm im Bereich der Grajischen Alpen, vorn die Alp Gias Travet, 1734 m, im Val Grande der Lanzo-Täler (September 2014).

30 Zwar werben viele Alpentäler stolz mit einem Matternhorn-ähnlichen Gipfel, aber markante Gipfelindividuen wie das Bietschhorn, 3934 m (Lötschental, Wallis), sind angesichts der sehr großen Zahl der Alpengipfel doch eher selten (September 2009).

Der Charakter der Alpen als Kettengebirge führt dazu, dass sie von der Ferne bzw. von unten oft wie eine „Mauer“ wirken, die unüberschreitbar erscheint (im Bild der Alpen als „montes horribiles“ wird dieser Aspekt verabsolutiert). Zum Kettengebirge gehört auch, dass die Gipfel einer Berggruppe, die aus dem gleichen Gestein aufgebaut sind, meist eine ähnliche Höhe und Form aufweisen, sodass sie – vor allem aus der Ferne – einen relativ gleichmäßigen Eindruck erwecken. Ausgesprochene „Bergindividuen“, also markante, isolierte Felsgipfel mit einer unverwechselbaren Form vom Typ „Matterhorn“ sind dagegen in den Alpen eher der Sonderfall: Sie entstehen nur dort, wo lokal härteres Gestein an der Oberfläche ansteht und das umgebende weichere Gestein bereits erodiert wurde, oder im Kulminationspunkt mehrerer scharfer Grate.

31 Der Blick, der über die südlichen Cottischen Alpen von Norden auf die Seealpen geht, zeigt anschaulich den Stockwerksbau der Alpen: Das weichere Gestein der Cottischen Alpen bildet sanftere Formen mit weiten, von der Erosion noch nicht zerschnittenen Hochflächen im Bereich zwischen 2400 und 2600 m aus. Die Gneise und Granite der Seealpen dagegen führen zu einem steilen Relief mit einer Gipfelflur um 3000–3100 m. Rechts (mit Schneefeld) der Monte Matto, 3088 m, links davon die Argentera, 3286 m, der höchste Gipfel der Seealpen (September 1983)

Die Alpen bestehen jedoch keineswegs nur...

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